13.
In dem Gebäude Ecke Einunddreißigste und Market Street, wo alte Polizeiakten aufbewahrt wurden, befanden sich früher die Verlagsräume des Evening Bulletin. Das Bulletin, das von 1847 bis 1982 erschien, war mal die größte Abendzeitung in den Vereinigten Staaten.
Jetzt war das große, täuschend harmlos aussehende Gebäude eingezäunt und wie Fort Knox gesichert. An den Seiten, die an öffentliche Bereiche grenzten, sorgte Stacheldraht für zusätzlichen Schutz. Die Mauer zum Parkplatz hin war drei Stockwerke hoch und hatte nur fünf kleine Fenster unter dem Dach. Etwa ein Dutzend Lampen ragten wie verrostete Bugspriete aus der Mauer und beleuchteten den Parkplatz.
Jessica unterschrieb an der Pforte, fuhr hinein und parkte den Wagen. Sie kam ungefähr zwanzig Minuten zu spät, aber sie sah nirgendwo Byrnes Van. Sie beschloss, im Wagen zu warten.
Ehe sie losgefahren war, hatte sie Sharon Beckman und Jason Crandall durch die Datenbanken laufen lassen. Im letzten Jahr war gegen Jason wegen Drogenbesitzes Anklage erhoben, aber wieder fallen gelassen worden, nachdem er Sozialstunden absolviert hatte.
Gegen Sharon Beckman lag nichts vor.
Jessica dachte darüber nach, wie sich der Fall entwickelt hatte. Der sonderbare Zustand von Kenneth Beckmans Leichnam stellte sie noch immer vor ein Rätsel. Alles wies darauf hin, dass tief im Herzen des Mörders eine Wut schwelte, die eine persönliche Kränkung hervorgerufen und ihn zu dieser Wahnsinnstat getrieben hatte. Sie dachte an den Papierstreifen, der um den Kopf des Opfers gewickelt war, an den geraden Schnitt auf der Stirn und …
Als Jessica plötzlich ein lautes Geräusch unmittelbar neben ihrem linken Ohr hörte, zuckte sie zusammen. Sie wirbelte herum und öffnete instinktiv das Waffenholster.
Byrne hatte mit seinem Ring an die Scheibe geklopft. Jessica öffnete langsam das Fenster und ließ ihn im Regen stehen.
»Und dann wundern die Leute sich, wenn sie plötzlich eine Kugel im Kopf haben«, sagte sie.
»Ich könnte die Ruhe brauchen.«
Jessica konnte es sich nicht verkneifen, sich beim Aussteigen viel Zeit zu lassen, um sich für das laute Klopfen zu rächen. Eine Minute später betraten sie das Gebäude, schüttelten den Regen ab und gingen auf die Aufzüge zu.
»Hast du noch mal mit Sharon Beckman gesprochen?«, fragte Jessica.
Byrne schüttelte den Kopf. »Sie war nicht zu Hause«, sagte Byrne. »Und Spicoli auch nicht.«
Er meinte natürlich Jason Crandall und spielte auf die Rolle von Sean Penn in Ich glaub, ich steh im Wald an. Jessica wunderte sich immer wieder, wie gut Kevin sich mit Filmen auskannte.
In dem großen Kellergeschoss wurden die Akten von Tausenden von Verbrechen aufbewahrt, einige waren schon zweihundert Jahre alt. Es war die Hinterlassenschaft der dunklen Seite dieser Stadt: Namen, Daten, Waffen, Wunden, Zeugen. Was fehlte, waren die Beweise für den Verlust, den die Menschen erlitten hatten. Es gab keine Akten über die Tränen eines Vaters, die Einsamkeit eines Sohnes oder die einsamen Sonntage einer Großmutter.
Stattdessen standen in dem riesigen Keller unzählige Reihen hoher Stahlregale, von denen einige sieben Meter hoch und die alle mit Tausenden von Kartons gefüllt waren. Auf allen klebte ein weißer Aufkleber mit dem Namen des Verstorbenen, der Nummer des Falls und der Jahreszahl.
Sie teilten die Beckman-Akten auf. Byrne las die Zeugenaussagen sowie die rechtsmedizinischen und kriminaltechnischen Berichte, während Jessica die Polizeiberichte und die Anmerkungen des leitenden Detectives durchsah.
In der Akte befand sich auch ein Foto von Antoinette Chan. Sie war eine hübsche junge Frau gewesen, mit makelloser Haut und einem betörenden Lächeln. Jessica schaute sich das Foto an und las dann den Polizeibericht über Beckman.
Kenneth Arnold Beckman, geboren 1970, stammte aus Brewerytown in Philadelphia. Zu der Zeit, als Antoinette Chan ermordet wurde, arbeitete er als Handwerker in zwei großen Mietshäusern in Camden und wohnte auf der Lenox Avenue in Nicetown/Tioga.
Im Alter von neunundzwanzig Jahren war er bereits fünf Mal wegen Einbruchs verhaftet und zwei Mal wegen des Besitzes von Diebesgut verurteilt worden.
An Halloween 2001 ging Beckman mit seinem zehnjährigen Stiefsohn zur Achtzehnten Straße, wo der Junge zwischen der Westmoreland und der Venango Street an die Türen klingelte und um Süßigkeiten bat. Sie liefen von Tür zu Tür, und Beckman begleitete den Jungen jeweils bis zur Veranda der Häuser. Einige Leute aus der Nachbarschaft gaben später zu Protokoll, dass Beckman sich immer in der Nähe der Tür aufgehalten und mit großem Interesse in die Häuser geschielt habe, als der Junge seine Süßigkeiten bekam.
Innerhalb der nächsten fünf Monate gab es sechs Einbrüche in dieser Gegend, die alle tagsüber verübt wurden, wenn die Bewohner arbeiteten. Jedes Mal wurden dieselben Dinge gestohlen: Kameras, Schmuck, Bargeld, MP3-Player. Nichts, was zu groß war, um es in einen Kopfkissenbezug zu stecken.
Nachdem zwei clevere Detectives der zuständigen Polizeiwache das System durchschaut hatten, fertigten sie eine Fotoserie der Personen an, die im Umkreis von einer Meile um die betreffenden Häuser herum wohnten und bereits wegen Einbruchs vorbestraft waren. Eine dieser Personen war Kenneth Beckman.
Nachdem Beckman von Zeugen als der Mann identifiziert worden war, der einen Jungen an Halloween zu den Häusern begleitet hatte, stellten die Detectives ihn unter Beobachtung. Ein paar Tage später folgten sie ihm zu einem Pfandhaus in Chinatown, das bekannt dafür war, mit Diebesgut zu handeln. Innerhalb von zwei Tagen stellten sie eine verdeckte Ermittlung auf die Beine. Ein Detective gab sich als Mitarbeiter des Pfandhauses aus, doch Beckman, der die Falle vielleicht roch, kehrte nie mehr dorthin zurück.
Mitte März 2002 erhielten sie einen Anruf von einer jungen Frau, mit der sie schon einmal gesprochen hatten. Sie hieß Antoinette Chan und war die Tochter eines Bestohlenen. Sie sagte aus, sie sei zum ersten Mal seit Wochen in den Keller gegangen, um zu waschen, und habe in der kleinen Toilette neben dem Heizungskeller einen Schuhabdruck entdeckt. Der Einbrecher musste durch das Kellerfenster in das Haus eingestiegen sein. Offenbar hatte er die Toilette benutzt. Bei den ersten Ermittlungen hatte niemand einen Blick in die Toilette im Keller geworfen.
Der Schuhabdruck stammte von einem Frye-Stiefel Größe 44. Fotos einer Überwachungskamera bewiesen, dass Kenneth Beckman genau solche Stiefel trug. Detectives suchten Beckmans Arbeitsstelle auf und mussten feststellen, dass er sie aufgegeben hatte.
Als die Detectives mit einem Durchsuchungsbefehl am Haus der Beckmans auf der Lenox Avenue ankamen, standen dort zwei Löschfahrzeuge der Feuerwehr und brannten vier Reihenhäuser lichterloh. Innerhalb weniger Stunden waren die alten Holzhäuser vollkommen niedergebrannt.
Sharon Beckman saß auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Bordstein und rauchte eine Zigarette. Niemand hegte die geringsten Zweifel, wer das Feuer gelegt hatte und warum. Unglücklicherweise hatten die Ermittler keine hieb-und stichfesten Beweise. Sharon wurde nicht offiziell verhört und nicht angeklagt.
Nach Angaben der Polizei kidnappte Kenneth Beckman Antoinette Chan später an diesem Abend, brachte sie in ein Haus in South Philly und erschlug sie. Als er drei Tage später in einem Motel in Allentown aufgegriffen und zum Verhör aufs Revier gebracht wurde, verweigerte er die Aussage und verlangte einen Anwalt.
Da sie keine Zeugen und nicht die Möglichkeit hatten, sein Haus zu durchsuchen, wurden alle Anklagepunkte gegen Kenneth Arnold Beckman fallen gelassen.
Und jetzt war er tot.
Als Jessica die Akte mit den Tatortfotos aufschlug, setzte ihr Herzschlag für den Bruchteil einer Sekunde aus. »Verdammter Mist!«
»Was ist?«, fragte Byrne.
Jessica legte zwei der Tatortfotos von Antoinette Chan auf den Tisch, nahm ihr iPhone aus der Tasche und öffnete den Fotoordner. Sie suchte die neuesten Aufnahmen heraus und legte das Handy neben die Fotos auf den Tisch.
Es bestand nicht der geringste Zweifel.
Heute Morgen hatten sie in einem Gebäude in der Federal Street Kenneth Arnold Beckman tot aufgefunden, den Hauptverdächtigen in einem acht Jahre zurückliegenden Mordfall. Damals war eine junge Frau namens Antoinette Chan erschlagen und in demselben Haus in der Federal Street tot aufgefunden worden.
Der Tatort des Chan-Mordes war acht Jahre später der Tatort des Beckman-Mordes.
»Der Verdächtige in einem ungelösten Mordfall wird nun selbst ermordet und in demselben Haus abgelegt wie sein Opfer«, fasste Jessica zusammen.
»Ja«, murmelte Byrne.
»An genau demselben Ort. Und in genau derselben Position wie das erste Opfer.« Jessica zeigte Kevin das Foto und ihr Handy. »Das sind vollkommen identische Tatortfotos, nur dass der zweite Mord, unser Mord, acht Jahre später verübt wurde, Kevin.«
»Acht Jahre und ein paar Monate«, sagte Byrne. »Ja, das sind die Fakten, die uns vorliegen.«
Die beiden Detectives wechselten einen Blick. Sie hatten soeben einen ersten Durchbruch erzielt. Das war kein Mord, der nur aus Rache oder blinder Wut verübt worden war. Da steckte mehr dahinter.
Jessica betrachtete noch einmal die beiden Fotos. In Momenten wie diesen spürte sie die ganze Last ihres Jobs auf den Schultern. In der Geschichte Philadelphias gab es ebenso wie in der Geschichte jeder Großstadt viele ungelöste Mordfälle, Opfer von Wahnsinn und Wut, die jahrelang ungesühnt blieben, während das Böse durch Zeit und Raum hallte.
Die Stadt der Brüderlichen Liebe hatte schwer an ihrem Vermächtnis zu tragen, an Scham und Schuld und Irrsinn, die wie eine Blutspur unter den gepflasterten Straßen hinwegflossen. Jessica starrte auf die Fotos, die im Abstand von acht Jahren aufgenommen worden waren, und auf die misshandelten Leichen der beiden Opfer. Sie waren auf eine Weise miteinander verbunden, die weder sie noch ihr Partner bisher durchschauten. Detective Balzano fragte sich, ob es ihnen gelingen würde, die ganze Geschichte ans Licht zu bringen.