75.

Lucy Doucette stand am Ende des Korridors im zwölften Stock.

Ihre Schicht endete um halb sieben, aber sie hatte Audrey Balcombe gefragt, ob sie noch ein paar Plusstunden sammeln könne. Es stellte sich tatsächlich heraus, dass drei Gäste gebeten hatten, ihre Zimmer zwei Mal täglich zu reinigen. Lucy nahm an, dass diese Leute in Laboren oder bei der Kriminaltechnik arbeiteten und eine ausgeprägte Phobie vor Keimen hatten. Ihr sollte es recht sein. Jedenfalls konnte sie zwei Stunden länger bleiben. Jetzt schlug sie nur noch die Zeit tot.

Sobald sie ihre Schlüsselkarte in das elektronische Schloss der Tür 1208 steckte, wurde die Zeit registriert. Lucy hatte wahnsinnige Angst, noch einmal das Zimmer zu betreten, doch sie litt schon so lange unter dieser Angst, dass das fast keine Rolle mehr spielte.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Gang war menschenleer, aber Lucy war sich bewusst, dass sie genau genommen nicht allein war. Sie war einmal im Überwachungsraum gewesen und hatte die großen Monitore gesehen. Das Personal wusste, wo die Kameras hingen, jedenfalls jene, die sichtbar an der Decke angebracht waren. Am Ende eines jeden Flurs standen ein Sideboard und ein Spiegel, und Lucy fragte sich immer, ob es sich um Spiegelglasscheiben handelte, hinter denen Kameras versteckt waren.

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, klopfte sie an die Tür von Zimmer 1208.

»Zimmerservice.«

Keine Reaktion. Sie klopfte erneut und wiederholte das Wort. Stille. Lucy drückte das Ohr an die Tür. Sie hörte keinen Fernseher, kein Radio, keine Gespräche. Die Vorschrift lautete, dass man zwei Mal klopfte und »Zimmerservice« rief und dann eintrat. Lucy versuchte es ein letztes Mal. Als sie keine Antwort erhielt, schob sie die Karte in den Schlitz und öffnete langsam die Tür. »Zimmerservice«, sagte sie noch einmal im Flüsterton und trat dann ein. Als die Tür mit einem lauten Klicken hinter ihr zufiel, wusste Lucy, dass das Schloss unwiderruflich registriert hatte, dass sie sich in Zimmer 1208 aufhielt.

Das Zimmer sah genauso aus wie beim letzten Mal. Niemand hatte etwas aus der Minibar herausgenommen, niemand im Bett geschlafen, niemand etwas in den Papierkorb unter dem Schreibtisch geworfen. Lucy sah ins Badezimmer. Auch dort hatte sich nichts verändert. Die Seifenstücke waren nicht ausgepackt, und das erste Blatt Toilettenpapier war noch immer so gefaltet, dass eine Spitze nach unten zeigte. Einige nette Gäste versuchten, die Handtücher wieder so hinzuhängen, wie sie ursprünglich hingen, aber Lucy hatte natürlich einen geschulten Blick dafür. Sie hingen niemals genau wie zuvor. Man merkte auch an der Feuchtigkeit und dem süßlichen Duft des Duschgels oder des Shampoos in der Luft, ob jemand geduscht oder gebadet hatte.

Lucy ging zurück zur Zimmertür, drückte ein Ohr dagegen und lauschte ein paar Sekunden. Stille. Sie ging auf den Schrank zu und öffnete die Tür. Der Kleidersack hing darin wie ein Toter am Galgen. Langsam griff sie in den Schrank und drehte mit zitternder Hand das Namensschild um.

Dieser Kleidersack gehört George Archer.

Lucy lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hieß George Archer. All die Jahre hatte sie sich vorzustellen versucht, wie ihr Kidnapper wohl hieß. Jeder Mensch hatte einen Namen. Sobald sie eine Zeitung oder Zeitschrift las, sich einen Film oder eine TV-Show ansah oder zum Beispiel im Wartezimmer eines Arztes oder bei der Kraftfahrzeugbehörde saß und jemand laut einen Namen sagte, fragte sie sich: Ist das sein Name? Könnte diese Person der Mann in ihren Albträumen sein? Jetzt wusste sie es. George Archer. Es war ein vollkommen harmloser Name, doch Lucy versetzte er in Angst und Schrecken.

Sie schloss die Schranktür, lief mit laut klopfendem Herzen schnell auf die Kommode zu und öffnete sie. Dort lagen noch immer dieselben Hemden – ein blaues, ein weißes und ein weißes mit schmalen grauen Streifen. Lucy prägte sich ihre exakte Lage in der Schublade ein, damit sie sie genau so wieder dorthin zurücklegen konnte. Als sie die drei Hemden herausnahm, kam es ihr fast so vor, als wären sie heiß. Doch als sie dann unter den Hemden nachschaute, sah sie, dass das Foto verschwunden war.

Hatte sie sich das nur eingebildet?

Nein. Es hatte dort gelegen. Lucy hatte dieses spezielle Foto nie zuvor gesehen, doch sie wusste, wo es aufgenommen worden war: in einer Eisdiele in der Wilmot Street. Es war ein Foto ihrer Mutter, auf dem sie den roten Pullover trug, den Lucy bei Sears in dem Einkaufscenter gestohlen hatte.

Lucy drehte sich um und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Plötzlich erschien es ihr fremd, als wäre sie noch nie hier gewesen. Als sie die Hemden ordentlich zurück in die Schublade legte, bemerkte sie, dass in der Brusttasche des oberen Hemdes, des blauen, etwas steckte. Es war ein Blatt von den Notizblöcken des Le Jardin.

Lucy nahm das Blatt heraus und las es durch. Dort stand:

Wir treffen uns hier am Sonntagabend um halb zehn. Liebe Grüße von Lucy.

Es war ihre Handschrift.

Es war eine Notiz, die sie geschrieben und in dieses Zimmer gelegt hatte, damit Mr. Archer sie fand.

Sie schaute auf die Uhr. 21.28 Uhr.

Plötzlich drehte sich das Zimmer vor ihren Augen. Einen Augenblick lang hatte Lucy das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie schlug die Schublade zu. Dass alles so aussah wie zuvor, war nicht mehr wichtig. Nun zählte nur noch, dass sie so schnell wie möglich dieses Zimmer verließ.

Sie wich von der Kommode zurück, als würde sie brennen und dann hörte sie …

… die Glocke.

Ihre Glocke. Ihre spezielle Glocke.

Jetzt war Lucy ganz ruhig und mit sich im Reinen. Sie wusste, was sie tun musste. Sie ging zur Zimmertür und riss sie auf. Dann kehrte sie zum Schrank zurück, setzte sich hinein und schloss die Tür.

Im Schrank roch sie den Duft der Äpfel und des Pfeifenrauchs, die Gerüche, die George Archer umgaben, die Gerüche des Bösen. Aber dieses Mal hatte sie keine Angst.

Als sich Schritte dem Schrank näherten – Schritte von zwei Personen im Abstand weniger Minuten –, brach die Dunkelheit über Lucy Doucette herein, und sie erinnerte sich wieder an alles.

»Es ist alles in Ordnung, Eve«, sagte er. »Es hat einen Unfall gegeben. Ich kümmere mich um dich.«

Er streckte die Hand aus. An einem Finger trug er einen Schlangenring. Dicker Rauch verdunkelte den Himmel.

»Was für einen Unfall?«, fragte sie.

Mr. Archer öffnete die Tür seines Wagens. Lucy stieg ein. »Einen Flugzeugabsturz«, sagte er. »Einen schlimmen Flugzeugabsturz.«

»Wo ist meine Mutter?«

»Sie möchte, dass ich auf dich aufpasse. Sie hilft den Menschen an der Unglücksstelle, wo das Flugzeug abgestürzt ist.«

»Meine Mutter hilft ihnen?«

»Ja, Eve.«

Mr. Archer startete den Wagen.

Er führte sie die schmale Holztreppe hinunter und dann durch eine schmale Tür in einen zugigen Raum mit gemauerten Wänden. Der Raum wurde nur von Kerzen erhellt. Es kam ihr so vor, als wären es Hunderte. In dem Raum roch es nach billigem Parfum und faulenden Äpfeln. Sogar der Staub und die Spinnweben waren kalt.

Als Mr. Archer ging und Lucy hörte, dass die Tür oben an der Treppe abgeschlossen wurde, sah sie, dass noch ein Mädchen in dem Raum saß. Es war ungefähr in Lucys Alter, um die elf, aber es trug das Kleid einer erwachsenen Frau – ein kurzes Paillettenkleid mit Trägern. Das Gesicht des Mädchens war mit Make-up verschmiert. Es hatte lange geweint. Seine Augen waren rot und geschwollen.

»Wer bist du?«, fragte Lucy.

Das Mädchen zitterte.

»Ich bin … ich bin Peggy.«

»Warum bist du hier?«

Das Mädchen antwortete nicht. Lucy betrachtete die Arme und Beine des Mädchens. Sie waren mit blauen Flecken übersät. Dann schaute Lucy sich um und sah, dass an einem Rohr an der Decke ein zweites Kleid hing.

Es verging eine lange Zeit. Stunden um Stunden, und Lucy konnte sich nicht erinnern, was in dieser Zeit geschehen war. Tage der Dunkelheit.

Am dritten Tag nahm sie ein Schaumbad. Das Badezimmer befand sich in einem kleinen Raum im Kellergeschoss. Die Wände waren mit rosafarbener Lackfarbe gestrichen. Das Waschbecken hatte goldene Wasserhähne.

Als die Dunkelheit hereinbrach, kam Mr. Archer in den Keller, um sie zu holen. Zum ersten Mal nahm er sie mit ins Esszimmer. Der Tisch war für zwei Erwachsene gedeckt. Weingläser und viele Kerzen. Lucy trug jetzt ihr Damenkleid und hochhackige Schuhe, die viel zu groß für sie waren. Mr. Archer war gekleidet wie ein Mann in einem alten Spielfilm und trug eine weiße Fliege. Er ging in die Küche.

Lucy schaute zum Fenster hinüber. Sie durchquerte den Raum, öffnete das Fenster und schlüpfte hinaus.

»Eve!«, schrie Mr. Archer.

Lucy rannte. Sie rannte, so schnell und so lange sie konnte, durch riesige Apfelgärten. Sie stolperte und fiel hin, schürfte sich Ellbogen und Knie auf und zertrat während des Laufens die verfaulten Äpfel, die auf der Erde lagen. Sie sah über die Schulter zurück, aber sie konnte Mr. Archer nicht entdecken. Bald kam sie zu einem dicken Rohr, das in den See mündete. Sie kroch hinein und wartete. Lucy wusste nicht, wie lange sie in dem Rohr kauerte. Stunden um Stunden. Sie musste sich in den Schlaf geweint haben, denn auf einmal schien ihr ein helles Licht ins Gesicht.

»Alles ist gut«, sagte der Mann mit der Taschenlampe.

Doch nichts war gut.

Sie sprachen stundenlang mit ihr, aber Lucy sagte kein Wort. Sie hatte alles, was sie erlebt hatte, verdrängt.

Ihre Mutter nahm sie mit nach Hause. Die Zeit verging, und die Erinnerung an den Mann mit dem Schlangenring verblasste allmählich. Doch dort, wo die Angst in ihrem Inneren saß, nahm der gesichtslose Mann Gestalt an und schwebte durch die Dunkelheit ihrer Träume.

Nachts hörte sie ihn immer summen. Sie hörte das Zuschlagen der Autotür, das Knarren der alten Holztreppe, seine sanfte Stimme, und sie hörte …

… die Glocke.

Die Glocke läutete wieder.

Lucy hörte den Klang von weither, als läutete sie am Ende des langen Abflussrohres, in das sie gekrochen war. Einen winzigen Augenblick lang roch sie das Abwasser und spürte die Feuchtigkeit in der Luft. Dann war es wieder vorbei.

Lucy schaute sich um. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, wo sie war. Sie war im Hotel. Im Le Jardin. Sie kannte jeden Winkel dieses Hauses. Sie hob die Arme und ertastete über ihrem Kopf den dunklen Schrank.

Wie viel Zeit war vergangen? Sie wusste es nicht. Lucy stand auf, öffnete die Schranktür und trat hinaus. Die Luft hatte sich auf eine Weise verändert, die nur jemandem auffallen konnte, der Tag für Tag hier war und die Wände, die Decke, die Ecken und die Atmosphäre kannte.

Die Zimmertür war geschlossen. Lucy schaute auf die Uhr. Sie hatte nicht lange im Schrank gesessen. Sie musste dieses Zimmer verlassen. Mr. Archer konnte jede Sekunde zurückkehren.

Als sie gerade loslaufen wollte, wurde ihr schwindlig. Sie setzte sich kurz auf die Bettkante. Der Schwindel verging, aber irgendetwas stimmte nicht. Unter ihr fühlte es sich feucht an. Lucy stand auf und starrte auf ihre Hände. Sie waren voller Blut. Sie drehte sich um und bemerkte in dem düsteren Licht die Umrisse unter dem blutgetränkten Bettlaken.

Lucy spürte, dass ihr der Mageninhalt hochkam. Sie wich zurück in dem Gefühl, ihr Herz würde gleich zerspringen. Sie konnte den Brechreiz nicht länger unterdrücken und übergab sich auf den Boden.

Dann schaute Lucy zum Telefon auf dem Schreibtisch. Es schien eine Meile weit weg zu sein. Der Gestank ihres Erbrochenen und des Blutes stieg ihr in die Nase. Ihr wurde wieder übel.

Sie rannte ins Badezimmer.

Echo des Blutes: Thriller
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