54.

Mit klopfendem Herzen stand Lucy vor der Tür von Zimmer 1208. Sie wollte es betreten, doch eine entsetzliche Angst, die sie gut kannte, lähmte sie. Sie hatte auf eigene Faust ein wenig recherchiert und wusste, dass alle Gäste auf dieser Etage Mitglied in der Société Poursuite waren. Heute besuchte die Gruppe ein Seminar im Crystal Room, das von 10.00 bis 15.00 Uhr dauern sollte. Dann gab es eine Pause. Lucy nahm an, dass zwischen 9.30 Uhr und circa 14.00 Uhr niemand diese Etage betreten würde.

Heute Morgen hatte sie auf dem Treppenabsatz gestanden und die Leute beobachtet, die den Crystal Room betraten. Seit ihrer Entführung beobachtete sie alle Menschen, die sie traf, ganz genau und lauerte auf eine Geste, eine vertraute Körperhaltung, ein Wort, einen Tonfall, einen Akzent, die sie zu diesen drei verlorenen Tagen und dem, was ihr zugestoßen war, zurückführen würden.

In Carlisle hatte sie einst das schrille Lachen einer Frau gehört. Es weckte ihre Erinnerung an einen Raum, aber nicht unbedingt an einen Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde, sondern an einen, der als Zwischenstopp diente. Als sie sich zu der Frau umdrehte – einer korpulenten Rothaarigen um die vierzig mit Nikotinflecken auf den Lippen -, verflüchtigte sich das Gefühl schon wieder. Lucy begriff damals, dass dieses Gefühl immer wieder kommen und vergehen würde. Es reichte aus, wenn es wenige Minuten andauerte, damit sie es richtig registrieren und sich zu erinnern versuchen konnte.

Jetzt wartete eine andere Aufgabe auf sie.

Lucy hob die Hand, um zu klopfen, doch sie schaffte es nicht. Ihre Arme waren kraftlos und plötzlich zu leicht. Sie versuchte es noch einmal.

»Zimmerservice«, sagte sie und klopfte. Ihre Stimme hörte sich an wie ein leises Quieken.

Sie klopfte lauter. »Zimmerservice.«

Keine Reaktion.

Jetzt oder nie.

Lucy zog die Schlüsselkarte für diese Etage hervor, steckte sie in den Schlitz und betrat Zimmer 1208.

Das Zimmer war leer.

Die Zimmermädchen durften die Türen an sich nicht schließen, aber manchmal gingen sie von alleine zu, und das wusste die Hausdame. Heute passierte es eben einmal. Allerdings half Lucy etwas nach.

Sie schleppte alles, was sie brauchte, ins Zimmer und legte es aufs Bett. Dann überflog sie die Checkliste. Nie zuvor in ihrem Leben hatte Lucy so schnell gearbeitet wie heute.

Es war verrückt. Was machte sie hier? Sie bildete sich alles nur ein. Das war alles nur ein Hirngespinst. Seitdem sie von dem Traumweber gehört hatte, glich ihr Leben einem verrückten Traum. Die Tatsache, dass ein kleines Mädchen in diesem Zimmer ermordet worden war, konnte nur ein grässlicher, tragischer Zufall sein.

Mr. Adrian Costa verfügte über keine besonderen Fähigkeiten und keine außergewöhnliche Macht. Der Mann war ein Scharlatan, und er belog sie. Nur ein Hochstapler wie die anderen auch.

Blitzschnell erledigte Lucy die restlichen Arbeiten. Sie schaffte es in fünfzehn Minuten und stellte damit einen neuen Rekord auf. Als sie fertig war, fühlte sie sich ein bisschen besser. Ein sauberes Zimmer übte diese Wirkung stets auf sie aus. Jetzt konnte sie wieder gehen.

Als sie das Zimmer gerade verlassen wollte, fiel ihr Blick auf die untere Schublade der Kommode, die einen Spalt breit offen war. Lucy schaute zur Tür und wieder auf die Schublade.

Sie konnte dem Drang, die Schublade zu öffnen, nicht widerstehen und zog sie vorsichtig auf. Dort lagen drei gefaltete Anzughemden. Und darunter lag etwas, das glänzte. Lucy schob die Hemden zur Seite, und dann sah sie es.

Unten in der Schublade lag ein Foto ihrer Mutter.

Echo des Blutes: Thriller
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