24.

Das Haus in Lexington Park war bis auf Hunderte von Kartons auf dem Speicher, im Flur des ersten Stocks, im Wohnzimmer und in der Küche nahezu leer. Die Möbel hatten sie schon ausgeräumt. Der Kronleuchter aus dem Esszimmer, ein Familienerbstück, das Jessica von ihrer Großmutter geerbt hatte, war, ebenso wie die Gläser aus geschliffenem Kristall, von ihrer Mutter sorgfältig eingepackt und in Sicherheit gebracht worden.

Im Erdgeschoss drängten sich drei Dutzend Menschen und aßen Krabbenchips und Chicken-Wings von Chickie’s & Pete’s. Darunter war das Who’s Who des Police Departments, der Kriminaltechnik und der Bezirksstaatsanwaltschaft. Jessica und Vincent hatten Verwandte, Freunde, Bekannte und Kollegen seit Monaten an ihren Umzug erinnert und mit unterschiedlichen Strategien versucht, sie zur Mithilfe zu gewinnen.

Im Erdgeschoss hielten sich Jessicas Vater Peter Giovanni, die meisten ihrer Cousins und Cousinen, Colleen Byrne und ihr Freund Laurent sowie Byrnes Vater Paddy auf. Fast alle, denen nicht rechtzeitig eine Ausrede eingefallen war, packten heute mit an.

Byrne hatte sich verspätet.

Jessica und Byrne standen oben auf der Treppe zum Speicher, der mit unzähligen Kartons vollgestopft war.

»Wow«, sagte Byrne.

»Meinst du, ich leide unter Sammelwut?«

Byrne schaute sich um und zuckte mit den Schultern. »So schlimm finde ich es nicht. Ich habe schon Schlimmeres gesehen. Erinnerst du dich an die alte Dame am Osage River mit den zweihundert Katzen?«

»Danke.«

Jessica entdeckte ein paar Haare auf Byrnes Schultern. Sie bürstete sie mit den Händen weg.

»Warst du beim Friseur?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin einfach da rein und hab mir die Haare schneiden lassen.«

»Du bist da einfach so rein?«

»Ja. Nicht gut?«

»Doch, sieht gut aus. Ich bin nur noch nie spontan zum Friseur gegangen. Ich brauche vier bis sechs Wochen, um mich zu entscheiden, dann ringe ich noch einen Monat mit der Entscheidung und frage hundert Leute nach ihrer Meinung. Irgendwann melde ich mich dann tatsächlich an und sag den Termin in letzter Minute wieder ab. Für mich verändert ein Friseurbesuch mein ganzes Leben.«

»Für mich ist es nur ein Haarschnitt.«

»Du hast es leicht.«

»Ja. Mein Leben ist ein Wunschkonzert.«

Jessica hob ein paar Kartons hoch, die zum Glück leicht waren. Wenigstens hatte sie die Kartons in den letzten Jahren mit Etiketten versehen. Auf einem stand DEKOMATERIAL ST. PATRICK’S DAY. Jessica konnte sich nicht erinnern, jemals Dekomaterial für den St. Patrick’s Day gekauft oder das Haus an dem Tag geschmückt zu haben. Wahrscheinlich würde sie das Zeug trotzdem aufheben, auch wenn sie es nie benutzen würde. Sie stellte den Karton oben an die Treppe und drehte sich um.

»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte sie.

»Nur zu.«

»Wie oft bist du in den letzten zehn Jahren umgezogen?«

Byrne dachte kurz nach. »Vier Mal. Warum?«

»Ich weiß nicht. Mich würde interessieren, ob du an vollkommen wertlosem, nutzlosem Zeug hängst.«

»Nein«, sagte Byrne. »Alles, was ich habe, brauche ich unbedingt. Ich lebe spartanisch.«

»Okay. Du solltest wissen, dass ich mal mit Donna über dieses Thema gesprochen habe.«

»Ach ja?«

Jessica hatte sich im Laufe der letzten Jahre mit Byrnes Exfrau Donna angefreundet.

»Ja. Und sie hat mir erzählt, dass du damals, als ihr von der Wohnung in das Haus gezogen seid, als Erstes dein Roger-Ramjet-Nachtlicht eingepackt hast.«

»Eh! Aus reinen Sicherheitsgründen, okay?«

»Ach so. Hast du es noch?«

»Nein. Jetzt hab ich ein Steve-Canyon-Nachtlicht. Roger Ramjet ist nur was für Kinder.«

»Pass auf. Ich sag’s dir, wenn du es sagst.«

Dieses Spiel, das sie mitunter spielten, ähnelte dem Spiel Wahrheit oder Pflicht, ohne die Pflicht. In neunundneunzig Prozent der Fälle war die Stimmung unbeschwert, selten auch ernst, aber heute nicht. Es gab dennoch Regeln.

»Klar«, stimmte Byrne zu. »Du fängst an.«

»Okay. Was ist das peinlichste Kleidungsstück, das du noch besitzt? Ich meine etwas, das du nie mehr anziehen wirst, nicht in tausend Jahren, aber von dem du dich trotzdem nicht trennen kannst.«

»Die Frage kann ich leicht beantworten.«

»Wirklich?«

»Klar. Eine knallenge grüne Samthose in Größe 33, unter der sich alles abgezeichnet hat.«

Jessica hätte beinahe losgelacht. Stattdessen räusperte sie sich. Zu den Regeln des Spiels gehörte es, nicht zu lachen. »Wahnsinn«, stieß sie schließlich hervor.

»Wahnsinn, weil mir mal eine Hose in 33 gepasst hat oder weil sie aus grünem Samt ist?«

Egal, wie sie die Frage beantwortete, sie würde auf jeden Fall ins Fettnäpfchen treten. Jessica entschied sich für den grünen Samt.

»Tja, ich hab sie in meiner Thin-Lizzy-Zeit in New York gekauft. Ich wollte wie Phil Lynott aussehen. Du hättest mich sehen sollen.«

»Dafür würde ich eine Menge Geld hinlegen. Viele Kolleginnen bestimmt auch.«

»Und was ist mit dir?«

Jessica schaute auf die Uhr. »Oje. Sieh mal, wie spät es ist.«

»Jess.«

»Okay. Als ich neunzehn war und zur Temple University ging, hatte ich ein Date mit diesem Jungen – Richie Randazzo. Er lud mich zur Hochzeit seines Cousins in Cheltenham ein, und ich habe drei Monate gespart, um mir das süßeste, kleine rote Kleid bei Strawbridge’s zu kaufen. Es ist in Größe 36. Ich hab es noch immer.«

»Jetzt sag nicht, Größe 36 passt dir nicht mehr?«

»Du bist der großartigste Mann, der jemals gelebt hat.«

»Das ist doch wohl klar. Eine Frage noch.«

»Ja?«

»Du bist mit einem Jungen namens Richie Randazzo ausgegangen?«

»Wenn man mal von der Mantamatte, dem durchgerosteten Toronado mit dem mit Pelz umrandeten Rückspiegel und der Tatsache, dass er Southern Comfort und Vernor’s getrunken hat, absieht, war er eigentlich ganz süß.«

»Ich hatte wenigstens nie eine Mantamatte. Nie.«

»Ich könnte Donna mal fragen.«

Byrne warf einen Blick auf die Uhr. »Sieh mal, wie spät es ist.«

Jessica begann zu lachen und ersparte es Byrne, dass sie der Sache doch noch auf den Grund ging. Dann schwieg sie einen Augenblick und schaute sich auf dem Speicher um. Sie musste daran denken, dass sie diesen Speicher nie wieder betreten würde. »Oh, Mann.«

»Was ist?«

»Mein ganzes Leben steckt in diesen Kartons.« Jessica öffnete einen Karton und nahm ein paar Fotos heraus. Ganz oben lagen Fotos von der Hochzeit ihrer Eltern.

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Byrne sich ein paar Sekunden wegdrehte, um sie mit ihren Erinnerungen allein zu lassen. Jessica legte die Fotos zurück in den Karton.

»Darf ich dich noch etwas fragen?«

»Sicher.«

Jessica holte zuerst tief Luft und hoffte, dass ihre Stimme einen festen Klang hatte. Sie legte eine Hand auf den Karton, der mit dem grünen Garn umwickelt war. »Wenn du etwas hättest, eine Erinnerung, die ein Teil deines Lebens ist, und du weißt, dass es dir das Herz bricht, wenn du es dir ansiehst, behältst du es dann trotzdem? Hebst du es trotzdem auf? Obwohl du weißt, dass es dir immer Kummer bereitet, wenn du es dir ansiehst?«

Byrne wusste, dass sie über ihre Mutter sprach.

»Erinnerst du dich gut an sie?«, fragte er.

Jessica war fünf Jahre alt, als ihre Mutter starb. Ihr Vater hatte nie wieder geheiratet und nie wieder eine andere Frau geliebt. »Ja. Manchmal. Aber nicht an ihr Gesicht. Ich erinnere mich an ihren Duft. Ihr Shampoo, ihr Parfum. Ich erinnere mich, dass sie im Sommer, wenn wir nach Wildwood fuhren, nach Sonnencreme von Coppertone und Kirschdrops von Life Savers duftete. Ich erinnere mich an ihre Stimme. Sie hat immer die Songs im Radio mitgesungen.«

Heaven must have sent you. Das war einer der Lieblingssongs ihrer Mutter. Jessica hatte seit Jahren nicht mehr an den Song gedacht.

»Und du?«, fragte sie. »Denkst du oft an deine Mutter?«

»Oft genug, um die Erinnerung an sie wachzuhalten.« Byrne lehnte sich gegen die Wand. Das machte er immer, wenn er etwas erzählen wollte.

»Wenn mich mein Vater in meiner Kindheit mal wieder zur Schnecke gemacht hat, beschützte meine Mutter mich immer, indem sie sich zwischen uns stellte. Es war nicht so, dass sie mich verteidigte, und letztendlich wurde ich immer bestraft. Aber während mein Vater mir Vorwürfe machte, stand sie mit den gefalteten Händen auf dem Rücken vor mir. Ich schaute auf ihre Hände, und sie hatte immer eine 50-Cent-Münze für mich. Mein Vater erfuhr es nie. Ich musste meine Strafe abbrummen, aber hinterher besaß ich immer fünfzig Cent, die ich für ein Wassereis oder ein Comic-Heft verprassen konnte.«

Jessica musste lächeln, als sie daran dachte, dass irgendjemand – vor allem Paddy Byrne – ihren Partner einschüchtern konnte.

»Sie starb an meinem Geburtstag, weißt du«, fuhr Byrne fort.

Nein, das wusste Jessica nicht. Byrne hatte es ihr nie erzählt. Sie konnte sich kaum etwas Traurigeres vorstellen. »Das wusste ich nicht.«

Byrne nickte. »Du weißt doch auch, dass man immer an seinen Geburtstag denkt, wenn das Datum irgendwo steht oder wenn man es im Kino oder im Fernsehen hört, nicht wahr?«

»Ja. Man dreht sich zu den anderen um und sagt: Eh, an dem Tag hab ich Geburtstag

Byrne lächelte. »So ist es jetzt immer, wenn ich zum Friedhof gehe. Ich muss immer zwei Mal hinsehen, wenn ich das Datum auf dem Grabstein sehe, obwohl ich es eigentlich weiß.« Byrne steckte die Hände in die Taschen. »Es wird nie mehr das Datum meines Geburtstags sein, sondern das ihres Todestages, egal wie lange ich lebe.«

Jessica wusste nicht, was sie sagen sollte. Es spielte aber auch keine Rolle, denn sie kannte niemanden, der einfühlsamer war als Byrne. Er wusste immer, wann es Zeit war, das Thema zu wechseln.

»Und deine Frage?«, sagte er. »Du hast mich gefragt, ob man etwas aufheben soll, obwohl man weiß, dass es einem das Herz bricht, wenn man es sich ansieht.«

»Was ist damit?«

Byrne griff in die Hosentasche und zog etwas heraus. Es war eine 50-Cent-Münze. Jessica schaute auf die Münze und dann auf ihren Partner. Seine smaragdgrünen Augen glänzten und waren noch dunkler als sonst.

»Es ist so eine Sache mit Dingen, die dir das Herz brechen«, sagte Byrne. »Manchmal ist es das Beste, was passieren kann. Manchmal erinnert es dich daran, dass dein Herz noch schlägt.«

Sie standen schweigend auf dem zugigen Speicher und hingen ihren traurigen Erinnerungen nach. Ein lautes Klirren unterbrach jäh die Stille. Jemand hatte eine Porzellanschüssel fallen lassen. Iren und Italiener und Alkohol, da ging zwangsläufig immer etwas zu Bruch. Jessica und Byrne lächelten einander zu und kehrten in die Realität zurück.

»Bist du bereit für die große, böse Stadt?«

»Nein.«

Byrne nahm einen Karton und ging auf die Treppe zu. Dann blieb er stehen und drehte sich um. »Weißt du, für eine Tusse aus South Philly bist du irgendwie ein Waschlappen.«

»In einem der Kartons liegt eine Waffe«, sagte Jessica.

Byrne lief die Stufen hinunter.

Echo des Blutes: Thriller
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