63.

SAMSTAG, 30. OKTOBER

Jessica joggte die Dritte Straße entlang. Zu dieser frühen Stunde war das Joggen gar nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Es herrschte wenig Verkehr, und man begegnete kaum jemandem auf den Straßen. Nur die Leute, die ihre Bäckereien und Coffee Shops öffneten, die Straßenreinigung, andere Jogger und Radfahrer waren jetzt schon unterwegs. Beim Joggen durch die Stadt stellten nur die unebenen Bürgersteige, die Bordsteinkanten und die paar streunenden Hunde ein Problem.

Es nieselte. Laut Wettervorhersage sollte es in ein paar Stunden aufhören. Jessica trug ihre Regenkleidung und eine Basecap der Eagles. Sie war zwar nass, aber nicht durchnässt. Die Temperatur lag bei knapp zehn Grad. Ideales Joggingwetter.

Als sie in die Wahrton einbog, dachte sie an ihr Gespräch mit Frederic Duchesne. Sie dachte auch an das Foto an der Wand im Prentiss Institute von Christa-Marie Schönburg mit dem Edelstahlarmreif, den sie in Joseph Novaks Wohnung gesehen hatten.

Heute Morgen würden sie die Hintergrundinformationen über Karneval der Tiere bekommen, und dann konnten sie herauszufinden versuchen, was für ein kranker Plan hinter der seltsamen Methode des Killers steckte.

Sie bog um die Ecke und sah jemanden vor ihrem Haus stehen. Nicht schon wieder, dachte Jessica und verlangsamte ihre Schritte.

Doch diesmal war es nicht Dennis Stansfield, sondern Kevin Byrne. Als Jessica sich ihm näherte, fiel ihr Blick auf sein abgespanntes, blasses Gesicht. So schlimm hatte er noch nie ausgesehen. Er war unrasiert, trug dieselbe Kleidung wie gestern und stand reglos im Regen. Er schien weder nach ihr Ausschau zu halten, noch sonst etwas zu tun. Byrne stand einfach im kalten Regen und hielt einen großen Briefumschlag in der Hand. Eine Markise in wenigen Metern Entfernung hätte ihm Schutz geboten.

Jessica blieb kurz stehen und ging dann auf Byrne zu.

»Hey«, sagte sie und rang nach Luft.

Byrne drehte sich zu ihr um. »Hey.«

»Willst du nicht reinkommen? Du bist ganz nass.«

Byrne hob den Blick zum Himmel und ließ den Regen auf sein Gesicht prasseln.

»Komm mit rein«, sagte Jessica. »Ich mach uns Kaffee und geb dir ein Handtuch.«

»Ist schon okay.«

Jessica umfasste seinen Arm und zog ihn unter die Markise der Nachbarn. Sie schüttelte den Regen von ihrer Basecap und strich die Tropfen von Byrnes Schultern. »Was ist los?«

Byrne antwortete ihr nicht und zeigte stattdessen auf ein Schild mit einem provokanten Spruch im Fenster eines Reihenhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Darauf stand: Parken nur für Italiener.

Jessica lächelte. »South Philly. Was soll man machen?«

Byrne drehte den Umschlag immer wieder in den Händen. Die Zeit verging. »Ich glaube, ich kann das nicht mehr, Jess.«

Er schaute die Straße hinunter und schwieg wieder. In einigen Fenstern ging Licht an. Ein ganz normaler Morgen in Philadelphia.

Jessica legte eine Hand auf Byrnes Schulter und sah ihm ins Gesicht. »An dem Fall arbeiten zwei Dutzend Leute. Wir haben alle Kräfte mobilisiert. Wir werden ihn schnappen. Nimm dir einen Tag frei. Ich ruf dich jede volle Stunde an. Falls es was Neues gibt, ruf ich dich sofort an.«

»Das Labor hat sich gemeldet«, sagte Byrne. »Irina hat etwas über die Mordwaffe herausgefunden.«

»Das ist doch gut, oder?«

»Der Killer benutzt Saiten eines Musikinstruments.«

»Saiten eines Musikinstruments?«

Byrne warf einen Blick auf die Straße. »Der Draht ist eine Cello-Saite, Jess. Er erdrosselt sie mit einer Cello-Saite. Das erklärt das Tierhaar an dem Draht. Es ist Pferdehaar vom Bogen.«

Diese Erkenntnis zwang sie zum Handeln. Jetzt verstand Jessica auch, warum ihr Partner die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Es gab nun keinen Vorwand mehr, Christa-Marie Schönburg nicht zum Verhör ins Roundhouse zu bringen. Da bestanden einfach zu viele Verbindungen.

Jessica erschien es für angebracht, das Thema behutsam anzusprechen. »Wie willst du vorgehen?«

Byrne schwieg. Eine Kehrmaschine fuhr langsam an ihnen vorbei. Sie traten ein Stück zurück. Als die Kehrmaschine sich entfernt hatte, drehte Byrne sich zu Jessica um.

»Als ich dieses Haus vor zwanzig Jahren betrat, habe ich etwas gespürt, verstehst du? Es war mein erster Fall als leitender Detective, und ich hatte die Sache in der Hand. Ich sah die Leiche, die Waffe und das Blut. Ich sah die Verdächtige, und ich kannte das Motiv. Innerhalb einer Sekunde war mir alles klar. Alles zusammen ergab ein vollständiges Bild, bei dem kein Puzzleteil fehlte.« Byrne warf Jessica einen Blick zu. Er war vollkommen fertig. »Und ich habe zu mir gesagt, das ist das, was du tun musst.«

Jessica wollte etwas erwidern, doch sie hielt es für besser zu schweigen.

»Jetzt sehe ich das nicht mehr so«, fuhr Byrne fort. »Jetzt sind es alles einzelne Teile, und ich habe Angst, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich habe Angst, dass ich dem nicht mehr gewachsen bin.«

»Du irrst dich, Kevin. Du bist dem gewachsen. Ich kenne niemanden, der besser ist als du. Weißt du, was mir Angst macht?«

»Was?«

»Mir macht der Gedanke Angst, dass der Killer untertauchen könnte. Dass er das, was er vorhat, beenden und dann für immer verschwinden könnte.«

»Er ist noch nicht fertig.«

Byrne sagte das mit so viel Nachdruck, dass Jessica einen Schreck bekam. »Wie meinst du das? Woher weißt du das?«

Byrne hielt den großen Briefumschlag hoch, der vollkommen durchnässt war. Es schien ihn nicht zu interessieren. »Das ist heute Morgen gegen vier Uhr gekommen.«

»Was ist das?«

Byrne zog das Dokument aus dem Umschlag. Doch er schaute es sich weder an, noch reichte er es Jessica, sodass es ganz nass wurde. »Gestern wurde in der Stadt Garrett Corners eine Leiche gefunden.«

»Und was haben wir damit zu tun?«

»Es sieht so aus, als hinge der Fall mit unserer Mordserie zusammen«, sagte Byrne. »Wir müssen da hin. Wir werden erwartet.«

Echo des Blutes: Thriller
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