22.

In einem Zustand, der – wie ihr einmal irgendein Therapeut erklärt hatte – Dissoziative Fugue genannt wurde, ging Lucy die Achtzehnte Straße hinunter.

Sie musste unablässig an das Foto denken.

Das konnte nicht ihr Haus in der Melbourne Road gewesen sein. Das war schier unmöglich. Es musste einfach das Foto irgendeines x-beliebigen Bungalows sein, wie es sie zu Tausenden gab. Sie sahen doch alle gleich aus, oder nicht? Vor allem die hässlichen Häuser.

Aber was ist mit der Fahne, Lucy? Hing auf allen Veranden diese zerfetzte Fahne an einem verrosteten Nagel, dieses alberne Fähnchen, das den Frühling symbolisieren sollte? Diese Fahne, die man alle drei Monate wechseln sollte, was aber niemand tat, nicht ein einziges Mal in all der Zeit, in der sie dort wohnten? Sie hatten sie alle – Frühling, Sommer, Herbst und Winter, alle vier Jahreszeiten, und eine war zerfetzter als die andere –, aber sie tauschten die Frühlingsfahne nie aus.

Was ist damit, Lucy? Was ist mit der Frühlingsfahne?

Auf diese Frage fand sie keine Antwort. Und sie wusste auch nicht, was in den zwanzig Minuten geschehen war, an die sie sich nicht erinnern konnte. Sie musste wohl über den Tag gesprochen haben, an dem sie verschwunden war. Was hatte sie gesagt? Und warum sprach Mr. Costa nicht mit ihr darüber? War sie nicht aus diesem Grund zu ihm gegangen?

Das gehörte alles zur Therapie, vermutete sie. Und zwei Sitzungen lagen noch vor ihr.

Seit Lucy sechs oder sieben Jahre alt war, besaß sie erstaunlich viel handwerkliches Geschick. Autos konnte sie allerdings nicht reparieren, wenngleich sie die einfachen Wartungsarbeiten mittlerweile bei den meisten Wagen durchführen konnte – Öl, Zündkerzen und Keilriemen wechseln, manchmal auch Bremsbeläge erneuern, wenn nicht zu viel ausgebaut werden musste. Nein, ihre Stärke lag darin, kleine Elektrogeräte zu reparieren. Wenn man ihr einen Kassettenrekorder, einen Tischbackofen oder eine Lampe brachte, die nicht mehr funktionierten – und eine Reihe von Mitarbeitern des Le Jardin taten das oft –, war sie nach der Mittagspause mit der Reparatur fertig.

Lucy hatte keine Berufsfachschule und keine Seminare besucht und sich auch nicht in Fernkursen weitergebildet. Sie verfügte über ein angeborenes Geschick, das sie aus der Notwendigkeit ihres ärmlichen Lebens heraus weiterentwickelt hatte.

Während der nächtlichen Beutezüge in ihrer Kindheit, wenn sie mit ihrer Mutter den Müll durchwühlte, fanden sie oft alle möglichen weggeworfenen Dinge – Tischbacköfen, Mixer und Kassettenrekorder. Glücklich über die Beute, schleppte Lucys Mutter die Sachen in ihre Wohnung und vergaß sie dann oft. Wochen später warf sie die Sachen wieder weg, und Lucy rettete sie ein zweites Mal. Sie begann, einfache Geräte zu reparieren und wurde mit der Zeit immer besser darin.

Learning by doing hieß das Prinzip, doch das wusste sie nicht.

Mit zehn Jahren ging Lucy alleine zu Müllhalden und suchte dort Dinge, die sie reparieren konnte. Sie kannte jeden Secondhand-Laden in ihrer kleinen Stadt. Während die meisten Kinder Dick und Jane lasen, brütete Lucy über Reparaturhandbüchern wie Sam’s Photofact.

Außerdem stahl Lucy bei ihren Ausflügen in die Kaufhäuser immer Kleidung in denselben Farben – Pullover, Sweatshirts, Röcke. Manchmal ersetzte sie sogar ein paar Kleidungsstücke ihrer Mutter. Diese fiel ständig hin und zerriss ihre Sachen. Mittlerweile war Lucy eine richtige Expertin geworden. Sie konnte ein nagelneues Kleid stehlen und das Material so bearbeiten, dass ihre Mutter gar nicht merkte, dass sie etwas Neues trug. Ihre Mutter war in vielerlei Hinsicht eine stolze Frau, und es brach Lucy das Herz, wenn sie in zerrissener Kleidung herumlief.

Heute bummelte Lucy durch Macy’s am Rathaus. Sie ging auf die Kinderabteilung zu und suchte einen Pulli in der richtigen Größe. Lucy nahm zwei Pullover aus dem Regal und spazierte eine Weile damit durch das Geschäft. Als sie in die Damenabteilung kam, suchte sie ein Kleid aus und ging damit in die Umkleidekabine.

Dort stellte sie sich mit dem Rücken zu den Spiegeln, nahm ihr kleines Werkzeugset heraus – sie kannte alle Tricks – und entfernte die elektronischen Diebstahlsicherungen von einem Pulli und dem Kleid. Anschließend befestigte sie die Sicherungen an dem zweiten Pullover. Sie steckte den ersten Pullover und das Kleid in ihre Tasche, verließ die Umkleidekabine und legte den anderen Pullover wieder zurück ins Regal. Ehe sie das Geschäft verließ, schlenderte sie noch eine Weile herum, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde.

Als Lucy ins Le Jardin zurückkehrte, blieben ihr bis zum Beginn ihrer Schicht nur noch ein paar Minuten Zeit. Die Mitglieder der Société Poursuite liefen durch die Hotelhalle. Natürlich übernachteten nicht alle in diesem Hotel. Die Tagung zog ebenso Ortsansässige wie auch Leute aus dem Dreistaateneck an, die für drei Tage in die Stadt kamen, um an den Seminaren, Vorträgen und gemeinsamen Abendessen teilzunehmen.

Insgesamt checkten in den nächsten Stunden zweiundneunzig neue Gäste im Hotel ein. Sie alle mussten mit einem Lächeln und freundlichen Worten begrüßt und schnell und professionell abgefertigt werden. Die Empfangsdamen lauschten aufmerksam ihren Anliegen und bemühten sich, den Gästen alle Wünsche von den Augen abzulesen, sodass sie in den kommenden drei Tagen in Philadelphia und vor allem im Le Jardin den Himmel auf Erden erlebten.

Lucy ging im Überwachungsraum vorbei und holte den Schlüssel zu ihrer Etage.

Eine Tür zu deinem Unterbewusstsein, hatte Mr. Costa es genannt. Eine Tür zu dem, was du vor neun Jahren erlebt hast.

Um Viertel vor vier war Lucy mit ihrem letzten Zimmer, Nummer 1214, fertig.

Sie trat in den Kleiderschrank, schloss die Tür und setzte sich hin. Es dauerte nicht lange, bis sie in die Dunkelheit eintauchte. Als sie die Augen schloss, sah sie die Stadt Shanksville in Pennsylvania von oben, die Schule in der Cornerstone Road, den Lake Stonycreek und die Kirche an der Hauptstraße.

Der Traumweber hatte ihr Fragen gestellt. Wie eine warme Brise schwebte seine sanfte Stimme über ihr, hinter ihr und um sie herum. Ihre eigene Stimme gehörte einem kleinen Mädchen.

Was für ein Tag ist heute, Lucy?

Dienstag.

Morgens, nachmittags oder abends?

Es ist morgens. Dienstagmorgen.

Welche Uhrzeit?

Ungefähr zehn. Ich bin nicht zur Schule gegangen.

Warum nicht?

Mama ist gestern Abend ausgegangen und nicht rechtzeitig aufgestanden.

Wo bist du?

Ich stehe gegenüber der Kirche.

Bist du allein?

Nein. Mama ist bei mir. Sie trägt ihren langen Ledermantel. Den mit dem Riss in der rechten Tasche. Sie trägt eine Sonnenbrille. Sie hat eine Frau nach einer Zigarette gefragt, und die Frau hat ihr eine gegeben.

Was ist dann passiert?

Es gab einen großen Knall. Er war sehr laut. Sogar die Erde hat gebebt.

Was hast du getan?

Ich erinnere mich nicht genau.

Versuch dich zu erinnern. Riechst du etwas? Schmeckst du etwas?

Ich schmecke einen Milchshake.

Welche Sorte?

Schokolade. Aber es ist warmer Milchshake. Ich mag keine warmen Milchshakes.

Und der Geruch?

Ich rieche Rauch, aber er riecht anders als normaler Rauch. Nicht so, als ob Blätter oder Holzscheite in einem Kamin brennen. Eher so, als würden Leute ihre Plastikmülltüten verbrennen.

Was passiert dann?

Ich stehe eine ganze Weile hier und beobachte das Feuer und den Rauch, der in den Himmel steigt.

Wo ist deine Mutter?

Sie steht neben mir. Oder vielleicht auch nicht.

Wie meinst du das?

Neben mir steht jemand, aber ich sehe die Person nicht an. Ich kann meinen Blick nicht von dem Rauch über den Bäumen abwenden. Er hinterlässt hübsche Muster am Himmel.

Was für Muster?

Zuerst sieht es aus wie das Gesicht von Jesus. Dann sieht es aus wie Vögel.

Was passiert dann?

Ich strecke die Hand nach meiner Mutter aus, damit sie mich von hier wegbringt. Irgendwohin. Ich habe Angst.

Nimmt sie deine Hand?

Ich nehme die Hand der Person, die neben mir steht. Aber als wir weggehen, merke ich, dass es nicht meine Mutter sein kann.

Warum nicht?

Die Hand ist zu groß. Und rau. Es ist die Hand eines Mannes.

Erinnerst du dich noch an etwas anderes?

Ja. Wir steigen in ein Auto. Und ich rieche etwas anderes. Zwei neue Gerüche.

Was sind das für Gerüche?

Ein anderer Rauch. Es riecht anders als dieser Gestank von brennendem Plastik. Wie von einer Pfeife, glaube ich. Eine Pfeife, die die Leute rauchen. Eine Pfeife, die Männer rauchen.

Und was noch?

Äpfel. Empire-Äpfel. Im Westen von Pennsylvania gibt es viele Äpfel. Vor allem, wenn der Herbst naht.

Erinnerst du dich, was an dem Tag noch geschehen ist?

Das Feuer. Die Erde bebte. Ich hatte Angst. Was ist mit dem Mann? Was ist mit ihm geschehen? Ich weiß es nicht.

Was ist mit seinem Gesicht? Kannst du sein Gesicht sehen? Wenn ich ihm ins Gesicht sehe, ist es nicht da. Was ist mit dem Feuer? Erinnerst du dich, warum es gebrannt hat? Ja. Ich weiß es. Ich habe es später erfahren. Was war der Grund?

Es war Flug 93. Es war der 11. September 2001, und das Flugzeug stürzte in der Nähe von Shanksville, Pennsylvania, ab.

Lucy schaute auf ihre Hände. Sie hatte sie so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Handflächen nun acht kleine rote Halbmonde aufwiesen. Sie öffnete die Hände, trat aus dem Schrank heraus und sah sich um. Einen kurzen Augenblick lang wusste sie nicht, in welchem Zimmer sie war. Die meisten Leute, sogar die, die im Le Jardin arbeiteten, hatten Probleme, die Standardzimmer auseinanderzuhalten. Nur die Aussicht aus den verschiedenen Fenstern lieferte ihnen mitunter Anhaltspunkte. Lucy hingegen kannte jedes Zimmer auf der zwölften Etage. Es war ihre Etage.

Sie strich ihre Arbeitskleidung glatt, betrat das Badezimmer, ging im Geiste die Checkliste durch und überprüfte das Zimmer.

Fertig.

Sie öffnete die Tür und trat auf den Gang. Vom Aufzug näherten sich zwei ältere Männer. Sie gehörten vermutlich zu den Tagungsteilnehmern. In dieser Woche waren alle Gäste auf dieser Etage Tagungsteilnehmer. Sie nickten ihr zu und lächelten. Lucy lächelte zurück, obwohl ihr nicht danach zumute war.

Als Lucy das Businesscenter auf der zwölften Etage erreichte, das in Wahrheit nur ein winziger Raum mit Computer, Faxgerät und Drucker war, spürte sie, dass ein anderer Gast den Gang entlangging. Das ungeschriebene Gesetz lautete, dass die Gäste, ebenso wie die Mitarbeiter der Rezeption und die Pagen auf den Gängen, in den Aufzügen und in fast allen öffentlichen Bereichen Vortritt genossen. Man sollte sich nicht verstecken oder zur Seite treten, aber wenn man seinen Job gut machte, wusste man, wie man den Gästen elegant auswich.

Lucy trat in eine Nische, als der Mann an der Tür des Businesscenters vorbeiging. Richtig erkennen konnte sie ihn nicht, aber sie sah seinen dunklen Mantel.

Sie brauchte ihn auch gar nicht zu sehen. Es war nämlich nicht sein Anblick, der ihr den Boden unter den Füßen wegriss, sondern ihr Geruchssinn.

Der Geruch des Hotels nach Reinigungsmitteln und gefilterter, geheizter Luft wurde von einem anderen Duft überlagert, der wie eine kalte Hand an ihr Herz griff. Dieser Duft hatte ohne Zweifel dem Mann angehaftet, der gerade auf dem Gang an ihr vorbeigegangen war.

Der Duft von Äpfeln.

Lucy schaute den Gang hinunter und wusste, dass der Mann eines der Zimmer verlassen hatte. War es die 1208? Es musste so sein. Die beiden anderen Zimmer am Ende des Ganges, die beide nicht belegt waren, hatte sie gerade gereinigt.

Mit einem unguten Gefühl im Bauch schob Lucy den Putzwagen den Gang hinunter und fuhr mit dem Personalaufzug ins Kellergeschoss. Dort ließ sie den Putzwagen stehen und lief die Stufen zum Personaleingang im Erdgeschoss hoch. Sie versuchte sich zu beruhigen, als sie auf die Eingangshalle zuschritt. Lucy wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie dem Mann gegenüberstand, ja sie wusste nicht einmal, wen sie suchte.

Schließlich betrat sie von der Nordseite die Hotellobby. Dort standen drei Männer. Keiner von ihnen trug einen dunklen Mantel oder hatte einen über dem Arm hängen. Die anderen Personen gehörten alle zum Personal.

Lucy trat durch die Seitentür auf die Sansom Street. Auf dem Bürgersteig wimmelte es von Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Auslieferungsfahrer, Taxifahrer. Sie bog um die Ecke und schaute vor dem Hotel nach. Zwei Pagen holten das Gepäck eines älteren Ehepaars aus einer Limousine.

Lucys Herzschlag beruhigte sich wieder. Sie wartete einen Augenblick und ging dann die Einfahrt auf der Ostseite des Hotels entlang.

Der Duft von Äpfeln.

Sie musste es sich eingebildet haben. Sie war selbst schuld. Warum musste sie auch diesen verrückten Typen aufsuchen? Sie würde nie herausfinden, was in diesen drei Tagen geschehen war. Nicht die ganze Wahrheit.

Lucy lief zur Rückseite des Hotels und bog um die Ecke.

»Hallo, Lucy.«

Sie blieb stehen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie bekam weiche Knie. Lucy kannte den Mann, der vor ihr stand. Sie kannte sein Gesicht.

»Sie sind es«, sagte sie.

»Ja, Lucy«, erwiderte er. »Ich bin es. Detective Byrne.«

Echo des Blutes: Thriller
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