104.
Er fand sie hinter dem Hotel. Sie saß in ihrer Mittagspause allein auf einer Bank. Neben ihr stand ein Salat, den sie nicht angerührt hatte. Als sie Byrne sah, stand Lucy auf und umarmte ihn. Er hielt sie so lange umschlungen, bis sie sich aus der Umarmung löste.
Dann drehte Lucy sich um und fegte mit den Händen die Bank sauber. Immer aufmerksam, dachte Byrne und setzte sich hin.
Sie schwiegen einen Moment. »Wie läuft’s?«, fragte Byrne schließlich.
Lucy Doucette zuckte mit den Schultern. »Der ganz normale Wahnsinn.«
»War es schwierig für dich, deine Aussage zu machen?« Byrne hatte alle gebeten, die junge Frau mit Samthandschuhen anzufassen. Es sah so aus, als hätten sie sich daran gehalten. Byrne wollte es von ihr persönlich hören.
»Ging so«, sagte sie. »Ich wäre aber froh, wenn ich niemals mehr in meinem Leben ein Polizeirevier betreten müsste.«
»Diese andere Sache«, begann Byrne. Er bezog sich auf den Ladendiebstahl, bei dem Lucy erwischt worden war. »Ich habe mit dem Staatsanwalt und dem Inhaber des Geschäftes in der South Street gesprochen und die Sache aus der Welt geschafft. Es war nur ein großes Missverständnis.« Da Byrne sich eingeschaltet hatte, ehe es zu einer Anklage gekommen war, würde die Sache nicht aktenkundig werden.
»Danke«, sagte Lucy. Ihr Blick wanderte zu Byrne, über die Bank und die nähere Umgebung. »Wo ist Ihre Umhängetasche?«
»Ich trage sie nicht mehr.«
Lucy lächelte. »Haben Ihre Kollegen Sie damit aufgezogen?«
Byrne lachte. »Kann man so sagen.«
Sein Blick fiel auf den silbernen Anhänger an Lucys Kette. Es war ein kleines Herz.
»Hübsche Kette«, sagte er.
Lucy nahm das Herz in die Hand und zog es auf der Kette hin und her. »Danke. David hat es mir geschenkt.«
»David?«
»David Albrecht. Ich habe ihn im Krankenhaus besucht.«
Byrne schwieg.
»Wir waren ja irgendwie beide in die Sache verwickelt, nicht wahr?«, sagte Lucy, die das Gefühl hatte, es erklären zu müssen. »Er wird doch wieder gesund?«
»Die Ärzte sagen, es sieht gut aus.«
Lucy drückte den Anhänger an ihre Brust. »Er hat ein paar Angebote für seinen Film bekommen, wissen Sie.«
»Ich hab es gehört. Seid ihr jetzt zusammen?«
Lucy wurde rot. »Ich bitte Sie! Wir sind nur Freunde. Wir haben uns gerade erst kennengelernt.«
»Okay, okay.«
»Also wirklich.«
Zwei Mädchen von vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahren gingen in ihrer hübschen neuen Arbeitskleidung des Le Jardin an ihnen vorüber. Sie musterten Lucy voller Respekt.
Als sie verschwunden waren, sagte Lucy zu Byrne: »Das sind Neue.«
Sie schwiegen wieder. Die Herbstsonne wärmte ihre Gesichter.
»Was hast du jetzt vor, Lucy?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht fahre ich im Urlaub nach Hause. Vielleicht bleibe ich auch dort.«
»Wo bist du zu Hause?«
Lucy Doucette schaute auf das Hotel, die Sansom Street und dann zu Byrne. In diesem Augenblick sah sie zum ersten Mal, seit Byrne sie kannte, fast wie eine junge Dame und nicht wie ein kleines Mädchen aus.
»Weit, weit weg von hier«, sagte sie.