52.
Jessica sah zu den zahlreichen Polizisten, die mittlerweile auf dem Parkplatz gegenüber von Joseph Novaks Haus eingetroffen waren. Sie mussten nun mit den Ermittlungen an zwei Tatorten beginnen, dem Schauplatz des Mordes und dem Ort, an dem Jessica überfallen worden war. Mit einem Notizbuch in der Hand löste Nick Palladino sich aus der Menge. Er sprach kurz mit Dana Westbrook, und die beiden blickten immer wieder zu Jessica hinüber. Größtenteils sprach Dino, und Westbrook nickte meistens nur.
Nach dem Gespräch ging Dino auf Jessica zu und fragte sie, wie es ihr gehe. Jessica erwiderte, dass alles in Ordnung sei. Sie erkannte allerdings an Dinos Miene, dass noch mehr passiert sein musste.
»Was ist los?«, fragte sie ihn.
Dino erzählte es ihr. Jessica erfuhr, dass sie es nicht mit zwei, sondern mit drei Tatorten zu tun hatten.
Lucas Anthony Thompsons Leichnam wurde drei Blocks entfernt auf einem anderen Parkplatz gefunden. Sein Körper war nackt, vollständig rasiert und sein Kopf mit einem Papierstreifen umwickelt. Auch er schien erdrosselt worden zu sein. Auf einem Finger der rechten Hand klebte das kleine Tattoo eines Elefanten.
Sie brauchten nicht lange, um die Bedeutung des Tatorts zu erkennen.
Lucas Anthony Thompsons Leiche wurde auf dem Parkplatz abgelegt, wo Marcia Kimmelmans Leichnam aufgefunden worden war. Das passte zum Vorgehen ihres Serienmörders. Erneut hatte er einen Mörder am Ort dessen Verbrechens abgelegt.
Zwei Teams kümmerten sich bereits darum, ein wachsames Auge auf die Angehörigen von Thompson zu haben. Falls einer von ihnen ein Komplize von ihm war, konnte er das nächste Opfer werden.
Jessica sah, dass hinter dem Absperrband am Ende des Parkplatzes jemand stand, der bat, durchgelassen zu werden. Es war David Albrecht. Er wollte mit Jessica sprechen. Der Polizist hielt ihn auf und warf einen Blick über die Schulter.
»Lassen Sie ihn durch«, sagte Westbrook.
Ganz außer Atem rannte Albrecht auf sie zu.
»Was gibt’s?«, fragte Westbrook.
»Ich stand auf der anderen Straßenseite und wollte Außenaufnahmen von dem Gebäude drehen, als ich Detective Balzano aus dem Haus kommen sah.«
Albrecht hob einen Finger und rang nach Luft.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Westbrook. »Möchten Sie einen Schluck Wasser?«
Albrecht schüttelte den Kopf, holte tief Luft und fuhr fort. »Okay. Ich habe gesehen, dass Detective Balzano den Imbiss betrat, ein paar Minuten später mit einem Kaffee wieder herauskam und dorthin ging.« Er zeigte auf den Parkplatz, auf dem es nun von Kriminaltechnikern wimmelte. »Zuerst dachte ich, ich könnte hier keine guten Aufnahmen machen, verstehen Sie? Ein Parkplatz ist ein Parkplatz, nicht? Keine besonders aufregende Kulisse. Ich bin kein Robert Flaherty.«
Albrechts Blick wanderte zu Jessica und dann zu Dana Westbrook, als erwarte er eine Antwort oder eine Reaktion. Beides blieb aus, und daher fuhr er fort.
»Ich schaute mir jedenfalls die Bäume da hinten an, die den Parkplatz begrenzen, und diese halbhohe Mauer, die eine Art Horizont bildet. Und als Detective Balzano vor diesem Hintergrund auf und ab lief, fand ich, dass es ziemlich gut aussah.«
Er drehte sich um und zeigte auf seinen Transporter auf der anderen Straßenseite. »Ich befestigte die Kamera auf dem Stativ, schaute mir das Motiv an und fixierte es. Dann stieg ich ins Heck des Transporters, um einen Filter zu holen. Ich wollte einen Zirkular-Polarisationsfilter benutzen, weil die Aufnahmen keine starken Kontraste versprachen. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich ihn gefunden hatte, und als ich wieder hinter der Kamera stand, war Detective Balzano verschwunden. Es flogen nur ein paar Blätter durch die Luft. Ihr Wagen stand noch ein Stück weiter unten auf der Straße. Also musste sie noch in der Nähe sein. Ich ging davon aus, dass sie wieder in den Imbiss oder das Wohnhaus zurückgekehrt war, und dachte, ich hätte sie verpasst. Dann wanderte mein Blick zu dem Haus und … und ich sah sie dort am Boden liegen.« Albrecht stockte kurz.
»Und den Angreifer haben Sie nicht gesehen?«, fragte Westbrook.
»Nein, Ma’am. Ich habe ihn nicht gesehen. Jedenfalls nicht sofort.«
»Was soll das heißen?«
»Ich meine, ich habe ihn nicht mit eigenen Augen gesehen.«
Westbrooks Blick wanderte zu Jessica und dann zurück zu Albrecht. »Könnten Sie sich etwas konkreter ausdrücken?«
»Ich wusste nicht, dass die Kamera schon lief.«
»Was?«, fragte Westbrook, die allmählich ungeduldig wurde.
»Als ich die Kamera auf das Stativ gestellt habe, muss ich wohl auf den Auslöser gedrückt haben. Ehrlich gesagt muss ich mich noch an die Kamera gewöhnen. Sie ist nagelneu. Ich bin versehentlich an den Startknopf gekommen. Das ist mir ein bisschen peinlich, aber genau so war es.«
»Was sagen Sie da?«, fragte Jessica.
»Ich hab mir die Szene gerade angesehen, und ich glaube, wir haben ihn.«
»Wen?«
David Albrecht hielt die Kamera hoch. »Ich glaube, wir haben den Mörder auf Video.«