36.
An der Stelle, wo die I-95 unter der Benjamin Franklin Bridge entlanglief, befand sich seit langer Zeit ein Unterschlupf der Obdachlosen. Die Polizei sprach seit Jahren nur noch vom »Obdachlosen-Wohnpark«. Jessica parkte den Wagen, suchte ein Schlupfloch im Maschendrahtzaun und steuerte auf den Platz unter der Brücke zu. Ein paar Dutzend Menschen hatten sich dort eingefunden. Am Zaun türmten sich vollgestopfte Pappkartons und prall gefüllte Plastiktüten. In der Nähe stand ein Kindersportwagen mit drei Rädern. Tassen, Flaschen, Milchkartons, Fastfood-Abfälle. Natürlich keine Aludosen. Dosen waren Bargeld.
An der Nordseite des Camps hielten sich zehn oder zwölf Leute auf, größtenteils Männer. Als Jessica näher kam, hoben sie die Köpfe, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen, obwohl sie als Polizistin oder zumindest als Vertreterin des Systems zu erkennen war. Das hatte zwei Gründe. Erstens war Jessica eine Frau, und zweitens stürmte sie nicht mit gezogener Waffe in ihr Quartier, um sie von da zu vertreiben.
Es waren drei verschiedene Gruppen, und ein paar Männer hatten sich etwas abseits ein separates Plätzchen gesucht. Jessica näherte sich der ersten Gruppe und zeigte den Leuten die Fotos. Niemand gab zu, jemanden zu kennen. Bei der zweiten und dritten Gruppe verhielt es sich ebenso.
Als Jessica von der dritten Gruppe wegging, rief ein Mann ihr etwas hinterher. Jessica drehte sich um. Es war einer der älteren Männer. Er lag auf einer dicken Schicht Pappkartons.
»Sag mal, Schätzchen, warst du schon mal mit einem Obdachlosen zusammen?« Er grinste, wobei er seine zahlreichen Zahnlücken entblößte, und begann stark zu husten. Die beiden anderen Männer der Gruppe kicherten. »Das würde mit Sicherheit dein ganzes Leben verändern. Interesse?«
»Klar«, erwiderte Jessica. »Du brauchst nur zu duschen und dir einen Job zu suchen.«
Der Mann schaute sie schockiert an. Er kroch wieder unter seine Decke und drehte sich zur Seite. »You ain’t all that.«
Jessica lächelte, drehte noch eine Runde durch das Camp, stellte überall dieselben Fragen, ohne etwas zu erfahren. Der Letzte deutete auf einen Mann auf der anderen Seite des Geländes. Jessica hatte den gar nicht bemerkt. Als sie auf ihn zuging, sah sie, dass der Mann seinen Platz mit Müllsäcken abgegrenzt hatte und seine Beine mit einer offenbar neuen Wolldecke zugedeckt waren. Als Jessica vor ihm stand, fiel ihr Blick auf das Preisschild, das noch an der Decke hing.
Der Mann lehnte mit dem Oberkörper am Zaun und las in einem Taschenbuch. Das Cover fehlte, aber Jessica konnte den Titel auf dem Buchrücken lesen. Große Erwartungen.
»Verzeihung, Sir?«
Er hob den Blick. Es war ein Schwarzer zwischen fünfzig und siebzig. Er trug eine zerschlissene Cordjacke und ein vergilbtes Hemd. Seine Krawatte sah ebenfalls neu aus. Jessica fragte sich, ob an der Krawatte auch noch das Preisschild hing. Er hatte strahlende intelligente Augen.
»Madam.«
»Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Abraham Coltrane.«
Vielleicht stimmte der Vorname, aber bei dem Nachnamen war Jessica sich nicht so sicher. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« Jessica zeigte ihm ihren Dienstausweis. Der Mann warf einen Blick darauf.
»Kein Problem.«
Jessica zeigte ihm drei der Fotos. »Kennen Sie einen dieser Männer?«
Coltrane betrachtete die Bilder. »Nein. Sind das auch Müßiggänger, so wie ich?«
»Ja.«
Abraham Coltrane nickte. Jessica zeigte ihm das vierte Foto mit dem Mann, von dem sie annahmen, dass er in den Mord an Marcellus Palmer 2004 verwickelt war. Der Name des Mannes war Tyvander Alice. »Und den hier?«
Coltrane sah sich das Foto an. Diesmal bemerkte Jessica eine winzige Reaktion in seinen Augen. »Auch nicht. Tut mir leid.«
»Dieses Foto ist schon ein paar Jahre alt.«
»Ich erinnere mich an alle Menschen, die ich jemals kennengelernt habe, Madam.«
Jessica glaubte ihm, und deshalb glaubte sie ihm auch nicht, dass er Tyvander Alice nicht kannte. Sie zog einen Fünf-Dollar-Schein aus der Tasche und hielt ihn so in der Hand, dass der Mann ihn sehen konnte.
»Schöne Decke«, sagte sie.
»Sie erfüllt ihren Zweck.«
Jessica zog an dem Preisschild. »Haben Sie die Rechnung dafür, Mr. Coltrane?«
»Die Decke ist das Geschenk einer meiner vielen Verehrerinnen.«
»Jemand hat Ihnen eine Decke geschenkt, an der noch das Preisschild hängt?«
Coltrane zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, die jungen Leute sind mit den Sitten und Bräuchen nicht so recht vertraut.«
»Zum Glück ist das bei unseren Richtern anders«, sagte Jessica. »Die wissen genau Bescheid. Anklage, Gerichtsverfahren, Verurteilung, Gefängnis. Man kann sagen, es sind Verfechter der Tradition.«
Coltrane starrte sie an. Jetzt schien er bereit zu sein, ihr die Wahrheit zu sagen. »Kann ich das Foto noch mal sehen?«
»Natürlich.« Jessica zeigte es ihm. Coltrane rieb sich die Bartstoppeln und betrachtete es einen Augenblick.
»Nachdem ich nun Zeit hatte, noch mal in Ruhe darüber nachzudenken, glaube ich, dass ich diesen Gentleman schon mal getroffen habe.«
»Ist das Tyvander Alice?«
»Tyvander?«, fragte er. »Nein. Unter dem Namen kenne ich ihn nicht. Ich kenne ihn als Hoochie.«
»Hoochie?«
»Ja. Ein bedauerlicher, würdeloser Spitzname, den er seiner Liebe zu billigem Wein zu verdanken hat, glaube ich.«
Jessica reichte Coltrane die fünf Dollar. Er drückte den Schein auf die Stirn, schnupperte daran und steckte ihn schnell unter die Decke.
Jessica wollte Coltrane gerade noch weitere Fragen stellen, als die Decke sich plötzlich bewegte. Ein paar Sekunden später streckte ein Jack Russel Terrier seine Schnauze heraus. Seine graue Schnauze. Der Hund blinzelte mit den Augen, um sich an das helle Licht zu gewöhnen.
»Und wer ist das?«, fragte Jessica.
»Das ist der böse Biscuit. Mein ältester Freund.« Coltrane strich dem Hund über den Kopf. Als der Hund mit dem Schwanz wedelte, bewegte sich die Decke mit. »Gibt es etwas Besseres auf der Welt als einen warmen Biscuit?«
Jessica dachte nach. Ihr fiel nichts ein. Es gab Dinge, die ebenso gut waren, aber nicht besser. Okay, es wurde Zeit, auf das eigentliche Thema zurückzukommen. »Wissen Sie, wo ich Hoochie finden könnte?«
Coltrane zuckte mit den Schultern. »I wander’d lonely as a cloud that floats on high o’er vales and hills.«
Jessica runzelte die Stirn und wartete auf weitere Informationen, doch es folgten keine. »Bon Jovi?«
Coltrane lächelte. »Wordsworth.«
Mit anderen Worten, die Antwort lautete Nein. Bei Obdachlosen wusste man nie genau, wo sie sich aufhielten. Jessica zog das Foto von Marcellus Palmer aus der Tasche, des Opfers, das 2004 Ecke Zweite und Poplar gefunden wurde. »Kennen Sie diesen Mann?«
»Oh, ja«, sagte Coltrane. »Marcellus. Wir haben so manche Flasche gemeinsam geleert. Aber das ist eine Ewigkeit her.«
»Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?«
Coltrane nickte mit trauriger Miene. »Ich habe gehört, dass es mit ihm ein schlimmes Ende genommen hat. Die Stadt hat ihn beerdigt.«
»Wissen Sie, wo?«
Coltrane schaute auf die Uferböschung. Einen Augenblick lang hörten sie nur die Autos über ihren Köpfen. »Ich wusste es mal. Die Erinnerung scheint an den Rand meines Gedächtnisses verdrängt worden zu sein.«
Jessica zog noch einen Fünf-Dollar-Schein aus der Tasche. »Meinen Sie, Sie können die Erinnerung wieder aufs Parkett locken?«
»Ich glaub schon«, sagte er und kassierte den Schein ein. »Oben in Parkwood, glaube ich.«
Jessicas Handy klingelte. Sie schaute aufs Display. Es war Byrne.
»Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Mr. Coltrane.«
»Ich bin immer gerne bereit zu helfen.«
Jessica trat zur Seite und meldete sich.
»Wo bist du?«
»Noch in West Philly.«
Jessica erzählte ihm, was sie von Abraham Coltrane erfahren hatte. Byrne informierte sie über das, was sie noch nicht wusste. Zwei der anderen Obdachlosen, die in Zusammenhang mit dem Mord an Marcellus Palmer damals befragt wurden, waren tot. Der dritte Mann war seit langem verschwunden. Jemand hatte jemandem erzählt, dass der Freund von jemandem wiederum jemandem erzählt hatte, dass er in Florida sei. Informationen aus dritter Hand brachten sie keinen Schritt weiter.
Als sie sich im Roundhouse trafen, überprüfte Jessica auf einem Plan, wo in der Stadt es überall Friedhöfe gab.
In Parkwood gab es keinen Friedhof.