19.
Der Mount Olive war ein alter Friedhof im Westen der Stadt, auf dem Hunderte von Toten des Amerikanischen Bürgerkrieges sowie einige der namhaftesten und schändlichsten Bürger Philadelphias ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Wie auch andere Bereiche der Stadt der Brüderlichen Liebe, etwa der Benjamin Franklin Parkway, der den Champs-Élysées ähnelte, war der idyllische Friedhof einem Pariser Vorbild nachempfunden.
An drei Seiten grenzte der Mount Olive an Wohngebiete und im Nordwesten an den Fairmount Park. Er wurde Mitte des achtzehnten Jahrhunderts angelegt, war kein konfessioneller Friedhof und hatte einst eine Größe von über hundertfünfzig Hektar. Er war entstanden, als ältere, kleinere, innerstädtische Friedhöfe, die mitten in Wohnvierteln und neben Kirchen lagen, der Entwicklung Philadelphias weichen mussten. Im Laufe vieler Jahre hatte man zahlreiche Gräber zum Mount Olive verlegt. Der Friedhof stand auf den Listen der historischen Stätten des Landes wie Philadelphias. Dennoch blieb er nicht von Vandalismus und Diebstahl verschont. Es kam sogar vor, dass die Leute hier ihren Müll abluden. Da viele Familien der Verstorbenen inzwischen in anderen Städten wohnten, waren einige Ecken des Friedhofs vom Verfall bedroht.
Jessica und Byrne standen auf der Kingsessing Avenue. Zwei Streifenwagen, ein Sedan der Mordkommission sowie ein Van der Spurensicherung waren bereits vor Ort.
Ein zweites Team fuhr in diesem Augenblick zu dem anderen Tatort. Die zweite Leiche war auf einem Parkplatz in Northern Liberties gefunden worden. Nicci Malone leitete die Ermittlungen in diesem Fall. Dana Westbrook würde Jessica und Byrne telefonisch auf dem Laufenden halten.
David Albrecht tauchte hinter einer Baumgruppe am nördlichen Ende des Friedhofs auf. Er hob sich die Kamera auf die Schulter und machte Aufnahmen von dem Friedhof, dem Mausoleum und den Polizisten. Nach ein paar Minuten ging er auf Jessica und Byrne zu.
»Ich hätte Sie vorher fragen müssen«, sagte er. »Ist es okay, wenn ich hier filme?«
»Warum nicht?«, erwiderte Jessica. »Sie müssen sich nur zurückhalten, bis die Kriminaltechniker ihre Arbeit gemacht haben.«
»Ich möchte nicht, dass Sie meinen, ich würde mich den Toten gegenüber respektlos verhalten.«
»Ich glaube, es ist okay.«
Albrechts Blick wanderte über den Friedhof. Er zeigte auf einen kleinen Grabstein aus Georgia-Graugranit. »Das ist das Grab meines Vaters. Ich war schon lange nicht mehr hier«, sagte er und zuckte – vielleicht ein wenig reumütig – mit den Schultern. »Ich sollte das Grab mal wieder besuchen.«
Die drei schwiegen einen kurzen Moment. Schließlich brach Byrne die Stille. »Wir werden noch eine ganze Weile hier sein, David. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
»Okay. Danke.«
Albrecht hängte sich die Kamera über die Schulter und ging zu dem Grab hinüber. Er bekreuzigte sich und senkte den Kopf.
Jessica sah sich um. Ein Stück entfernt stand Josh Bontrager und sprach mit einem Mann. Jessica nahm an, dass es ein Friedhofsangestellter war. Nach dem Gespräch winkte Bontrager Jessica und Byrne zu sich.
»Was haben wir?«, fragte Byrne.
»Das Opfer ist eine Frau«, sagte Bontrager und deutete über die Schulter nach hinten. Jessica sah in etwa zwanzig Metern Entfernung das weiße Tuch, das die Leiche bedeckte. Daneben stand ein Kollege von der Spurensicherung. Weil es sich bei dem möglichen Tatort um ein riesiges Gebiet handelte, hatten sie rings um die Leiche einen großen Bereich mit Flatterband abgesperrt. Das Tuch auf der Leiche war mit Heringen im Boden befestigt.
»Wissen wir, wie lange die Leiche schon da liegt?«, fragte Byrne.
»Noch nicht allzu lange.« Bontrager zog sein Notizbuch aus der Tasche. »Heute findet hier eine Beerdigung statt. Ein Friedhofsangestellter hat heute Morgen das Grab ausgehoben und dabei die Leiche gegen sechs Uhr entdeckt. Er sagt, dass er gestern Nachmittag an der Grabstelle war und nichts gesehen hat. Die Leiche muss also zwischen gestern Nachmittag vier Uhr und heute Morgen sechs Uhr hier abgelegt worden sein.«
Byrne schaute auf den Zaun. »Kann man den Friedhof jederzeit betreten?«
»Im Grunde schon«, erwiderte Bontrager. Er zeigte auf den Teil des Friedhofs, der an den beiden Hauptverkehrsstraßen lag. »Ich bin um den halben Friedhof herumgelaufen, als ich hier ankam. Es gibt viele Stellen, an denen man den Friedhof betreten kann, ohne gesehen zu werden. Überall stehen Bäume, die die Sicht versperren.«
»Hat der Friedhofsangestellte irgendetwas verändert oder angefasst?«
»Er sagt, nein. Wie ihr euch vorstellen könnt, war der Anblick der Leiche kein großer Schock für ihn. Trotzdem ist es etwas anderes, wenn man hier plötzlich ein Mordopfer findet. Als er die Leiche gesehen hat, hat er sich eine Zigarette angesteckt, einen Schluck Tequila aus seiner kleinen Flasche getrunken – was natürlich verboten ist – und seinen Boss angerufen.«
»Hat er den Ort nach dem Telefonat verlassen?«
»Er sagt, nein, und ich glaube ihm.«
»Liegt die Leiche in der Nähe einer Grabstelle?«, fragte Jessica.
»Direkt auf einem Grab.«
»Gibt es Hinweise auf die Identität des Opfers?«
»Nein. Bis jetzt haben wir jedenfalls nichts gefunden. Ich habe das ganze Gebiet ringsum aber noch nicht abgesucht.«
Byrne schaute sich noch einmal um. »Ist es derselbe Täter, Josh?«
»Oh ja. Das ist unser Täter. Daran besteht kein Zweifel.«
»Okay«, sagte Byrne. »Dann wollen wir uns die Leiche mal ansehen.«
Die drei gingen einen schmalen, mit Unkraut überwucherten Pfad zwischen den Grabsteinen entlang, die aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stammten. Etwa jedes zehnte Grab konnte man noch als einigermaßen gepflegt bezeichnen. Einige zierten sogar Plastikblumen. Die meisten Gräber waren jedoch furchtbar verwahrlost.
Auf der Anhöhe warf Jessica einen Blick über die Schulter. Allmählich wimmelte es hier von Polizisten. Ein halbes Dutzend Kollegen und auch Vertreter der Bezirksstaatsanwaltschaft waren eingetroffen. Die Tatsache, dass die Bezirksstaatsanwaltschaft anwesend war, verriet den Detectives, dass diesen Morden höchste Priorität eingeräumt wurde.
Die drei Detectives standen am Fundort. Josh Bontragers Blick wanderte zu Jessica und dann zu Byrne. Er kniete sich neben die Leiche. Jessica nickte. Bontrager hob das Tuch hoch.
»O mein Gott!«, murmelte Byrne. Der Anblick der Leiche erschütterte sie alle.
Wie das erste Opfer war die Frau mittleren Alters nackt, und auch hier hatte jemand die gesamte Körper-und Kopfbehaarung abrasiert. Jessica fielen sofort die blauen Striemen an den Fußknöcheln auf. Der Mörder hatte sie gefesselt.
Um den Kopf dieser Leiche war wie bei Kenneth Beckman ein Papierstreifen gewickelt, und auf den beiden Enden, die sich überlappten, klebte rotes Wachs. Die Wunden ähnelten sich stark: ein gerader Schnitt auf der Stirn, darunter etwas weiter links ein runder Blutfleck und neben dem rechten Ohr die mit Blut gemalte Zahl Acht.
Das waren die Gemeinsamkeiten zwischen dieser Leiche und der von Kenneth Beckman, aber es gab auch einen Unterschied. Diese Leiche lag mit einem Bein über dem niedrigen Grabstein auf der Seite neben der Grabstätte. Das linke Bein war in einem unnatürlichen Winkel vollständig abgewinkelt. Jessica sah den Knochen, der aus dem Oberschenkel herausragte.
»Ist der Rechtsmediziner schon da?«, fragte Jessica.
»Noch nicht.«
»Wurden Fotos gemacht?«
Bontrager nickte und zeigte auf den Kriminaltechniker, der an einem Baum in der Nähe lehnte und eine Zigarette rauchte. »Auch Videoaufnahmen.«
Jessica schaute auf den Grabstein. Das rechte Bein des Opfers lag auf dem Stein, der zur Hälfte mit Kieselsteinen und Unkraut bedeckt war. Der Fuß lag genau in der Mitte.
»Kevin. Hilf mir mal bitte.«
Die beiden Detectives streiften Latexhandschuhe über und knieten sich jeweils auf einer Seite der Leiche auf den Boden. Vorsichtig hoben sie das rechte Bein des Opfers ein paar Zentimeter hoch, achteten jedoch darauf, keine Spuren zu verwischen, und legten das Bein dann wieder ab. Der Grabstein sah nicht annähernd so alt aus wie die anderen ringsum, fast als wäre er erst vor ein paar Jahren aufgestellt worden. Er war ein wenig in den Boden eingesunken und die Inschrift mit Erde bedeckt.
Byrne winkte den Kriminaltechniker herbei. Dieser warf die Zigarette weg, kam zu ihnen und schoss noch ein paar Fotos. Als er fertig war, nahm Byrne sein Taschenmesser heraus und kratzte die Erde weg. Als Erstes kam ein Symbol zum Vorschein, das Jessica nicht kannte. Es schien kein katholisches oder christliches Symbol zu sein, wie zum Beispiel betende Hände, ein Engel oder ein Kreuz. Als sie die Erde noch weiter abtrugen, glaubte Jessica, eine Blume, eine rote Blume mit schmalen Blütenblättern zu erkennen.
Byrne fegte den Rest der Erde mit den Händen weg. Wie sich nun herausstellte handelte es sich nicht um eine Blume, sondern vielmehr um ein chinesisches Schriftzeichen. Es folgten noch drei weitere Schriftzeichen in Rot, die jeweils untereinander standen.
Als der untere Teil des Steins ein paar Minuten später vollständig von Erde befreit war, sahen sie das, was sie gesucht hatten. Die Person, die hier begraben lag, war am 21. März 2002 gestorben.
Sie hieß Antoinette Chan.
Jessica und Byrne wechselten einen Blick. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Auf der anderen Seite der Stadt hatten sie einen ermordeten Mann gefunden, dessen Kopf mit einem weißen Papierstreifen umwickelt war. Der Mann hieß Kenneth Beckman. Hier im Westen von Philadelphia fanden sie nun eine zweite Leiche – ebenfalls mit einem weißen Papierstreifen um den Kopf, der Augen und Stirn verhüllte. Dieses Opfer, dessen Namen sie noch nicht kannten, lag auf dem Grab einer jungen Frau, die gleichfalls ermordet worden war.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Kenneth Beckman.
»Wir müssen uns ihre Hände ansehen«, sagte Byrne.
Er hob die rechte Hand des Opfers hoch und untersuchte sie. Nichts. Dann ging er um die Leiche herum und hob vorsichtig deren linke Hand hoch. Auf dem Zeigefinger war ein kleines Tattoo, aber dieses Mal kein Löwe, sondern ein Hahn.
Jessica machte ein paar Fotos. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie sah zu Byrne hinüber. Seine Miene sprach Bände. Jessica kannte ihn gut und wusste, dass er seine Wut kaum zügeln konnte.
Byrne hockte sich neben die Leiche und schickte sich an, das Papier vom Kopf des Opfers zu entfernen.
»Kevin, der Rechtsmediziner ist unterwegs«, sagte Jessica. »Du solltest damit noch warten.«
»Ja, ich sollte auch mit den Corr Sisters auf Cozumel leben«, erwiderte Byrne. »Beides wird nicht passieren.«
Behutsam löste er das Wachssiegel von dem Papier ab, warf es in einen kleinen Asservatenbeutel und wickelte dann den Papierstreifen vom Kopf des Mordopfers. Als Erstes fiel Jessica auf, dass sich der Schnitt auf der Stirn und die Stichwunde fast an denselben Stellen befanden wie beim ersten Opfer.
Erst dann realisierte Jessica, dass die tote Frau Sharon Beckman war.