6.

MONTAG, 25. OKTOBER

Das Joggen am frühen Morgen durch den Pennypack Park war ein heiliges Ritual geworden, das Jessica nicht gerne aufgab. Die Menschen, die sie allmorgendlich sah, waren nicht nur Teil der Landschaft, sondern auch Teil ihres Lebens.

Die im 1960er-Pillbox-Stil immer tadellos gekleidete, ältere Frau, die ihre vier Jack Russell Terrier jeden Morgen ausführte. Die Hunde besaßen eine Garderobe, die teurer und exakter der Jahreszeit angepasst war als Jessicas. Die Tai-Chi-Gruppe, die bei Wind und Wetter ihre morgendlichen Übungen auf dem Baseballfeld in der Nähe der Holme Avenue machte. Dann ihre Laufbekanntschaften, die beiden Russen, Halbbrüder, die beide Iwan hießen. Sie waren schon in den Sechzigern, aber unglaublich fit. Da sie im Sommer beide in lindgrünen Badehosen joggten, wusste Jessica auch, dass sie eine furchtbar starke Körperbehaarung hatten. Für Halbbrüder sahen sie sich verdammt ähnlich. Manchmal konnte Jessica sie kaum unterscheiden, aber das war auch nicht so wichtig. Wenn sie einem der beiden begegnete, sagte sie immer: »Guten Morgen, Iwan«, worauf dieser ihr ein freundliches Lächeln schenkte.

Auch nach dem Umzug der Familie nach South Philly würde es ein paar Orte geben, an denen Jessica joggen konnte. Es würde aber eine Weile dauern, bis sie dort genauso sorglos laufen konnte wie hier.

In diesem Park, wo sie ihre Strecke und die Wege in-und auswendig kannte, konnte sie in Ruhe nachdenken und sich über manches Klarheit verschaffen. Das würde sie am meisten vermissen.

Als Jessica der Biegung folgte und den Hang hinauflief, dachte sie an Marcia Kimmelman und das, was Thompson ihr angetan hatte. Sie dachte an Lucas Anthony Thompson und seinen ungläubigen Blick, als sich die Handschellen um seine Handgelenke schlossen und er begriff, dass es vorbei war. Besonders schön war der Augenblick, als sie ihn mit Dreck und Kies in Gesicht und Klamotten vom Boden hochrissen. Jessica musste zugeben, dass ihr die Nummer mit dem dreckigen Gesicht immer gut gefiel. Schlamm war noch besser, aber da musste das Wetter mitspielen.

Mit diesem tröstlichen Bild vor Augen bog sie in ihre Straße ein und sah jemanden am Ende der Einfahrt stehen. Einen Mann im dunklen Anzug. Dennis Stansfield.

Im ersten Augenblick war Jessica ein wenig beunruhigt, doch dann stieg Verärgerung in ihr auf. Was zum Teufel machte dieser Idiot vor ihrem Haus?

Auf den letzten dreißig Metern verlangsamte sie ihre Schritte und rang nach Luft. Sie lief auf den Mann zu, der zu begreifen schien, dass er hier fehl am Platz war.

»Detective«, sagte Jessica, die sich plötzlich ihrer Aufmachung bewusst wurde. Sie trug eine weite Jogginghose und ein enges Oberteil mit einem Sport-BH darunter. Als sie ins Schwitzen geraten war, hatte sie ihr Fleece-Kapuzenshirt ausgezogen und um die Hüfte gebunden. Stansfields Blick glitt über ihren Körper, ehe er ihr in die Augen sah. Jessica schnappte noch einmal nach Luft und starrte ihn ungerührt an. Stansfield wandte den Blick als Erster ab.

»Guten Morgen«, sagte er.

Jessica hätte ihr Kapuzenshirt jetzt wieder anziehen und den Reißverschluss bis oben zuziehen können, doch dann hätte Stansfield geglaubt, sie hätte ein Problem. Sie hatte kein Problem. Keineswegs. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Was gibt’s?«

Stansfield wandte ihr wieder den Blick zu. Offenbar kostete es ihn einige Mühe, ihr ins Gesicht zu sehen. »Der Boss hat gesagt, dass Detective Burns heute wahrscheinlich nicht zur Arbeit kommt und dass ich, falls es Ihnen recht ist …«

»Byrne«, sagte Jessica. »Sein Name ist Kevin Byrne.« Jessica fragte sich, ob Stansfield es darauf anlegte, sie auf die Palme zu bringen, oder ob er es wirklich nicht wusste. Beides war möglich. Kevin war nicht Superman, aber er genoss in der Abteilung, wenn nicht sogar im ganzen Department, einen guten Ruf. Jessica und Byrne hatten in den letzten Jahren in einigen stark im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Fällen gemeinsam ermittelt. Wenn man nicht gerade ein blutiger Anfänger war, musste man ihn kennen. Außerdem versuchte Byrne gerade, das, was Stansfield angerichtet hatte, auszubügeln, und das konnte dem guten Mann unmöglich entgangen sein.

»Byrne«, korrigierte Stansfield sich. »Tut mir leid. Der Boss meinte, dass er heute noch länger am Gericht zu tun haben könnte und dass ich solange mit Ihnen zusammenarbeiten soll. Zumindest bis Detective Byrne zurückkommt.« Er scharrte mit den Füßen. »Wenn es Ihnen recht ist.«

Jessica erinnerte sich nicht, diesbezüglich jemals nach ihrer Meinung gefragt worden zu sein. »Haben Sie die schriftliche Bestätigung?«

Stansfield griff in seine Anzugjacke, zog das Formular heraus und zeigte es ihr.

Jessica schaute aufs Haus. Am Schlafzimmerfenster stand jemand und zog die Gardine ein winziges Stück zur Seite. Auch wenn Jessica Polizistin war, gingen bei Vincent alle Alarmsirenen an, sobald er sah, dass sie vor dem Haus mit jemandem sprach, den er nicht kannte. Die Zahl der getöteten Polizisten war in den letzten Jahren stark in die Höhe geschossen, und Jessica wie Vincent waren ständig auf der Hut. Heutzutage trug sie sogar eine Waffe bei sich, wenn sie joggen ging. In diesem Augenblick steckte eine süße kleine Browning.25 hinten unter ihrem Hosenbund.

Jessica nickte fast unmerklich, worauf Vincent ein paar Sekunden später die Gardine zuzog. Sie wandte sich wieder Stansfield zu.

»Wenn’s sein muss, Detective«, sagte Jessica. »Dann arbeiten wir eben zusammen.«

Stansfields verzerrtes, aufgesetztes Lächeln bewies, wie sehr ihn ihre unfreundliche Antwort enttäuschte. »Das freut mich«, sagte er. »Wir haben nämlich einen Fall.«

Wir, dachte Jessica. Ein großes Vergnügen würde das mit Sicherheit nicht werden. Jessica wusste, dass sie im Dienstplan an erster Stelle stand und den nächsten Mordfall übernehmen musste. Wenn man einen neuen Fall hatte, rückte man ans Ende der Liste, bearbeitete den Fall und rückte langsam wieder an die Spitze vor. Wenn man erneut an erster Stelle stand, musste man den nächsten Fall übernehmen. Dabei spielte es keine Rolle, an wie vielen laufenden Ermittlungen man noch arbeitete. Es kam selten vor, dass jemand alle Fälle abgeschlossen hatte, wenn der nächste Mord auf dem Tisch lag.

»Okay«, sagte Jessica. »Ich dusche schnell. In zehn Minuten bin ich wieder da.«

Stansfields Gedanken standen ihm ins Gesicht geschrieben. Erstens die Vorstellung, dass Jessica duschen wollte. Und zweitens, dass sie ihn nicht ins Haus bat.

Der Tatort befand sich am nördlichen Ende von Pennsport im Süden von Philadelphia. Dieses typische Arbeiterviertel lag zwischen dem Passyunk Square im Westen, dem Delaware River im Osten, Queen Village im Norden und Whitman im Süden.

Pennsport gehörte zu den ältesten Vierteln der Stadt, und die Entwicklung neuer Projekte ging nur schleppend voran. Einige Häuser stammten noch aus dem Jahr 1815. Es konnte gut sein, dass hier neue Reihenhäuser neben alten Häusern entstanden, die noch aus der Zeit stammten, als James Madison Präsident der Vereinigten Staaten war.

Als Jessica und Stansfield am Tatort anhielten – ein mit Brettern vernageltes Geschäft nahe der Kreuzung Fifth und Federal Street –, parkte bereits ein Streifenwagen schräg gegenüber. Sowohl die Federal als auch die Fifth waren Einbahnstraßen, und an beiden Einmündungen der nächsten Querstraßen standen zwei Streifenbeamte und leiteten den Verkehr um. Die Kriminaltechnik war noch nicht eingetroffen und der Tatort daher nicht mit Flatterband abgesperrt. Budgetkürzungen zwangen die Stadt, Neueinstellungen drastisch zu reduzieren und die Anschaffung von neuem Material zu verschieben. Heutzutage kam es tatsächlich vor, dass die Kriminaltechniker erst nach zwei Stunden oder noch später am Tatort ankamen.

David Albrecht hingegen war bereits da.

»Morgen!«, rief er von der gegenüberliegenden Straßenseite herüber.

Großartig, dachte Jessica. Noch ein Morgenmensch. Ihr Mann und Sophie waren auch Morgenmenschen. Alle Leute in ihrer Umgebung schienen Morgenmenschen zu sein. Außer Byrne. Das war einer der Gründe, warum ihre Zusammenarbeit so gut klappte. Meistens knurrten sie sich beide bis zur Mittagszeit nur an.

Jessica winkte David Albrecht zu, der sofort seine Kamera hob und die Geste filmte. Dann wanderte Jessicas Blick zu Dennis Stansfield. Als dieser bemerkte, dass er gefilmt wurde, knöpfte er sein Jackett zu, zog den Bauch ein und warf sich in Pose.

Sie unterschrieben das Tatortprotokoll. Der Streifenbeamte deutete in die Gasse.

»Drinnen oder draußen?«, fragte Jessica.

»Im Haus«, erwiderte er. »Im Keller.«

Der Tatort war über den Hintereingang eines mittlerweile geschlossenen Schuhgeschäftes namens All Soles erreichbar. Eine Treppe führte hinunter in den Keller und zu einer Tür. Durch diese Tür hatten die verschiedenen ehemaligen Einzelhandelsgeschäfte ihre Lieferungen erhalten. Auf dem kleinen Hof hinter dem Geschäft lagen überall Fastfood-Abfälle und ausrangierte Reifen herum. Es handelte sich um die Art städtischen Müll, den die Leute achtlos irgendwohin warfen, weil sie zu bequem waren, das Zeug in die Müllcontainer zu schaffen, die nur ein paar Meter entfernt standen.

Jessica und Stansfield blieben vor der Treppe stehen. Ein Eisengeländer führte hinunter. Jessica nahm sich gerade vor, die Kriminaltechniker zu bitten, das Geländer auf Fingerabdrücke zu untersuchen, als Stansfield eine Hand darauflegte und sich in die Brust warf, sodass alle mittlerweile versammelten Kollegen seine goldene Dienstmarke sehen konnten.

Jessica räusperte sich. »Detective?«

Stansfield hob den Blick. Jessica zeigte auf seine Hand. Stansfield begriff, dass er möglicherweise Spuren verwischte, und zog die Hand blitzschnell zurück, als hätte er auf eine heiße Herdplatte gefasst.

Jessica wandte ihre Aufmerksamkeit dem Eingang zum Tatort und den vier Stufen zu.

Ihr Blick glitt über den Bereich in unmittelbarer Nähe. Sie sah keine Blutspuren. Die Tür war einen kleinen Spalt geöffnet. Jessica stieg die Treppe hinunter, stieß die Tür auf und spürte, dass Stansfield ihr auf den Fersen folgte. Sein Aftershave verursachte ihr Übelkeit. Doch gleich würde sie es zu schätzen wissen.

»Verdammt«, rief Stansfield.

Das Alter des Opfers konnten sie nicht bestimmen, denn das Gesicht des weißen Mannes war zum Teil verdeckt. Er lag in der Mitte des kleinen, dreckigen Lagerraumes zwischen Kartons, Plastikeimern und Holzpaletten. Jessica sah sofort die bläulichen Striemen an den Hand-und Fußgelenken des Opfers, die vermutlich von Fesseln stammten. In diesem Raum gab es keine Blutspuren, und nichts wies auf einen Kampf hin.

Zwei Dinge fielen Jessica besonders ins Auge. Die Stirn und die Augen des Opfers waren mit zehn bis zwölf Zentimeter breitem weißem Papier umwickelt. Über den oberen Teil des Streifens zog sich ein bräunlicher Strich, eine gerade Linie, die offenbar aus getrocknetem Blut bestand. Darunter befand sich ein etwa zwei Zentimeter breiter Fleck, der eine fast perfekt ovale Form hatte. Das Papier überlappte sich auf der linken Seite des Kopfes. Es schien mit rotem Siegelwachs zusammengeklebt worden zu sein. Ein Fleck aus verschmiertem Blut auf der rechten Seite sah beinahe aus wie die Zahl Acht.

Noch schlimmer fand sie, dass das Opfer vollkommen nackt und von Kopf bis Fuß sauber rasiert war. Die Scham-und Brusthaare waren ebenso entfernt worden wie die gesamte Körperbehaarung an Armen und Beinen. Die aufgescheuerte und zum Teil abgeschürfte Haut des Opfers wies darauf hin, dass die Rasur ziemlich brutal durchgeführt worden sein musste, vielleicht am Vortag. Es schien nichts nachgewachsen zu sein.

Jessica brauchte einen Augenblick, um den grotesken Anblick zu verdauen. Sie hatte schon einiges gesehen, aber so etwas noch nie. Mit einem Mord waren zahlreiche Demütigungen verbunden. Doch die letzte Entwürdigung, irgendwo nackt abgelegt zu werden, machte es noch schlimmer. Es war eine Botschaft des Mörders an den Rest der Welt, dass die Demütigung eines gewaltsamen Todes nicht das letzte Wort war. Meistens starb man in diesem Leben nicht einfach, sondern man wurde tot aufgefunden.

Instinktiv übernahm Jessica die Führung, und das hatte nichts mit Pflichtgefühl zu tun. In diesem Job bewegte sie sich in einer Männerwelt, und je eher man in die Ecke pinkelte, desto besser. Sie hatte das Image einer blöden Tusse längst abgelegt und den Jungs gezeigt, was sie draufhatte.

Stansfield räusperte sich. »Äh, ich befrage die Anwohner«, sagte er und haute schnell ab.

Es gab Detectives, denen der Gedanke, in Mordfällen zu ermitteln, ausgezeichnet gefiel – Ansehen, gute Bezahlung, das Prestige, zu einer Gruppe Auserwählter zu gehören. Sich an einem Tatort aufzuhalten, das war für sie hingegen unerträglich. Anscheinend gehörte Stansfield ebenfalls zu dieser Gruppe. Auch gut, dachte Jessica.

Sie kniete sich neben das Opfer, legte zwei Finger auf dessen Hals und überprüfte den Puls. Der Mann war definitiv tot. Sie untersuchte die Vorderseite des Opfers auf Eintritts-oder Austrittswunden. Keine Löcher, kein Blut.

Sie hörte draußen Stimmen. Als sie den Blick hob, stieg Tom Weyrich gerade mit der Tasche in der Hand die Treppe herunter. Sein Fotograf folgte ihm. Weyrich blickte auf fast zwanzig Jahre Erfahrung als Rechtsmediziner zurück.

»Schönen guten Morgen, Tom.«

Weyrich war Anfang fünfzig. Der Rechtsmediziner verfügte über einen trockenen Humor und stand im Ruf, gründlich und sorgfältig zu arbeiten. Jessica hatte ihn vor fünf Jahren als sehr gepflegten, klassisch gekleideten Mann kennengelernt. Jetzt war sein Schnurrbart schief geschnitten, und er hatte rote, müde Augen. Weyrichs Frau war nach langem Kampf gegen den Krebs vor kurzem gestorben. Der Tod seiner Frau setzte Tom Weyrich arg zu, und sein Leben geriet vollkommen aus der Spur. Weyrich trug zwar eine gebügelte Hose, aber das Hemd sah aus, als hätte er darin geschlafen.

»Ich hatte diesen Doppelmord oben in Torresdale«, sagte Weyrich und fuhr sich übers Gesicht, um die Erschöpfung zu vertreiben. »Ich bin erst vor zwei Stunden da rausgekommen.«

»Keine Ruhe für die Rechtschaffenen.«

»Ja, immer dasselbe.«

Als Weyrich in den Kellerraum trat, sah er die Leiche. »Ach du liebe Güte!« Ein Tier huschte unter dem Müll und den zerrissenen Pappkartons hindurch. »Ich wünsche mir die guten, alten Hinrichtungsmethoden zurück. Zwei Schüsse in den Hinterkopf. Ich hätte nie gedacht, dass ich die Drogenkriege einmal vermissen würde.«

»Ja«, sagte Jessica. »Die guten, alten Zeiten.«

Weyrich stopfte die Krawatte unters Hemd und knöpfte sein Jackett zu. Dann streifte er Latexhandschuhe über und begann mit der Arbeit. Jessica beobachtete ihn und fragte sich, wie oft er wohl schon seine Hände auf das kalte Fleisch eines Toten gelegt hatte. Sie fragte sich auch, was es wohl für einen Mann, der sich noch stärker als andere danach sehnte, die warme Haut eines Lebenden zu spüren, für ein Gefühl war, jetzt alleine schlafen zu müssen. Als Jessica und Vincent vor ein paar Jahren eine Weile getrennt waren, hatte sie am stärksten den Hautkontakt zu ihrem Mann vermisst, die täglichen Berührungen und Umarmungen.

Jessica ging hinaus und wartete. Auf der anderen Straßenseite stand David Albrecht und filmte das Gebäude. Hinter ihm sah sie seinen glänzenden neuen Transporter, auf dessen Seite eine Web-Adresse aufgemalt war und offenbar auch der Titel seines Films.

In Kürze: AREA 5292

Clever. Es schien sich um eine Anspielung auf Area 51 zu handeln, ein militärisches Sperrgebiet im Süden von Nevada, das Gegenstand vieler UFO-Verschwörungstheorien war. 5292 lautete der Fachjargon der Polizei in Philadelphia für eine Leiche.

Fünfzehn Minuten später kam Tom Weyrich heraus.

»Jetzt kommt meine ganze Erfahrung zum Tragen«, begann er. »Ich würde sagen, es handelt sich um einen Toten.«

»Ich hätte eine bessere Schule besuchen sollen«, erwiderte Jessica. »Die Todesursache?«

»Bevor wir den Kopf nicht ausgewickelt haben, kann ich nicht einmal Mutmaßungen anstellen.«

»Sind Sie so weit?«

»Aber sicher.«

Sie kehrten in den Lagerraum zurück. Jessica streifte Latexhandschuhe über, die neuerdings lila waren. Dann knieten sie sich beide jeweils an einer Seite des Opfers auf den Boden.

Der Papierstreifen war mit einem kleinen, leuchtend roten Klecks Siegelwachs befestigt. Das Beweisstück zu entfernen, ohne es zu beschädigen, würde schwierig sein.

Jessica nahm ihr Messer heraus – ein zehn Zentimeter langes, gezacktes Gerber, das immer in einer kleinen Scheide am Fußknöchel steckte, wenn sie eine Jeans trug. Sie schob es unter das harte Wachsstück und versuchte, es vorsichtig abzulösen. Zuerst sah es so aus, als würde es zerbrechen, doch sie hatte Glück. Es gelang ihr, das Beweisstück abzuheben, ohne es zu beschädigen. Jessica legte es in einen Asservatenbeutel. Anschließend fassten sie beide eine Seite des Papierstreifens an und zogen ihn vom Kopf des Toten.

Eine Horrormaske starrte ihnen entgegen.

Jessica schätzte das Opfer auf etwa fünfunddreißig bis vierzig Jahre. Der Leichnam wies die typischen Totenflecken auf, und die Haut war bereits eingefallen.

Auf dem oberen Abschnitt der Stirn befand sich ein ungefähr zehn bis zwölf Zentimeter langer gerader Schnitt. Er hatte nur eine schmale bläuliche Wunde hinterlassen, ohne den Knochen zu verletzen. Dieser Schnitt konnte dem Opfer mit einer Rasierklinge oder einem sehr scharfen Messer zugefügt worden sein.

Eine kleine Stichwunde unmittelbar über dem rechten Auge war so groß wie die Spitze eines Eispickels oder einer Stricknadel. Sie schien ebenso wie der Schnitt nicht sehr tief zu sein. Vermutlich handelte es sich in beiden Fällen nicht um tödliche Wunden. Das rechte Ohr des Opfers war verstümmelt. Es wies oben und an der Seite bis hinunter zum Ohrläppchen, von dem ein Stück fehlte, Schnitte auf.

Eine starke Schwellung rings um den Hals ließ darauf schließen, dass das Opfer möglicherweise erdrosselt worden war.

»Glauben Sie, das könnte die Todesursache sein?«, fragte Jessica, obwohl sie wusste, dass erst eine Obduktion die Todesursache endgültig klären würde.

»Schwer zu sagen«, erwiderte Weyrich. »In der Lederhaut der Augen sind winzige rote Flecken. Daher wäre es gut möglich.«

»Er wurde also erstochen, aufgeschlitzt und erdrosselt«, sagte Jessica. »Aller guten Dinge sind drei.«

»Und das ist nur das, was wir bis jetzt wissen. Vielleicht wurde er auch vergiftet.«

Jessica schaute sich in dem kleinen Raum um, drehte Kartons um und schob Paletten zur Seite. Sie fand nichts, keinen Hinweis auf die Identität des Opfers.

Als sie ein paar Minuten später hinausgingen, entdeckte Jessica Detective Joshua Bontrager. Er überquerte soeben die Federal Street und befestigte die Dienstmarke an seiner Jackentasche.

Josh Bontrager, der erst seit ein paar Jahren in der Mordkommission arbeitete, zählte inzwischen zu den besten Ermittlern. Er war in einer amischen Familie im ländlichen Pennsylvania aufgewachsen, ehe er nach Philadelphia zog und bei der Polizei anfing. Bevor die Mordkommission ihn um Mithilfe in einem bestimmten Fall bat, arbeitete er ein paar Jahre in verschiedenen Abteilungen. Josh – ein blonder Junge vom Lande – war Mitte dreißig, unglaublich fit und sportlich. Ihm fehlte ein wenig die Cleverness, die man sich auf den Straßen einer Großstadt aneignete – die meisten Straßen seiner Kindheit waren kaum gepflastert gewesen –, und die Fähigkeit, logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Dafür verfügte er von Natur aus über eine entwaffnende Freundlichkeit, die sogar die hartgesottensten Verbrecher in die Knie zwang.

Einige Kollegen in der Abteilung hielten Josh Bontrager für einen Bauerntrottel, der in einer der angesehensten Mordkommissionen des Landes nichts verloren hatte. Jessica wusste jedoch, dass er oft unterschätzt wurde, und das konnte denen, die etwas zu verheimlichen hatten, zum Verhängnis werden.

Bontrager kam quer über die Gasse auf Jessica zu. »Wie gefällt es dir, mit Stansfield zu arbeiten?«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Super, abgesehen davon, dass er ein Rassist, ein Sexist, ein Schwulenhasser und unglaublich eingebildet ist.«

Bontrager lachte. »So schlimm?«

»Ja. Das sind nur die Highlights.«

»Wie kommt es, dass ihn keiner leiden kann?«

Jessica erzählte ihm von dem Robles-Fall und von Stansfields unglaublicher Schlamperei, die letztendlich zum Tod von Samuel Reese geführt hatte.

»Man könnte meinen, so etwas müsste er wissen«, sagte Bontrager.

»Sollte man meinen.«

»Und dieser Robles hat definitiv auch den zweiten Mord begangen?«

»Ja. Kevin sagt heute vor der Grand Jury aus.«

Bontrager nickte. »Und nachdem Stansfield diese Scheiße gebaut hat, wird er befördert und bekommt eine Gehaltserhöhung?«

»Die Entscheidungen der Chefetage sind unergründlich.«

Bontrager steckte die Hände in die Taschen und wippte auf den Absätzen. »Falls du wieder einmal ohne deinen Partner dastehst, wenn du einen neuen Fall übernehmen musst, sag mir Bescheid.«

»Danke, Josh, mach ich«, erwiderte Jessica und hielt eine Mappe hoch. »Hilfst du mir?«

»Klar.«

Bontrager nahm die Mappe, zog eine Körperskizze heraus und befestigte sie auf einem Klemmbrett. Es handelte sich um ein Standardformular der Polizei mit vier Skizzen des menschlichen Körpers – Vorderseite, Rückseite, linke und rechte Seite –, das auch Platz für eine grobe Beschreibung des Tatortes bot. Auf diese Körperskizze griffen die Detectives im Laufe der Ermittlungen am häufigsten zurück, und sie war das erste Formular in der Akte, die für den Fall angelegt wurde.

Die beiden Detectives kehrten in den Keller zurück. Jessica beschrieb die Leiche, und Josh Bontrager schrieb alles auf.

»Es handelt sich bei dem Opfer um einen weißen Mann zwischen dreißig und fünfundvierzig. Der Tote hat auf der Stirn eine Schnittwunde und über dem rechten Auge eine Stichwunde. Das rechte Ohr ist verstümmelt. Ein Stück des Ohrläppchens fehlt. Am Hals sind Würgemale.«

Bontrager markierte alles auf der Skizze.

»Das Opfer ist nackt. Der Körper scheint kürzlich von Kopf bis Fuß rasiert worden zu sein. An den Hand-und Fußgelenken sind Striemen, die darauf hinweisen, dass das Opfer gefesselt war.«

Anschließend beschrieb Jessica den Tatort, an dem sich ihr Weg mit dem des namenlosen toten Mannes gekreuzt hatte.

Als Josh Bontrager zwanzig Minuten später ins Roundhouse zurückkehrte und Dennis Stansfield Befragungen in der Nachbarschaft durchführte, stand Jessica auf der obersten Stufe der Treppe. Sie drehte sich im Kreis und betrachtete die Umgebung. Unmittelbar hinter dem Geschäft war ein freies Grundstück, nachdem dort kürzlich zwei Häuser abgerissen worden waren. Die hohen Beton-, Stein-und Schuttberge lagen noch dort. Das Grundstück war nicht eingezäunt. Rechter Hand standen mehrere Reihenhäuser. Linker Hand befand sich die Rückseite eines Gewerbebaus ohne Fenster zur Gasse. Falls ein Zeuge jemanden gesehen haben konnte, der die Rückseite des Tatorthauses betreten hatte, musste er sich in einem Zimmer auf der Rückseite eines der Reihenhäuser oder auf dem freien Grundstück aufgehalten haben. Der Blick über die Straße war teilweise durch die hohen Schuttberge versperrt.

Jessica ging auf den Streifenbeamten zu, der mit dem Tatortprotokoll an der Einmündung der Gasse stand. Zu seinen Aufgaben gehörte es unter anderem, jeden, der den Tatort betrat und verließ, das Protokoll unterschreiben zu lassen.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Jessica ihn.

»Wir haben einen anonymen Anruf bekommen«, erwiderte der Beamte. »Gegen sechs Uhr heute Morgen hat jemand den Notruf verständigt.«

Anonym. In der Stadt lebten eineinhalb Millionen Menschen, und sie blieben alle am liebsten anonym. Bis es jemanden aus der eigenen Familie traf.

Echo des Blutes: Thriller
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