78.

Jessica und Bontrager standen in dem Souvenirshop im Erdgeschoss. Jessica hatte Dana Westbrook über ihre neuen Erkenntnisse informiert, und diese würde nun ihrerseits die anderen des Teams in Kenntnis setzen.

Jessica dachte an die Leute, die durch die Lobby schlenderten oder mit Getränken in der Hand in der Lounge saßen. Sie wusste genau, dass sie irgendetwas übersehen hatte, aber es fiel ihr partout nicht ein.

»Ich muss mir die Gästeliste noch einmal ansehen«, sagte Jessica.

»Warte. Ich besorg dir eine.«

Eine Minute später kehrte Bontrager zurück und reichte ihr einen dünnen Stapel Papier. Jessica legte ihn auf die Theke des Souvenirshops.

Ihr Blick glitt über die Seiten. Jessica wusste nicht, was sie suchte. Sie überflog die Liste der Städte. Pittsburgh, Los Angeles, Montreal, São Paulo, Zürich, Cincinnati.

Jessica lehnte sich gegen die Theke und zog ihr iPhone heraus.

Sie erinnerte sich an die Tatortfotos. Auf einer dieser Aufnahmen musste sie irgendetwas gesehen haben. Jessica scrollte durch die Fotos. Nichts Auffälliges. Aufnahmen des Tatorts in der Federal Street und vom Friedhof Mount Olive. Von der Gasse, in der sie Eduardo Robles gefunden hatten, und von dem ehemaligen Armenfriedhof im Nordosten der Stadt. Die nächsten Fotos stammten aus Carrett Corners und von der Archer-Farm. Es folgten Aufnahmen aus der Akte der Staatspolizei mit den Ermittlungsergebnissen im Mordfall Peggy van Tassel. Darunter befanden sich drei Fotos vom Tatort. Die Leiche war so übel zugerichtet, dass sich einem beim Anblick der Fotos fast der Magen umdrehte. Jessica interessierte besonders eine Nahaufnahme vom Bauch des Mädchens.

Sie vergrößerte die Stelle des Fotos, wo der Mörder Peggy gebissen hatte. Als Jessica genauer hinsah, erkannte sie, dass es keine Bisswunde war, sondern ein Bluterguss. Sie vergrößerte das Foto noch stärker. Allmählich wurde es ein wenig unscharf, war aber noch immer deutlich genug. Der Bluterguss schien die Form einer Schlange zu haben.

Ein Ring?

Hatte sie heute Abend jemanden gesehen, der einen Schlangenring trug?

Ja. Einer der drei Männer, die an ihren Tisch gekommen waren, um die Namensschilder entgegenzunehmen, trug einen solchen Ring. Nicht der Betrunkene, Barry Swanson, und auch nicht der große Finne.

Wie hieß der dritte Mann noch gleich?

Jessica erinnerte sich wieder. Sie hatte das Namensschild vor Augen. Er hieß Jay Bowman.

Bowman.

Archer.

Mit klopfendem Herzen schritt Jessica eine Seite des Crystal Room ab. Einen Tisch nach dem anderen. Sie sah ihn nicht. Sie kehrte auf der anderen Seite zur Tür zurück und hielt nach ihm Ausschau. Nein. Er war nicht hier. Sie lief in die Lobby. Der Mann, der sich Jay Bowman nannte, war nirgendwo zu sehen. Sie funkte John Shepherd an.

»Ich suche einen Gast, der unter dem Namen Jay Bowman hier eingecheckt hat.«

»Warte.« Shepherd schaute schnell nach. »Ich hab ihn. Er hat Zimmer 1208 gebucht«, sagte er zwanzig Sekunden später.

Der Personalaufzug fuhr so langsam nach oben, dass es kaum auszuhalten war. Jessica überlegte kurz, ob sie die Treppe nehmen sollte, aber das würde vermutlich noch länger dauern. Josh Bontrager und John Shepherd wählten den Gästeaufzug, der sich auf der anderen Seite des Hotels befand. Sobald sie im zwölften Stock ankamen, konnte ihnen der Verdächtige nicht mehr entwischen. Inzwischen standen auf allen Etagen an allen Ausgängen uniformierte Beamte.

Als Jessica im zwölften Stock ausstieg, kamen ihr ein paar Gäste entgegen. Zwei Frauen, die etwa in ihrem Alter waren, trugen aufreizende Kostüme französischer Hausmädchen. Ein relativ kleiner Mann im Kostüm eines Zauberers. Zwei circa zehnjährige Jungen. Keiner von ihnen war George Archer.

Am Ende des Gangs traf sie Bontrager und Shepherd. Sie bogen zum Ostflügel ab, liefen den Flur hinunter und achteten aufmerksam auf alle Geräusche, die aus den Zimmern drangen. Sie erreichten Zimmer 1208. Stille. Jessica wechselte Blicke mit den beiden Männern.

Bontrager klopfte. Keine Reaktion. Er klopfte noch einmal.

Shepherd trat vor und hielt die Schlüsselkarte genau vor den Schlitz des Schlosses. Jessica und Bontrager zogen ihre Waffen. Jessica nickte. Shepherd schob die Karte hinein, drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf.

Mit erhobener Waffe rollte sich Jessica als Erste ins Zimmer. Kein Licht. Sie tastete an der Wand nach dem Schalter und drückte darauf. Das Oberlicht und ein kleiner Strahler über der Minibar auf der anderen Seite des Zimmers gingen an.

»Polizei«, rief sie. Keine Antwort. Vor der Badezimmertür blieb sie kurz stehen und stieß sie dann mit dem Fuß auf. Bontrager sicherte ihre rechte Seite, tastete über die Wand und schaltete das Licht ein.

Das Badezimmer war leer.

Langsam drangen sie weiter ins Zimmer vor. Jessicas Blick fiel auf die kleine Blutlache auf dem Teppich vor dem Schreibtisch. Daneben lag Erbrochenes. Sie berührte Bontragers Arm und wies mit dem Kinn auf den Fleck. Bontrager sah ihn ebenfalls.

Sie verständigten sich wortlos. Jessica rollte mit der Waffe im Anschlag weiter in den Wohnbereich des Zimmers.

Es sah aus wie auf einem Schlachthof. Die Wände und der Boden waren blutverschmiert. Das Fenster mit Blick auf die Siebzehnte Straße war mit roten Blutflecken übersät.

Josh Bontrager trat vor, öffnete den Schrank und schaute unters Bett. »Alles sauber«, sagte er.

Jessica steckte die Waffe ein.

Über dem Leichnam auf dem Bett lag ein Laken, auf dem sich die blutigen Umrisse eines Menschen abzeichneten. Josh Bontrager und Jessica stellten sich jeweils an ein Ende des Bettes. Sie nahmen jeder eine Ecke des Lakens und zogen es weg.

Der Mörder hatte George Archer regelrecht abgeschlachtet und seine Kehle von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt. Der Brustkorb war zerquetscht. Auf dem Bauch waren Bisswunden und auf den Oberschenkeln Blutergüsse in der Form einer Schlange.

Der Ring, auf dem Haare und Hautfetzen klebten, lag neben dem Kopf auf dem Kissen.

Jessica beugte sich vor und überprüfte die Finger des Toten. Keine Tattoos.

John Shepherd funkte den Leiter der im Hotel eingesetzten Sondereinheit an. »Riegelt das Hotel ab. Niemand kommt rein oder raus.«

Als Jessica die Lobby betrat, herrschte dort Chaos. Vor den Ausgängen, den Aufzügen und den Personalräumen standen Streifenbeamten. Die Türen des Restaurants waren geschlossen. Elegant gekleidete Gäste saßen im Kerzenschein an Tischen und nippten an ihrem Wein. Wenn sie das Hotel schon nicht verlassen durften, fanden sie es vermutlich gar nicht so schlecht, in einem mit Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurant eingesperrt zu sein, das über einen der größten und besten Weinkeller im Lande verfügte.

Um die Menschenmenge im Crystal Room nicht zu beunruhigen, ging ein Polizist der Sondereinheit zum Tisch des Justizministers und tippte auf seine Armbanduhr. Der Justizminister stand langsam auf, drückte ein paar Leuten die Hand und verließ den Raum dann schnell durch einen Hinterausgang.

Jessica hatte ihre Jeans und das Kapuzenshirt angezogen. Als sie die Damentoilette verließ, funkte Shepherd sie an.

»Jess. Eine der Kellnerinnen hat in der Nähe des hinteren Personaleingangs etwas gesehen. Gleich neben den Küchen.«

»Was denn?«

»Blut.«

Jessica und Bontrager trafen sich mit John Shepherd in der Küche. Shepherd deutete auf die roten Flecken, die zum Hinterausgang führten.

Er schob seine Schlüsselkarte in das Schloss. Sie näherten sich der Anlieferungszone. Hinter dem Gebäude stand ein Streifenbeamter. Als er Geräusche hörte, wirbelte er herum und legte eine Hand an seine Waffe. Er war noch jung, Mitte zwanzig, und sah ein wenig verängstigt aus. Als Jessica ihm ihren Dienstausweis zeigte, schien er erleichtert zu sein, dass ein Detective in der Nähe war.

»Wie lange stehen Sie schon hier?«, fragte Jessica.

»Etwa eine Minute«, erwiderte der Polizist. »Ich habe gerade den Einsatzbefehl bekommen.«

Die Blutspur endete auf dem Parkplatz.

»Haben Sie gesehen, dass jemand das Hotel verlassen hat?«

»Nein, Ma’am.«

Jessica ging zurück in den Servicebereich und schaute auf die Tür zu ihrer Linken.

»Wohin führt diese Tür?«, fragte sie.

»Zur Damenumkleide.«

Jessica richtete die Waffe auf den Boden und betrat den Raum. Die Umkleide war mit drei Bänken, einer Reihe Waschbecken, einer Dusche und zwei Toilettenkabinen ausgestattet. Jessica überprüfte sie. Der Raum war leer. Auf einer Toilettentür entdeckte sie eine Blutspur.

Der, den sie suchten, war längst über alle Berge.

Echo des Blutes: Thriller
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