68.

Als Byrne das Büro betrat, war er mehr als überrascht, dass nicht nur Sergeant Westbrook, sondern auch Michael Drummond von der Bezirksstaatsanwaltschaft und Inspector Ted Mostow anwesend waren. In einer Ecke saß Dennis Stansfield mit verschränkten Armen und selbstgefälliger Miene. Auf dem anderen Stuhl saß Russel Diaz.

»Inspector«, sagte Byrne. »Freut mich, Sie zu sehen, Sir.«

»Wie geht es Ihnen, Kevin?«

»Es ging schon besser.«

»Wie geht’s dem Baby?«

Byrne zuckte mehr oder weniger wie aufs Stichwort mit den Schultern. »Zehn Finger, zehn Zehen.«

Es war ein alter Spruch, der bedeutete, dass mit dem Fall, an dem man gerade arbeitete, alles gut lief. In der Mordkommission beantwortete man die Frage immer auf diese Weise, ob die Ermittlungen nun gut liefen oder nicht.

Byrne nickte Michael Drummond zu. »Mike.« Drummond lächelte, doch seine Augen blieben kühl. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte Westbrook. Byrne setzte sich auf einen Stuhl am Fenster.

»Wie Sie wissen, bearbeitet Detective Stansfield den Mordfall Eduardo Robles«, begann Drummond.

Byrne hörte ihm zu. Drummond fuhr fort.

»Im Laufe der Ermittlungen stellte er fest, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite, genau gegenüber vom Chinarestaurant, eine Überwachungskamera hängt. Nachdem er sich das Filmmaterial dazu angesehen und die Nummernschilder der sechs Fahrzeuge überprüft hat, die auf der Straße parkten, hat er die Besitzer kontaktiert und befragt. Alle bis auf einen konnten genau nachweisen, wo sie sich in jener Nacht in der fraglichen Zeit aufhielten.«

Byrne schwieg.

»Das sechste Fahrzeug, ein schwarzer Kia Sedona, gehört einem Mann namens Patrick Connolly.« Drummond starrte ihn an. »Kennen Sie einen Patrick Connolly?«

Byrne wusste, dass Drummond ebenso wie alle anderen in diesem Raum die Antwort auf die Frage kannte. Dazu gehörten auch die Antworten auf die Fragen, die sie ihm noch nicht gestellt hatten. Byrne hatte schon so oft auf der anderen Seite des Tisches gesessen, dass er das Spiel ganz genau kannte. »Ja«, sagte er. »Das ist mein Cousin.«

»Als Detective Stansfield mit Mr. Connolly sprach, erfuhr er, dass dieser den Minivan verliehen hat, und zwar an Sie. Ist das richtig?«

»Ja«, sagte Byrne. »Ich habe mir den Wagen vor sechs Tagen ausgeliehen.«

»Haben Sie den Wagen in der fraglichen Nacht gefahren?«

»Ja.«

»Waren Sie in dieser Nacht in Fishtown?«

Auch in diesem Fall wusste Byrne, dass alle in diesem Raum die Antwort auf die Frage kannten. Vermutlich hatten sie mit Stammgästen von The Well gesprochen, mit Leuten, die ihn an dem Abend in der Kneipe gesehen hatten. »Ja.«

»Erinnern Sie sich, Mr. Robles an diesem Abend gesehen zu haben?«

»Ja.«

»Haben Sie an diesem Abend mit Mr. Robles gesprochen, oder kam es in irgendeiner Form zu einer Begegnung zwischen Ihnen?«

Byrne schickte sich an, die Frage zu beantworten, als Inspector Mostow ihn unterbrach. »Kevin, möchten Sie, dass jemand von der Police Benevolent Association bei dem Gespräch anwesend ist?«

Die Police Benevolent Association war die Organisation, die die Interessen der Polizisten vertrat und sie bei Problemen unterstützte.

»Ist das ein offizielles Verhör?«, fragte Byrne. Er kannte auch die Antwort auf diese Frage. Es war kein Gerichtsprotokollant anwesend; er war nicht vereidigt worden, und niemand schrieb irgendetwas mit. Er hätte in diesem Raum auch die Entführung Lindberghs gestehen können, ohne dass man es gegen ihn hätte verwenden können.

»Nein«, sagte Drummond.

Byrne warf Stansfield einen Blick zu. Er wusste, was dieser Typ vorhatte. Er wollte sich an ihm rächen. Die beiden Männer starrten sich an, bis Stansfield als Erster den Blick abwandte. »Dann möchte ich, dass ein offizielles Verhör geführt wird«, sagte Byrne.

Drummond dachte kurz nach und wandte sich Inspector Mostow zu. Dieser nickte.

Drummond sammelte seine Unterlagen ein und steckte sie in die Aktentasche. »Okay, dann treffen wir uns morgen früh hier wieder«, sagte er. »Punkt acht Uhr.«

Stansfield mischte sich ein. »Inspector, ich finde wirklich, wir sollten …«

Mostow funkelte ihn wütend an. »Morgen früh, Detective«, sagte er. »Ist das klar?«

Stansfield schluckte und sagte dann: »Ja, Sir.«

Byrne verließ als Erster Westbrooks Büro und kehrte zu seinen Kollegen zurück. Alle starrten ihn fragend an.

Als Byrne den Raum durchquerte, um sich einen Kaffee zu holen, folgte Stansfield ihm.

»Das ist nicht lustig, was?«, sagte Stansfield.

Byrne blieb stehen und wirbelte herum. »Sprechen Sie mich nicht an.«

»Ach, jetzt wollen Sie nicht reden? In den letzten Tagen konnten Sie doch gar nicht oft genug über mich reden.« Stansfield stand dicht vor ihm – zu dicht. »Was haben Sie in jener Nacht in Fishtown gemacht, Detective?«

»Gehen Sie mir aus dem Weg«, forderte Byrne ihn auf.

»Haben Sie eine kleine Säuberungsaktion durchgeführt?«

»Ich sag es nicht noch einmal. Gehen Sie mir aus dem Weg.«

Stansfield legte eine Hand auf Byrnes Arm. Byrne holte aus und verpasste Stansfield mit voller Wucht einen linken Haken, der ihn genau am Kinn traf. Es hörte sich an, als wären zwei Widder mit den Köpfen zusammengestoßen. Das Echo des Schlages hallte von den Wänden des Büros wider. Detective Dennis Stansfield drehte sich auf der Stelle und ging zu Boden.

Und war k. o.

»Scheiße«, murmelte Byrne.

Im ganzen Raum herrschte einen Moment Stille, und alle atmeten tief ein. Stansfield bewegte sich nicht. Niemand bewegte sich.

Schließlich standen Nick Palladino und Josh Bontrager auf, durchquerten langsam den Raum und überzeugten sich davon, dass mit Stansfield so weit alles in Ordnung war. Im Grunde interessierte es keinen. Niemand in diesem Raum hätte bestritten, dass er das selbst herausgefordert hatte. Es warf aber kein gutes Licht auf die Mordkommission, wenn einer ihrer Kollegen mitten im Büro ausgestreckt auf dem Boden lag. Zeugen, Verdächtige, Staatsanwälte und Verteidiger liefen Tag und Nacht durch diesen Raum.

Jessica warf Byrne einen Blick zu. Er rieb sich die Fingerknöchel und nahm seinen Mantel und seine Schlüssel. Als er an der Tür stand, drehte er sich noch einmal um und sagte an Jessica gewandt: »Ruf mich an, wenn er tot ist.«

Echo des Blutes: Thriller
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