58.
Gegen halb zehn hielt Byrne vor dem Krankenhaus an. Jessica wartete schon. Sie hatten sie gezwungen, sich in einen Rollstuhl zu setzen, was den Eindruck erweckte, alles wäre viel schlimmer, als es war. Als Jessica den Van sah, stand sie auf, steuerte auf ihn zu und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Scheint ja nicht so schlimm gewesen zu sein«, sagte Byrne.
»War es auch nicht. Du weißt doch, wie das ist. Du brichst dir einen Fingernagel ab, und schon wollen sie an dir herumoperieren, damit sie ordentlich bei der Krankenkasse abkassieren können.«
»Was haben sie gesagt?«
»Alles in Ordnung. Keine Gehirnerschütterung. Wahrscheinlich werde ich ein oder zwei Tage Kopfschmerzen haben. In zwei Wochen soll ich noch mal zur Nachuntersuchung vorbeikommen.«
Byrne fuhr langsam auf den kleinen Parkplatz für Kurzparker. »Jetzt erzähl mal alles der Reihe nach.«
Jessica versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, was nach den beiden Faustschlägen auf den Kopf noch ein wenig schwierig war. Sie erzählte Byrne, was in Novaks Tagebuch gestanden hatte.
»Er hat geschrieben, dass er in jemandes Schuld stand«, sagte sie.
»Das waren seine Worte?«
Jessica nickte. »Wenn ich mich nicht irre, stand da: ›Allerheiligen. Es ist geschehen. Jetzt weiß ich, dass ich für immer in seiner Schuld stehen werde.‹«
»Allerheiligen. Am 1. November.«
»Ja.«
Jessica sagte ihm auch, dass unter dem hinteren Cover ein Foto gesteckt hat.
»Irgendeine Idee, wer die Frau war oder wo das Foto aufgenommen wurde?«, fragte Byrne.
»Nee. Keine Ahnung.«
»Und auf der Rückseite stand das Wort Hölle?«
»Ja. Nur das eine Wort.«
Sie schwiegen einen Augenblick.
»So, jetzt bist du dran«, sagte Jessica dann. »Wie war es in Chestnut Hill?«
Byrne berichtete ihr über sein Gespräch mit Christa-Marie. Jessica hatte das Gefühl, dass ihr Partner ihr nicht alles sagte, aber das war seine Art. Offenbar erzählte er ihr nur das, was sie unbedingt wissen musste.
»Sie meinte, dass es noch mehr Morde geben wird«, fuhr Byrne fort. »Und dass sie uns helfen kann.«
»Und das war alles? Keine Details?«
»Keine Details.«
»Hattest du das Gefühl … wie soll ich sagen …«
»Dass sie verrückt ist?«
»Ja. Genau.«
»Ich bin mir nicht sicher. Ja, doch, ich glaube, sie ist ein bisschen verrückt. Aber ich würde gerne noch mal mit ihr sprechen, bevor wir da mit der ganzen Mannschaft anrücken. Du weißt genauso gut wie ich, dass sie sofort ein halbes Dutzend Psychologen zu ihr schicken, sobald ich die ganze Sache offiziell mache. Dann macht sie bestimmt vollkommen dicht.«
Es begann wieder zu regnen. Sie hörten nur die Musik aus der Stereoanlage und das Prasseln des Regens auf dem Dach des Vans.
Byrne drehte sich zu Jessica um und legte eine Hand auf die ihre. »Bist du sicher, dass du okay bist?«
»Alles bestens. Es ging mir nie besser.«
Byrne starrte sie an.
»Okay, einmal ging es mir vielleicht noch besser. Ich glaube, das war in dem Sommer, als ich mit meiner Cousine Angela den Joint geraucht habe.«
Byrne lächelte. Er drückte Jessicas Hand und setzte den Wagen zurück. Jessica beugte sich vor und stellte die Musik lauter. »Das klingt gut. Liege ich mit meiner Vermutung richtig, dass das von ihr ist?«
Byrne griff hinter Jessicas Sitz nach der CD-Hülle und gab sie ihr.
»Das hören wir uns an?«
Byrne nickte. »Ja. Christa-Maries Krankenschwester hat sie mir gegeben. Sie hat gesagt, Christa-Marie wolle, dass ich mir das anhöre.«
Jessica schaute auf den CD-Player und sah, dass es das zweite Stück war. Dann glitt ihr Blick über die Hülle. Das zweite Stück war Nocturne in G-Dur von Chopin.
»Unglaublich«, sagte sie.
Als das Stück zu Ende war, ließ Jessica es ein zweites Mal laufen.
Als sie vom Parkplatz herunterfuhren, las Jessica den Covertext durch.
»Die CD wurde hier in Philly aufgenommen«, sagte sie. »Im Prentiss Institute.«
»Das ist die Musikschule, nicht wahr? Das Konservatorium in der Locust Street?«
»Ich glaub schon.«
Jessica schaute auf die Rückseite der CD. Unten stand eine kurze Liste der Mitwirkenden.
»Kevin.«
Byrne wandte ihr den Blick zu. Jessica reichte ihm die CD-Hülle und deutete auf den letzten Namen.
Aufnahmeleiter: Joseph P. Novak.