5.
»Diese verdammte Stadt«, schimpfte der Mann. »Zuerst klemmen sie eine Kralle an mein Auto, dann schleppen sie es ab, dann muss ich zum Amt für Parkraummanagement und steh da zwei Stunden mit einem Haufen stinkender, zwielichtiger Typen herum. Und dann schicken sie mich zur Ecke Neunte und Filbert Street. Dann sagen sie mir, dass ich dreihundertneunzig Dollar Strafe zahlen muss. Dreihundertneunzig Dollar.«
Der Mann kippte den Drink herunter und spülte mit einem Schluck Bier nach.
»Diese Scheißstadt. Dieses verdammte Parkraumamt. Das ist die reinste Mafia. Die nehmen dich aus wie eine Weihnachtsgans.«
Detective Kevin Byrne schaute auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf. Die Stadt erwachte zum Leben. Der Typ neben ihm war nach seinem dritten Jim Beam zum Leben erwacht. Der Mann jammerte in einer Tour. Er meckerte über seine Frau (fett, laut und faul), über seine beiden Söhne (ebenfalls faul, keine Angaben zu ihrem äußeren Erscheinungsbild), über sein Auto (einen Chevrolet Prizm, der es gar nicht wert war, ihn auszulösen) und seinen ständigen Kampf mit dem für das Parken zuständigen Amt von Philadelphia. Das Amt hatte nicht viele Fans in der Stadt. Ohne das Amt wäre allerdings das Chaos ausgebrochen.
Sie saßen an der Theke von The Well, einer kleinen Eckkneipe in Kensington. Das Lokal war halb voll. Die Jukebox spielte Kool & the Gang. Über der Theke hing ein Fernseher. ESPN brachte eine Zusammenfassung der Sportereignisse des Tages.
Byrne steckte die kleinen Kopfhörer ins Ohr, blendete das Gezeter des Falschparkers aus, schaute auf das Display seines iPods und wählte die Playlist mit den klassischen Bluestiteln aus. Die Jukebox in der Kneipe spielte nun etwas von den Commodores. In Byrnes Kopf war es 1957, und Muddy Waters ging nach Louisiana und erzählte etwas von mojo hand.
Byrne nickte dem Wirt zu, der ebenfalls nickte. Byrne war nie zuvor in dieser Kneipe gewesen, doch der Wirt war ein Profi in seinem Job, und das war Byrne auch.
Byrne war in Süd-Philadelphia aufgewachsen. Er hatte sein ganzes Leben dort verbracht und die besten und schlechtesten Tage der Stadt miterlebt. Nun ja, vielleicht nicht ihre besten. Immerhin war an diesem Ort die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet worden. Hier hatten sich die Gründungsväter zusammengesetzt und die Gesetze ausgearbeitet, nach denen die Amerikaner, zumindest bis zu einem gewissen Grad, noch heute lebten.
Andererseits hatten die Phillies die World Series 2008 gewonnen, und für einen Phillies-Fan war das viel wichtiger als irgendein verblichenes, altes Dokument.
Byrne hatte schon in Tausenden von Verbrechen ermittelt, Hunderte von Mordfällen bearbeitet und fast sein halbes Leben unter Toten, zerbrochenen Seelen und Vergessenen verbracht.
Wie lautete das Zitat von Thomas de Quincey noch gleich?
Sobald ein Mensch einen Mord begeht, findet er einen Diebstahl nicht mehr so schlimm. Und vom Stehlen kommt er zum Trinken und zum Sabbatschänden und von dort zur Unhöflichkeit und zu der Unart, alles aufzuschieben.
Byrne hatte seinen eigenen Begriff dafür.
Schlamperei.
Für Kevin Byrne bedeutete dieses Wort, Verhaltensweisen zu akzeptieren, die vorherige Generationen als undenkbar angesehen hätten, Standards, die allmählich die Norm geworden waren, neue Tiefpunkte, an denen der Kreislauf wieder beginnen konnte, wobei die Spirale immer weiter abwärts führte.
In letzter Zeit musste er ständig an die unschuldigen Opfer denken, deren Tod ungerächt blieb. Er dachte an das kurze, unbedeutende Leben der dreijährigen Kitty Jo Morris, die vom Freund ihrer Mutter verbrüht worden war, was zu ihrem Tod führte. Der Mann war wütend, weil das kleine Mädchen immer die Fernbedienung verbummelte. Und Byrne dachte an Bonita Alvarez, noch keine elf Jahre alt, die vom Dach eines dreigeschossigen Hauses in North Philly gestoßen worden war, weil sie einen der Rice Krispies Treats ihrer älteren Schwester im Besenschrank versteckt hatte. Und an Max Pearlman, achtzehn Monate alt, den sein Vater im Januar über Nacht im Auto hatte sitzen lassen, während er unter der Platt Bridge Crack rauchte.
Diese Fälle schafften es nicht in die Schlagzeilen. Auch nicht in die NBC-Dokureihe White Paper über den Zustand amerikanischer Familien. Nur der Platz auf den Friedhöfen war danach etwas weniger geworden. Es waren nur Schlampereien.
Jetzt war es in Byrnes Kopf 1970. Die Blues-Legende Willie Dixon behauptete, nicht abergläubisch zu sein. Das war Kevin Byrne auch nicht. Er hatte zu viel gesehen, um noch an etwas anderes als an Gut und Böse zu glauben. Und das Böse war in diesem Raum, dachte Byrne, als er den Mann auf der anderen Seite der Theke beobachtete. An den Händen dieses Mannes, eines Mörders namens Eduardo Robles, klebte das Blut von mindestens zwei Menschen.
An einem heißen Sommernachmittag im Jahre 2007 ging Eduardo Robles mit seiner Freundin eine Straße in Fishtown hinunter. Nach Robles’ Angaben fuhr gegen halb zwei ein Auto langsam an ihnen vorbei. Der tiefe Bass eines Rapsongs dröhnte so laut, dass die Fenster der umliegenden Häuser klirrten. Plötzlich hielt jemand eine Waffe aus dem Fenster des Wagens und schoss. Robles’ Freundin, eine Siebzehnjährige namens Lina Laskaris, wurde von drei Kugeln getroffen.
Robles rief die Polizei. Als er in der Wache ankam, nachdem ein Streifenbeamter seine Aussage auf der Straße zu Protokoll genommen hatte, gelangte ein Detective dort zu dem Schluss, dass der junge Mann ein Verdächtiger und kein Zeuge war. Der Detective legte Robles Handschellen an und steckte ihn in eine Zelle.
Byrne bekam den Anruf gegen dreiundzwanzig Uhr. Als Robles im Roundhouse eintraf – fast zehn Stunden nach dem Ereignis –, nahm Byrne ihm die Handschellen ab und setzte ihn in einen der Verhörräume. Robles sagte, er habe Hunger und Durst. Byrne ließ Sandwiches und Mountain Dew kommen und fing mit dem Verhör an.
Das übliche Spiel begann.
Um drei Uhr am nächsten Morgen knickte Robles ein und gab zu, Lina Laskaris erschossen zu haben. Um 3.06 Uhr verhaftete Byrne Robles wegen Mordes und las ihm seine Rechte vor.
Das Problem in diesem Fall war, dass der Polizei nach dem Gesetz sechs Stunden Zeit für die Entscheidung blieben, ob es sich bei der Person um einen Zeugen oder einen Verdächtigen handelte.
Drei Tage später entschied die Grand Jury, dass für eine Anklageerhebung die gesetzliche Grundlage fehle. Die Verhaftung hatte nämlich offiziell in dem Augenblick stattgefunden, als Robles irrtümlicherweise auf der Wache die Handschellen angelegt worden waren. Schon in diesem Moment wurde Robles vom Zeugen zum Verdächtigen, und ab da war die Zeit gelaufen.
Fünf Tage, nachdem Eduardo Robles seine Freundin kaltblütig ermordet hatte, war er infolge der ungeheuer inkompetenten Arbeit eines Detectives auf einem Polizeirevier wieder ein freier Mann. Und dann wurde dieser Detective dank unergründlicher politischer Beziehungen kürzlich auch noch für seine Inkompetenz mit einer Versetzung in die Mordkommission und einer Gehaltserhöhung belohnt. Es war wirklich unglaublich!
Dieser Detective hieß Dennis Stansfield.
Robles lebte weiterhin in Freiheit, und wenige Monate später war er an der Ermordung eines gewissen Samuel Reese beteiligt, der nachts in einem kleinen Geschäft in Chinatown arbeitete. Die Polizei war der Ansicht, dass Robles zwei Mal auf Reese schoss und anschließend die CD des Überwachungssystems aus dem Rekorder im Hinterzimmer nahm. Mit sechsundsechzig Dollar und einer Dose Bremsflüssigkeit verließ er den Tatort.
Sie hatten nur Indizienbeweise – keine Tatwaffe, keine verwertbaren Spuren, fragwürdige Zeugenaussagen –, nichts, was vor Gericht Bestand gehabt hätte. Nach dem Buchstaben des Gesetzes nur einen Haufen Scheiße.
Seit zwei Tagen bemühte sich Byrne, Beweismaterial gegen Robles zusammenzutragen, aber er kam nicht gut voran. Die Tatwaffe konnte nicht sichergestellt werden. Byrne verhörte vier Leute, die hätten bestätigen können, dass Robles sich zur Tatzeit in dem Geschäft aufgehalten hatte. Keiner von ihnen war bereit, mit der Polizei zu sprechen, jedenfalls nicht offiziell. Byrne sah die Angst in ihren Augen. Wenn man an einer Straßenecke oder im Wohnzimmer oder sogar auf der Arbeitsstelle mit einem Polizisten sprach, war das eine Sache. Vor der Grand Jury unter Eid auszusagen und von einem Staatsanwalt befragt zu werden, stand auf einem ganz anderen Blatt. Jeder, der in den Zeugenstand gerufen wurde, wusste, dass eine Falschaussage vor der Grand Jury mit einer Haftstrafe von fünf Monaten und neunundzwanzig Tagen geahndet wurde. Und das für jede einzelne Lüge.
Morgen früh wollte Byrne sich mit Michael Drummond treffen, dem Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt, der für den Robles-Fall zuständig war. Wenn sie vier Zeugen fanden, die den Mann belasteten, müsste es gelingen, einen Durchsuchungsbeschluss für seinen Wagen und seine Wohnung zu bekommen. Vielleicht fanden sie dann etwas, was ihnen weiterhalf und zu einer hieb-und stichfesten Beweiskette führte.
Oder vielleicht kam es gar nicht dazu. Vielleicht stieß Robles ja auch etwas zu.
In einer Stadt wie Philadelphia konnte man das nie wissen. Traf die Polizei eine Mitschuld am Tod von Samuel Reese? Ja, in diesem Fall war sie mitschuldig. Robles hätte niemals wieder auf freien Fuß gesetzt werden dürfen.
Schlamperei.
An dem Tag, als Robles verhaftet wurde, besuchte Byrne Lina Laskaris’ Großmutter, eine griechische Immigrantin Anfang siebzig. Anna Laskaris hatte Lina alleine großgezogen. Byrne versprach der Frau, dass der Mann, der für Linas Tod verantwortlich war, zur Rechenschaft gezogen werden würde. Er erinnerte sich an die Tränen der Großmutter, ihre Umarmung und den Zimtduft ihres Haars. Sie war gerade dabei gewesen, einen Pantespani zu backen.
Am lebhaftesten erinnerte Byrne sich daran, dass Anna Laskaris ihm vertraut hatte und bitter enttäuscht worden war.
Byrne sah sich in dem angelaufenen Spiegel hinter der Theke. Er hatte eine Baseballcap und die Brille auf, die er seit kurzem gezwungenermaßen tragen musste. Wenn Robles nichts getrunken hätte, hätte er Byrne wahrscheinlich erkannt. Doch nun nahm er ihn – wie die anderen in dieser kleinen Kneipe vermutlich auch – nur noch schemenhaft wahr. Das hier war keine vornehme Bar in Center City. Hier verkehrten Säufer und knallharte Männer.
Um 00.30 Uhr verließ Robles schon ein wenig wankend die Kneipe. Er stieg in seinen Wagen und fuhr die Frankford Avenue hinunter. Als Robles die York Street erreichte, bog er rechts ab, fuhr noch ein paar Blocks weiter und parkte.
Byrne saß in seinem Wagen auf der anderen Straßenseite und beobachtete ihn. Robles stieg aus und blieb zwei Mal stehen, um mit jemandem zu sprechen. Er war auf der Suche nach Stoff. Nach ein paar Minuten kam ein Mann auf ihn zu.
Robles ging mit dem anderen Mann unsicheren Schrittes die Gasse hinunter. Kurz darauf sah Byrne auf der schmutzigen Mauer der Gasse Licht aufflackern. Robles steckte sich eine Crackpfeife an.
Byrne stieg aus und schaute die Straße in beide Richtungen hinunter. Niemand zu sehen. Sie waren allein. Philadelphia schlummerte allmählich wieder ein, abgesehen von jenen, die im Schutz der Dunkelheit leise durch die Nacht schlichen.
Byrne trat in den Schatten. Von irgendwoher, vermutlich tief aus seinem Inneren, begann eine längst vergessene Melodie zu spielen.
Sie klang wie ein Requiem.