12.

Nachdem die Polizei ihr Haus verlassen hatte, stand Sharon Beckman zehn Minuten lang wie versteinert neben der Eingangstür.

Jason verzog sich sofort wieder. Gott allein wusste, wo er sich in letzter Zeit herumtrieb. Der Junge hatte den Detectives nicht verraten, dass die letzte Begegnung zwischen ihm und seinem Stiefvater mit einer Prügelei geendet hatte. Die letzten Worte, die Jason zu seinem Stiefvater gesagt hatte, waren: »Wenn du mich noch einmal anfasst, bring ich dich um.«

Solche Dinge erzählte man der Polizei natürlich nicht. Sharon wusste, dass Jason so etwas niemals tun würde, aber die Polizei wusste es nicht.

Es herrschte Stille im Haus.

Kenny war tot.

Sharon wartete darauf, dass sich ein Gefühl wie Kummer oder Leid einstellte, aber sie empfand nichts. Sie spürte nur nackte Angst und begriff, dass sie handeln musste. Schnell.

Als sie Kenny kennenlernte, war ihr vom ersten Augenblick klar, dass alles eines Tages ein schlimmes Ende nehmen würde. Sie wusste von Beginn an, wer er war und was für ein Leben sie an seiner Seite erwartete. Sharon war auch kein Engel. Aber als Kenny vor acht Jahren diese ganzen Häuser ausraubte und ins Visier der Polizei geriet, war ihr bewusst, dass eines Tages so etwas passieren würde.

Als sie 2002 in dem Haus auf der Lenox Avenue Feuer legte, um alle Spuren zu beseitigen, ahnte sie, dass sie eines Tages dafür würde bezahlen müssen. Dieser Tag war nun gekommen. Es hatte ihr ein wenig leidgetan, dass die ganze Straße in Brand geriet, aber es wurde niemand verletzt. Daher bereitete ihr die Sache kaum schlaflose Nächte. Zwischen ihr und ihren Nachbarn auf der Lenox Avenue gab es keinerlei Sympathie. Dieses verdammte asoziale Pack.

Sharon drehte sich im Wohnzimmer drei Mal im Kreis, während sie einen klaren Gedanken zu fassen versuchte.

Sie hätte dieses Haus schon vor langer Zeit verlassen sollen. Wenn die Polizei eine Spur verfolgte, war das ein sicheres Zeichen, dass sie jemanden im Visier hatte. Cops wussten immer viel mehr, als sie preisgaben. Es war wie bei diesen Jobs, bei denen sie ihren Vater als kleines Kind begleitet hatte. Ihr Vater reparierte die Rohrleitungen in einem Haus, und sobald er fertig war, legte er stets ein Blatt Zeitungspapier unter die Rohre. Wenn ein Wassertropfen auf die Zeitung fiel, hatte er Mist gebaut. Ihr Vater riss alles wieder heraus und begann noch einmal von vorn. Wenn ein einziger Tropfen auf die Zeitung fiel, würden weitere folgen.

Mit der Polizei war es genauso.

Wenn sie genug gegen einen in der Hand hatte, war man dran.

Kenny hatte das gesamte Diebesgut in einem Lagerraum in der Linden Avenue versteckt. Zum Glück war er wenigstens so clever, nie etwas mit nach Hause zu schleppen. Sharon hatte keine Ahnung, was er im Augenblick in dem Lagerraum aufbewahrte, und das war auch gut so. Je weniger sie wusste, desto besser.

Sharon versuchte angestrengt zu verdrängen, was Kenny dem Mädchen 2002 angetan hatte. Kein Gericht der Welt würde sich davon beeindruckt zeigen. Sie waren einmal ungeschoren davongekommen, aber nun, da Kenny tot war, spürte sie die ganze Last auf ihren Schultern. Allein würde sie es nicht schaffen. Sharon kannte mindestens ein Dutzend Leute, die Kenny gerne um die Ecke gebracht hätten, ein Dutzend Leute, die einen Groll gegen ihn hegten. Sobald die Polizei das herausbekam, würden sie die Verbindung zu ihr herstellen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich erneut mit dem Fall von Antoinette Chan beschäftigen würden. Bei Einbrüchen blieb die Polizei hartnäckig. Sie gab nicht auf, bis der Täter in einer Zelle saß.

Und bei einem Mord ließ sie schon gar nicht locker.

Sharon rannte die Treppe hinauf. Sie würde alles, was hineinging, ins Auto packen und Jason suchen. Dann würde sie die Schlüssel für das Sicherheitsschloss an der Tür des Lagerraumes in den Delaware River werfen. Wenn die Polizei hier noch mal auftauchte, wären sie und ihr Sohn längst verschwunden.

Aber wohin sollten sie gehen? Zu ihrer Schwester in Toledo konnten sie nicht fahren. Da würde die Polizei sie als Erstes suchen. Sharon besaß genau achthundertsechsundzwanzig Dollar auf ihren Namen. Dazu kamen das Kleingeld, das sie in einem Glas sammelte, und die Tankfüllung.

Sharon war erst vierundvierzig, im Grunde noch recht jung, und sie sah noch ganz gut aus, obwohl … eine echte Schönheit war sie nie gewesen. Sie würde ein neues Leben beginnen und einen Mann kennenlernen, der sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdiente.

Kenny war tot.

Ehe sie ihre Sachen aus den Schubladen im Schlafzimmer im ersten Stock nehmen konnte, hörte sie ein Geräusch.

»Jason?« Keine Antwort.

Sie lauschte einen Augenblick, hörte aber nichts mehr. Das waren bestimmt die Gören von nebenan, dachte sie. Einmal hatten sie drei Stunden lang einen Basketball an die angrenzende Mauer geworfen. Sharon würde sie nicht vermissen.

Sie holte die beiden abgewetzten Koffer aus dem obersten Fach des Schlafzimmerschrankes und stopfte Kleidung hinein. Schnell stellte sie fest, dass sie ein paar große Plastikmülltüten brauchte, um alles einzupacken.

Sharon lief die Treppe hinunter und dachte angestrengt nach. Als sie um die Ecke bog und auf die Küche zuging, sah sie den Schatten an der Wand. Sie blieb stehen und wirbelte herum. Ihr Herz klopfte laut. »Jason, wir …«

Es war nicht Jason.

Echo des Blutes: Thriller
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