73.

Ihre Schritte auf den alten Fliesen hallten durch das Haus, als sie Arm in Arm durch die Gänge liefen. Dämmeriges Licht drang durch die Fenster. Circa zehn Meter über ihren Köpfen war eine Gewölbedecke, und Byrne sah drei Schichten Farbe, jede ein jämmerlicher Versuch, Fröhlichkeit zu verbreiten. Zitronengelb, Babyblau, Meergrün.

Christa-Marie deutete auf einen Raum in der Nähe des Eingangs. »Dorthin bringen sie dich nach der Einlieferung«, sagte sie. »Lass dich nicht von den Blumen täuschen.«

Byrne warf einen Blick hinein. Zwei alte, verrostete Ketten, die in der Wand verankert waren, lagen wie tote Schlangen auf dem Boden. Dort gab es keine Blumen.

Als sie immer tiefer ins Innere von Convent Hill vordrangen, kamen sie an Dutzenden von Räumen vorbei; an Räumen, in denen das Wasser stand, und an Räumen mit vom Boden bis zur Decke gefliesten Wänden. In anderen wiederum war der Putz von Schimmel und getrocknetem Blut befleckt, alte Kleidungsstücke verstopften die Abflüsse.

In einem Raum standen in einem Halbkreis sechs Stühle, deren geflochtene Sitzflächen fehlten, und ein Stuhl war seltsamerweise in eine andere Richtung gedreht. Im nächsten Raum entdeckten sie ein dreistöckiges Etagenbett, das auf einem abgetretenen orientalischen Läufer im Boden festgedübelt war. Byrne konnte sehen, dass jemand versucht hatte, den Läufer wegzuziehen. Er war an beiden Enden zerfetzt. Daneben lagen drei braune Fingernägel auf dem Boden.

In einem Raum am Ende des Hauptgangs standen verrostete Stahleimer an einer Wand, gefüllt mit verhärtetem Kot, der sich im Laufe der Zeit in eine weiße, kalkartige Masse verwandelt hatte. Auf einem Eimer stand das Wort glücklich.

Sie stiegen die geschwungene Treppe in den ersten Stock hinauf.

In einem Gruppenraum stand eine Bühne, die sich gefährlich neigte. Darüber hing ein großer, ovaler Rahmen mit einem Kunstwerk aus kreuz und quer gespannten schwarzen Fäden – möglicherweise irgendein Projekt aus der Beschäftigungstherapie.

Sie durchquerten den Flügel. Byrne fiel auf, dass viele Einzelzimmer Beobachtungsfenster hatten. Bei einigen waren nur zwei kleine Löcher in die Tür gebohrt. In Convent Hill blieb offenbar nichts verborgen.

»Das hier war Maristellas Zimmer«, sagte Christa-Marie. Es war keine vier Quadratmeter groß. An der mit einer längst verblassten Lackfarbe in Pink gestrichenen Wand lehnten drei uralte Tragen. »Sie war meine Freundin. Ein bisschen verrückt, glaube ich.«

Ein riesiges, über fünfzehn Meter langes Wandgemälde zierte die Turnhalle. Vor dem Hintergrund der Hügellandschaft rings um die Klinik hatten mehrere Leute unterschiedliche Szenen gemalt – höllische Darstellungen von Vergewaltigung, Folter und Mord.

Als sie zum Ostflügel abbogen, blieb Byrne plötzlich wie angewurzelt stehen. Am Ende des breiten Gangs stand jemand. In dem Dämmerlicht konnte Byrne nicht viel erkennen. Er sah eine kleine, gedrungene Person, die sich nicht bewegte.

Es dauerte einen Moment, bis Byrne begriff, dass es nur eine Figur war. Als sie näher kamen, erkannte er die aus Sperrholz ausgesägten Umrisse eines Kindes, eines Jungen von zehn oder zwölf Jahren in einem gelben Hemd und einer dunkelbraunen Hose. Dahinter war ein blauer Streifen an die Wand gemalt, der vielleicht den Ozean darstellen sollte. Als sie an der Figur vorbeigingen, entdeckte Byrne kleine Dellen im Sperrholz sowie ein paar Löcher und auf gleicher Höhe auch Löcher in der Wand. Die Figur musste irgendwann einmal mit Kugeln durchsiebt worden sein. Jemand hatte Blut auf das Hemd gemalt.

Am Ende des Korridors blieben sie stehen. Das Dach über ihnen war undicht, und ein paar Tropfen Wasser fielen auf sie herab.

»Man merkt es beim ersten Ton«, sagte Christa-Marie.

»Was meinst du?«

»Ob ein Kind das Zeug dazu hat, ein Virtuose zu werden.« Sie schaute auf ihre langen, schmalen Finger. »Sie ziehen dich in ihren Bann. Die Kinder. Am Prentiss Institute haben sie mich hundertmal gefragt, ob ich nicht Unterricht geben könnte. Ich habe immer wieder abgelehnt und dann eines Tages eingewilligt, denn da waren zwei hochbegabte Jungs.«

Byrne nahm ihre Hand. »Wer waren diese Jungs?«

Christa-Marie antwortete nicht sofort. »Sie waren da, weißt du«, sagte sie schließlich.

»Wo?«

»Bei dem Konzert. Und anschließend.«

Irgendwo hallte ein Geräusch durch die Dunkelheit. Christa-Marie schien es nicht zu hören.

»Dieser Abend, Christa-Marie. Erzähl mir von diesem Abend.«

Byrne sah, dass sich in ihren Augen genau wie vor zwanzig Jahren Angst und Einsamkeit spiegelten.

»Ich trug Schwarz«, sagte sie.

»Ja. Du sahst wunderschön aus.«

Christa-Marie lächelte. »Danke.«

»Erzähl mir von dem Konzert.«

Leichtfüßig schritt Christa-Marie über den Korridor ins Halbdunkel. »Der Saal war für die Feiertage geschmückt. Es roch nach frischen Kiefern. Wir haben heftig über das Programm diskutiert. Im Publikum saßen größtenteils Kinder. Der Direktor wollte noch eine Vorstellung von Peter und der Wolf geben.«

Byrne hoffte, sie würde fortfahren, doch sie schwieg. Tränen traten ihr in die Augen. Christa-Marie kehrte langsam zu Byrne zurück und griff in ihre Tasche. Sie zog ein Blatt heraus und gab es ihm. Es war ein an Christa-Marie adressierter Brief, von dem ihr Anwalt Benjamin Curtin eine Kopie erhalten hatte. Er stammte von der Onkologie des Universitätskrankenhauses Pennsylvania. Byrne las den Brief.

Kurz darauf umfasste er ihre Hände. »Würdest du heute Abend für mich spielen?«

Christa-Marie schlang die Arme um ihn und legte den Kopf auf seine Schulter. Eine ganze Weile standen sie reglos und schweigend da. Dann brach sie die Stille.

»Ich werde sterben, Kevin.«

Byrne strich ihr übers Haar. Es fühlte sich an wie Seide. »Ich weiß.«

Sie schmiegte sich noch enger an ihn. »Ich höre dein Herz schlagen. Es schlägt regelmäßig und kräftig.«

Byrne schaute aus dem Fenster auf den in Nebel gehüllten Wald rund um Convent Hill. Er schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen.

Echo des Blutes: Thriller
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