35.
Die Besprechung fand in Dana Westbrooks Büro statt. Außer ihr waren Russell Diaz, Nicci Malone, Nick Palladino, Josh Bontrager und Dennis Stansfield anwesend.
Byrne zeichnete zwei Dreiecke auf die weiße Tafel. Über das erste Dreieck schrieb er einen Namen. Antoinette Chan. Unten links schrieb er Kenneth Beckman hin und rechts unten Sharon Beckman.
»Beginnen wir mit Antoinette Chan«, sagte Byrne. »Gehen wir einfach davon aus, dass Beckman sie getötet hat und dass Sharon Beckman seine Komplizin war. Sie hat ihr Haus in Brand gesetzt, um Spuren zu vernichten. Den Leichnam von Kenneth Beckman haben wir am Tatort von Antoinette Chan gefunden. Sharon Beckmans Leiche wurde auf Antoinette Chans Grab abgelegt. Mörder, Komplizin und Opfer. Sie sind alle drei in diesem Dreieck miteinander verbunden. Jede Ecke ist besetzt.«
Byrne stellte sich vor das zweite Dreieck. Auf die Spitze setzte er ein Fragezeichen. Links unten schrieb er »nicht identifizierte Leiche«, und in die rechte Ecke unten setzte er ein weiteres Fragezeichen.
»Nehmen wir mal an, unser Täter ist Mitglied in einer Art Bürgerwehr und will altes Unrecht ahnden. Nehmen wir weiter an, er geht so vor, dass er den Hauptverdächtigen in einem ungelösten Fall tötet und den Leichnam am Originaltatort ablegt. Dann tötet er einen Komplizen und legt dessen Leichnam auf dem Grab des damaligen Opfers ab. Ich glaube, wenn wir dieses Schema zugrunde legen, können wir eine Menge daraus ableiten.«
Byrne zeigte auf die untere linke Ecke des zweiten Dreiecks.
»Da unser noch nicht identifizierter Toter auf der Straße gefunden wurde, können wir davon ausgehen, dass der Mörder ihm die Schuld an einem Mord gibt, der an diesem Ort verübt wurde. Wir wissen nicht, wer in dem Fall das Opfer und wer der Komplize war, bis wir den damaligen Mord aufgespürt haben. An diesem Punkt müssen wir ansetzen. Falls wir keinen Zeugen finden, ist das unsere einzige Chance.«
Byrne wandte sich Nicci zu. »Habt ihr schon Fingerabdrücke von der Leiche des Unbekannten?«
Nicci schüttelte den Kopf. »Der Typ war cracksüchtig. Seine Finger sind so stark verbrannt, dass wir keine brauchbaren Abdrücke nehmen konnten. Wir arbeiten aber noch daran.«
Byrne nickte. »Okay, dann müssen wir jetzt einen Mord suchen, der an der Ecke Zweite und Poplar verübt wurde.«
Ein Stöhnen ging durch den Raum. Das bedeutete, dass sie sich durch riesige Aktenberge wühlen mussten.
Sechs Detectives brüteten über den Akten von Mordfällen aus den letzten dreißig Jahren. Zu ihrem Leidwesen boten die elektronischen Datenbanken nicht die Option, nach Tatorten und dem Status, ob der betreffende Mordfall gelöst oder ungelöst war, zu suchen. Sie mussten jede Akte einzeln in die Hand nehmen und durchackern. Das war eine mühselige Arbeit. Nicht alle Unterlagen waren sauber oder auch nur lesbar ausgefüllt. Man hätte fast meinen können, sie wollten die Detectives kontrollieren, die in den letzten drei Jahrzehnten in der Mordkommission gearbeitet hatten.
Jessica übernahm die Akten von 2003 bis 2007. Ihr Blick wanderte jeweils über die Namen der Opfer, die Daten und die Tatorte. Ein Fall nach dem anderen führte sie auf einer grotesken Reise durch die Stadt zu ihren Gewaltverbrechen, ihren Opfern und ihren Tätern. Fast all diese Orte hatte sie mehr als ein Mal besucht, oft als Kind mit ihrer Familie oder mit Sophie und Vincent, ohne zu ahnen, dass dort jemand ermordet worden war.
Ab und zu stand Jessica auf und holte sich eine frische Tasse Kaffee, um nicht einzuschlafen. Allmählich verschwammen Namen und Adressen ihr vor den Augen. Wenn sie mit offenen Augen vor sich hinträumte, lief sie Gefahr, hinterher nicht mehr zu wissen, wie lange sie mit den Gedanken abgeschweift war und wie weit sie nochmals in dem Aktenberg zurückgehen musste.
Eine frische Tasse Kaffee, kurz die Glieder strecken und weiter. Mitte 2004. Die Seite, bei der sie eben stehen geblieben war, erzählte die reizende Geschichte eines Mannes, der elf Mal auf seine Frau geschossen hatte, weil sie mit dem UPS-Auslieferungsfahrer ins Bett gestiegen war. Jessica fragte sich, ob der Typ häufig mit Sex belohnt wurde, wenn er seine Pakete auslieferte.
Jetzt drehst du langsam durch, Jess.
Sie blätterte wieder eine Seite um.
»Ich hab’s!«, schrie sie, fast ehe sie es selbst begriffen hatte.
Die anderen fünf Detectives sprangen auf und rannten zu ihr.
»21. Juni 2004. In einem Müllcontainer Ecke Zweite und Poplar Street wurde ein Toter gefunden. Der Name des Opfers war Marcellus Palmer.«
Sie überflogen die Seite. Marcellus Palmer war ein mittelloser, einundvierzig Jahre alter Mann. Der Täter hatte ihn erschlagen und seine Taschen nach außen gestülpt. Seine Schuhe fehlten. Jessica speicherte die interessante Information ab, dass die Mordmethode dieselbe war wie bei Antoinette Chan, und sie nahm an, dass Byrne es ebenfalls tat. Erschlagen. Vielleicht gab es hier eine Verbindung.
Sie mussten zum Archiv fahren, um die vollständige Akte zu holen, aber es war ein Anfang.
Jessica schaute auf das Foto, das an die Zusammenfassung geheftet war. Der neue Tatort lag buchstäblich nur ein paar Schritte von dem Ort entfernt, wo Palmers Leichnam damals gefunden worden war. In dem Viertel hatte Kevin Byrne einst Streifendienst verrichtet.
»Und der Status?«, fragte Bontrager.
»Ein ungelöster Fall«, sagte Jessica.
»Verdächtige?«
»Der Hauptverdächtige – ein Mann namens Preston Braswell – war ebenfalls obdachlos und damals einunddreißig Jahre alt. Er wurde nicht angeklagt.«
Nicci Malone setzte sich vor einen Computer und tippte den Namen ein. Ein paar Sekunden später hatte sie einen Treffer. Und ein Bild. »Das ist er. Der Tote ist Preston Braswell.«
Die anderen Detectives drängten sich um den Computer. Auf dem Foto sah der Tote jünger und gepflegter aus. Es war tatsächlich Preston Braswell.
Jetzt hatten sie zwei verschiedene Mordfälle, in denen der Hauptverdächtige des ersten Mordes umgebracht und genau am selben Ort abgelegt worden war. In einem der beiden Fälle war die Komplizin auf dem Grab des damaligen Mordopfers abgelegt worden. Sie hatten Grund zu der Annahme, dass das erneut geschehen würde. Falls es nicht sogar schon passiert war.
Nicci sprang auf. Ganz Gentleman half Dino ihr in den Mantel, ehe er seinen eigenen anzog. »Wir fahren zum Archiv«, sagte Dino. »Wir melden uns.«
Als Nicci und Dino das Büro verließen, kehrten Jessica und Byrne zur weißen Tafel zurück. Byrne wischte das Fragezeichen oben auf dem zweiten Dreieck aus und schrieb stattdessen Marcellus Palmer hin. Dann wischte er das Fragezeichen in der unteren linken Ecke aus und ersetzte es durch den Namen Preston Braswell.
Jessica trat einen Schritt zurück und dachte über die neuen Erkenntnisse nach. Sie schaute auf die drei Aktenordner, die immer dicker wurden, und warf Byrne einen Blick zu. Er starrte in eine andere Richtung. Er starrte auf das letzte Fragezeichen auf der weißen Tafel.
Zwanzig Minuten später rief Nicci Malone an. Sie hatte die Box mit den Akten des Mordes an Marcellus Palmer im Jahr 2004 herausgesucht. Sie würde ihnen die Liste mit den Verdächtigen und den Zeugen gleich faxen. Jessica schaltete den Lautsprecher ein.
»Wie schlimm ist es?«, fragte Jessica.
»Zieh deine Nikes an. Auf der ursprünglichen Liste stehen einundsiebzig Namen.«
»Einundsiebzig?«
»Ja. Die Obdachlosen sind ein geselliges Völkchen«, sagte Nicci. »Aber es sieht so aus, als hätten wir uns neben Preston Braswell noch für vier weitere Männer intensiver interessiert. Sie wurden alle verhört und wieder freigelassen. Ich glaube, wir sollten zuerst versuchen, sie aufzuspüren.«
Bevor unser Täter es tut, dachte Jessica.
Ein paar Minuten später erhielten sie das Fax mit den vier Namen. Jessica fand sie alle im System. Sie druckte die Informationen, die sie über die Männer hatten, und die neusten Fotos von ihnen aus.
Da keine Informationen darüber vorlagen, wo Marcellus Palmer begraben worden war, mussten sie auf der Straße anfangen.
Seit Jahren trafen sich viele Obdachlose – und das entbehrte nicht einer gewissen Ironie – in dem Park genau gegenüber vom Polizeipräsidium, dem Franklin Square. Normalerweise strömten die Obdachlosen dort zusammen, wo sie etwas zu essen bekamen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte sich nicht viel verändert.
Die Detectives teilten die Namen und Fotos der vier Männer sowie deren Lieblingstreffpunkte unter sich auf. Sie würden die Befragung jeweils alleine durchführen. Es fehlte die Zeit, und es waren zu viele Orte, um in Teams zu arbeiten.
Jessica übernahm Old City.