51.

Chestnut Hill im Nordwesten von Philadelphia im Stadtteil Germantown, wo Franz Daniel Pastorius einst die erste deutsche Ansiedlung in Nordamerika gründete, war ein wohlhabendes Viertel. In dieser ehemaligen »Eisenbahn-Vorstadt« war das Stadtbild von einer Vielzahl verschiedenartiger Wohnhäuser aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert geprägt, die viele der bekanntesten Architekten Philadelphias entworfen hatten.

Ehe Byrne Center City verließ, rief er an, um einen Termin mit Christa-Marie zu vereinbaren. Er wurde mit Christa-Maries Anwalt verbunden, einem Mann namens Benjamin Curtin. Curtin zögerte zuerst, doch dann willigte er ein, sich um ein Uhr mit Byrne in dem Haus zu treffen.

Als Byrne die St. Andrews Road hinunterfuhr, sah er das Haus zum zweiten Mal in seinem Leben. Er war nach der Mordnacht nie wieder hier gewesen.

Es war ein großes, beeindruckendes Anwesen im Tudorstil mit einer kreisrunden, von Pflastersteinen gesäumten Auffahrt und einem von einem Giebel überragten Portal. Zum Teil hinter Bäumen versteckt, lag rechter Hand neben zwei Tennisplätzen ein Stall. Das Anwesen war von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun umgeben.

Byrne parkte den Van, und obwohl er seinen besten Anzug trug, hatte er plötzlich das Gefühl, nicht gut genug gekleidet zu sein. Und ihm wurde bewusst, dass er für einen Augenblick den Atem angehalten hatte. Er stieg aus, rückte die Krawatte zurecht, strich über seinen Mantel und klingelte. Kurz darauf wurde die Tür von einer Frau um die sechzig geöffnet. Byrne stellte sich vor, worauf die Dame ihn ins Haus bat. Er schritt durch das hohe, bogenförmige Portal. Vor ihm befand sich eine mit Schnitzereien verzierte Wendeltreppe aus Mahagoni. Rechts daneben standen dicke, geriffelte Säulen, die zum offiziellen Speisezimmer führten. Linker Hand lag der großzügig geschnittene Salon mit Blick auf den Pool und die gepflegten Gärten. Byrnes Schritte hallten durch das herrschaftliche Haus. Die Frau nahm ihm den Mantel ab und führte ihn durch die Eingangshalle zum Arbeitszimmer.

Es war ein feudaler, mit dunklem Holz getäfelter Raum mit zwei eingebauten Bücherschränken, die vom Boden bis zur Decke reichten, und einer gewölbten Decke mit offenem Fachwerk. Im Kamin brannte ein Feuer. Der Kaminsims war mit Kiefernzapfen und anderen Herbstdekorationen geschmückt. Über dem Sims hing ein eindrucksvolles Porträt von Christa-Marie. Auf dem Gemälde saß sie auf einem mit Samt bezogenen Sessel. Es musste zu der Zeit gemalt worden sein, als Byrne sie 1990 in jener schwarzen Nacht kennengelernt hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde und ein Mann eintrat.

Benjamin Curtin war Anfang fünfzig, ein Mann mit einem markanten Kinn und dickem grauem Haar, das er nach hinten gekämmt hatte. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, dessen Preis Byrne auf eines seiner Monatsgehälter schätzte. Curtin war vermutlich zwanzig Pfund schwerer, als er aussah.

Byrne stellte sich vor, zeigte ihm aber nicht den Dienstausweis. Er war nicht in seiner Funktion als Detective hier. Noch nicht.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Detective«, sagte Curtin, vielleicht um Byrne an seinen Beruf zu erinnern. Curtin sprach mit einem Südstaatenakzent. Byrne schätzte, dass er aus Mississippi stammte.

»Ganz meinerseits, Herr Rechtsanwalt.«

Okay, dachte Byrne. Jeder kannte den Beruf des anderen.

»Sorgt Liam da unten noch immer für die öffentliche Sicherheit?«

Da unten, dachte Byrne. Es hörte sich an, als wäre er in der Provinz tätig. Er meinte Richter Liam McManus. Jeder wusste, dass er im nächsten Jahr für den Obersten Gerichtshof kandidieren würde.

»Wir sind froh, dass wir ihn haben«, sagte Byrne. »Den Gerüchten zufolge wird er nicht mehr lange bleiben. Ehe Sie sich versehen, wird er auch in Chestnut Hill wohnen.«

Curtin lächelte, doch es war ein aufgesetztes Lächeln ohne Wärme. Der Rechtsanwalt wies auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Die beiden Männer nahmen Platz.

»Darf Charlotta Ihnen etwas bringen? Kaffee? Tee?«

»Nein danke.«

Curtin nickte, worauf die Tür hinter Byrne geschlossen wurde.

»Und was veranlasst Sie, Detective, Ms. Schönburg zu besuchen?«

»Es tut mir leid, aber dazu kann ich mich nicht konkret äußern. Ich kann Ihnen wohl sagen, dass Ms. Schönburg möglicherweise im Besitz von Informationen ist, die eine laufende Ermittlung des Philadelphia Police Departments betreffen.«

Curtin sah ein wenig irritiert aus. »Das wundert mich aber.«

»Und warum?«

»Nun, Sie wissen sicherlich, dass Ms. Schönburg nicht mehr öffentlich in Erscheinung tritt. Sie lebt keineswegs wie eine Einsiedlerin, aber wie Sie verstehen werden, verkehrt sie nicht mehr in den Kreisen, denen sie einst angehörte.«

»Ich verstehe.«

»Sie hat hier im Haus fast immer Gesellschaft, und daher verstehe ich nicht, wie sie in etwas verwickelt sein kann, was kürzlich in Philadelphia geschehen ist.«

»Ich bin hier, um das herauszufinden, Mr. Curtin. Ehe ich mit ihr spreche, möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Wird sie verdächtigt, ein Verbrechen begangen zu haben?«

»Nein«, erwiderte Byrne. »Absolut nicht.«

Curtin stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Er sprach weiter, ohne sich umzudrehen. »Seitdem Ms. Schönburg vor ein paar Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, gab es nicht weniger als hundert Interviewanfragen. Viele Menschen sind noch immer von ihr fasziniert, und zwar nicht nur Liebhaber klassischer Musik, sondern auch die Leser der Klatschpresse.«

»Ich bin nicht hier, um einen Bericht für den Inquirer zu schreiben«, sagte Byrne.

Curtin lächelte wieder – einstudiert und freudlos. »Ich verstehe. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Christa-Marie all diese Anfragen, die an sie gerichtet wurden, kategorisch abgelehnt hat.«

»Sie hat mich kontaktiert, Mr. Curtin.«

Der Anwalt straffte die Schultern. Das hatte er offenbar nicht gewusst. »Natürlich.«

»Ich muss ihr ein paar Fragen stellen, und ich möchte wissen, in welcher Verfassung sie ist. Ist sie bei klarem Verstand?«

»Meistens ja.«

»Und was heißt das genau?«

»Das heißt, dass sie meistens ganz vernünftig ist und gut zurechtkommt. Sie hätte nicht die geringsten Probleme, ihr Leben alleine zu meistern, aber ihr ist es lieber, immer eine psychologisch geschulte Krankenschwester in der Nähe zu haben.«

Byrne nickte, ohne sich dazu zu äußern.

Curtin kehrte langsam zum Schreibtisch zurück und setzte sich auf den wuchtigen Lederstuhl. Er stützte sich mit den Unterarmen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich vor.

»Christa-Marie hat ein hartes Leben hinter sich, Detective. Als Außenstehender mag man meinen, sie hätte ein glamouröses, privilegiertes Leben geführt, und bis zu diesem tragischen Vorfall hat sie sich auch über die zahlreichen Auszeichnungen gefreut, die ihr für ihr Talent und ihre Erfolge verliehen wurden. Doch nach dieser Nacht, angefangen von den Verhören und ihrem Geständnis bis hin zu den achtzehn Monaten in Convent Hill und ihrer Inhaftierung in Muncy …«

Byrne war wie vom Donner gerührt. »Wie bitte?«

Curtin schaute Byrne an.

»Sie haben Convent Hill gesagt?«, fragte Byrne.

»Ja.«

Die psychiatrische Klinik Convent Hill, ein großes, staatliches Krankenhaus für psychisch Kranke, lag mitten in Pennsylvania. Anfang der Neunzigerjahre war die Klinik nach fast hundertjährigem Bestehen geschlossen worden, nachdem immer wieder schwere Vorwürfe wegen der furchtbaren Missstände dort erhoben worden waren.

»Wann war Christa-Marie in Convent Hill?«

»Von ihrer Verurteilung bis zur Schließung der Klinik 1992.«

»Warum wurde sie in diese Klinik eingewiesen?«

»Sie bestand darauf.«

Byrne brauchte einen Moment, um das zu begreifen. »Sie sagen, Christa-Marie bestand darauf, in Convent Hill eingewiesen zu werden? Es war ihre Entscheidung?«

»Ja. Als ihr Anwalt habe ich mich dem selbstverständlich widersetzt. Doch sie engagierte einen anderen Anwalt und setzte sich durch.«

»Und sie hielt sich achtzehn Monate dort auf?«

»Ja. Und anschließend musste sie in der Justizvollzugsanstalt in Muncy ihre Haftstrafe verbüßen.«

Byrne hörte heute zum ersten Mal, dass Christa-Marie einige Zeit in der schlimmsten psychiatrischen Klinik östlich von Chicago verbracht hatte.

Während Byrne noch immer versuchte, die neuen Informationen zu verarbeiten, betrat eine Frau um die vierzig in einem eleganten blauen Kostüm und einer weißen Bluse das Arbeitszimmer.

»Detective, das ist Adele Hancock«, sagte Curtin. »Sie ist Christa-Maries Krankenschwester.«

Byrne stand auf und reichte ihr die Hand.

Adele Hancock war eine gepflegte, sportliche Frau mit der Figur einer Läuferin und kurz geschnittenem grauem Haar.

»Miss Schönburg möchte Sie nun empfangen«, sagte sie.

Curtin stand auf und nahm seinen Mantel und die Aktentasche. Er ging um den Schreibtisch herum und reichte Byrne eine Visitenkarte aus Leinenpapier. »Falls ich noch etwas für Sie tun kann, zögern Sie nicht, mich anzurufen.«

»Vielen Dank, dass Sie Ihre Zeit geopfert haben, Sir.«

»Beste Grüße an Liam.«

Klar, dachte Byrne. Immer freundlich – bis zur nächsten Konfrontation vor Gericht.

Benjamin Curtin nickte Adele Hancock zu und ging hinaus.

Byrne wurde durch einen mit dunklem Holz getäfelten Korridor an einem Raum vorbeigeführt, in dem ein großes Klavier stand. In jener Nacht vor zwanzig Jahren hatte er diesen Flügel des Hauses nicht betreten.

»Muss ich irgendetwas wissen, ehe ich mit ihr spreche?«, fragte Byrne.

»Nein«, erwiderte Adele Hancock. »Vielleicht sollte ich Ihnen aber sagen, dass sie seit Ihrem Anruf über nichts anderes mehr spricht.«

Als sie das Ende des Korridors erreichten, blieb die Frau stehen und deutete auf die letzte Tür. Byrne öffnete sie und betrat eine Art Wintergarten, einen achteckigen Raum mit beschlagenen Fensterscheiben. Überall standen riesige tropische Pflanzen. Aus unsichtbaren Lautsprechern erscholl Musik.

Haben Sie sie gefunden? Den Löwen, den Hahn und den Schwan?

»Guten Tag, Detective.«

Byrne drehte sich zu der Stimme um und sah Christa-Marie Schönburg zum ersten Mal nach zwanzig Jahren wieder.

Echo des Blutes: Thriller
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