3.

Ich höre, dass ein Lieferwagen in die Einfahrt fährt. Kurz darauf klopft es an der Tür. Ich öffne sie. Vor mir steht ein Mann um die vierzig, der schon einen kleinen Bauchansatz hat. Er trägt einen roten Blouson, eine mit Farbflecken übersäte Jeans und ein paar schmutzige Laufschuhe mit ausgefransten Schnürsenkeln. Er hält ein Klemmbrett in der Hand.

»Mr. Marcato?«, fragt der Mann.

Marcato. Ich muss lächeln, als ich den Namen höre.

»Ja.« Ich reiche ihm die Hand. Die Hand des Mannes ist rau und von Schwielen und Farbflecken übersät. Er riecht nach Nikotin und Terpentin.

»Ich bin Kenny Beckman«, sagt er. »Wir haben telefoniert.«

»Stimmt. Kommen Sie doch rein.«

Im Eingangsbereich stehen nur ein paar Plastikmülltonnen und verstaubte Glasvitrinen.

»Puh, was ist denn das für ein Gestank?«, fragt Beckman.

»Das kommt von nebenan. Da war früher mal eine Metzgerei. Ich glaube, die haben in dem Laden Fleisch vergessen, das jetzt verrottet. Ich muss es ihnen sagen.«

»Das sollten Sie tun. Sie können hier kein Geschäft betreiben, wenn es so stinkt.«

»Natürlich nicht.« Ich zeige auf den Raum. »Wie Sie sehen, ist ganz schön was zu tun.«

»Das kann man wohl laut sagen.«

Langsam durchquert Beckman den Raum und streicht über die halb verfallene Wand und über die verstaubten Fensterbänke. Mit der Taschenlampe beleuchtet er die Fußbodenleisten. Er zieht einen Zollstock aus der Tasche, nimmt ein paar Maße und schreibt sie auf das Klemmbrett.

Ich beobachte ihn aufmerksam und versuche einzuschätzen, wie schnell und beweglich er ist.

»Die Bodenbalken hängen durch«, sagt er nach etwa einer Minute. Er hüpft mehrmals auf und nieder, um die morsche Stelle zu finden. Die alten Balken knarren unter seinem Gewicht. »Als Erstes müssen wir die Balken abstützen. Erst wenn der Boden eben ist, kann ich mit den anderen Arbeiten beginnen.«

»Machen Sie alles, was notwendig ist, um das in Ordnung zu bringen.«

Beckman lässt den Blick noch einmal durch den Raum gleiten, um sich eine endgültige Meinung zu bilden. »Es ist eine Menge Arbeit, aber ich glaube, das kriegen wir hin.«

»Gut. Mir wäre es am liebsten, wenn Sie gleich anfangen.«

»Hört sich gut an.«

»Sie wurden mir übrigens wärmstens empfohlen.«

»Ach ja? Von wem denn? Falls Sie mir die Frage gestatten.«

»Ich erinnere mich nicht mehr genau. Es ist schon eine Weile her.«

»Wie lange?«

»Es war am 21. März 2002.«

Als ich das Datum nenne, versteift Kenneth Beckman sich. Er tritt einen Schritt zurück und schaut auf die Tür. »Verzeihung? 2002? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja.«

»März 2002?«

»Ja.«

Er schaut wieder auf die Tür. »Das ist unmöglich.«

»Und warum?«

»Schon allein aus dem Grund, weil ich damals noch gar nicht im Geschäft war.«

»Das kann ich Ihnen erklären«, sage ich. »Kommen Sie. Ich möchte, dass Sie sich noch etwas ansehen.« Ich zeige auf den dunklen Korridor, der zum letzten Zimmer im Erdgeschoss führt. Beckman zögert. Vielleicht spürt er, dass hier etwas nicht ganz stimmt, ohne es genau benennen zu können. Aber er braucht den Auftrag, auch wenn er für einen Sonderling arbeiten soll, der in Rätseln spricht.

Wir gehen den Korridor hinunter. Als wir vor dem Zimmer ankommen, stoße ich die Tür auf. Hier ist der Gestank noch viel intensiver.

»Verdammt!«, ruft Beckman und weicht zurück. Er greift in die Gesäßtasche, zieht ein schmutziges Taschentuch heraus und presst es sich auf den Mund. »Warum zum Teufel stinkt es hier so?«

Der kleine, quadratische Raum ist makellos sauber. In der Mitte stehen zwei Stahltische, die beide im Boden verschraubt sind. Die pechschwarzen Wände wurden aufwendig schallgedämpft. Die niedrige Decke ist mit Akustikplatten verkleidet, die ich per Post bei einer Schweizer Firma bestellt habe, die sich darauf spezialisiert hat, die besten Aufnahmestudios der Welt auszurüsten. Über den Tischen hängt ein Mikrofon. Der Boden ist mit Hochglanzlack gestrichen, aus praktischen Gründen in roter Farbe. Unter den Tischen befindet sich ein Abflussloch.

Auf einem der Tische liegt unter einer weißen Plastikplane eine Gestalt auf dem Rücken, die bis zum Hals zugedeckt ist.

Als Beckman die Leiche sieht und begreift, was das ist, bekommt er weiche Knie.

Ich drehe mich zur Wand um und nehme ein Foto ab. Es ist ein Zeitungsausschnitt und die einzige Dekoration in dem Raum. »Sie war hübsch«, sage ich. »Keine ausgesprochene Schönheit wie zum Beispiel Grace Kelly, aber hübsch unter der ganzen Schminke.« Ich zeige ihm das Foto. »Finden Sie nicht?«

Das unbarmherzige Neonlicht beleuchtet Beckmans vor Angst verzerrtes Gesicht.

»Sagen Sie mir, was passiert ist«, fordere ich ihn auf. »Finden Sie nicht, es ist an der Zeit?«

Beckman weicht zurück und hebt abwehrend die Hand. »Sie sind verrückt, Mann. Ein Psychopath. Ich hau ab.« Er dreht sich um und versucht, die Tür zu öffnen. Sie ist verschlossen. Er drückt und zieht, drückt und zieht und wird immer hektischer, doch die Tür bleibt verschlossen. »Machen Sie die verdammte Tür auf!«

Anstatt die Tür zu öffnen, trete ich vor und ziehe das Tuch von dem Leichnam auf dem Tisch. Der Verwesungsprozess hat bereits eingesetzt. Die Augen sind in die Augenhöhlen gesunken; die Haut ist fahl und hat die Farbe überreifen Korns angenommen. Die Gestalt ist noch als Mensch zu erkennen, obwohl sie ausgemergelt ist und an der Schwelle zur vollständigen Verwesung steht. Die Hände sind grau und schrumpelig, die steifen Finger flehend ausgestreckt. Der ekelerregende Gestank löst bei mir keinen Brechreiz aus. Mittlerweile freue ich mich sogar immer ein wenig darauf.

Ich schaue auf den Zeigefinger der linken Hand des Leichnams. Er trägt das kleine Tattoo eines Schwans. Ich wende mich Beckman zu und sage in meinem besten gebrochenen Italienisch:

»Benvenuto al carnevale!«

Willkommen im Karneval.

Beckman taumelt und prallt gegen die Wand. Der Anblick der Leiche und der frische Verwesungsgestank erschrecken ihn zu Tode. Er versucht zu sprechen, doch die Worte bleiben ihm in der Kehle stecken.

Ich hebe den Taser und drücke ihn auf die Seite von Beckmans Brust. Blaue Blitze zucken durch die Luft. Der Mann bricht auf dem Boden zusammen.

Einen Augenblick lang herrscht Stille.

Grabesstille.

Ich ziehe die drei Mordinstrumente aus den Scheiden und lege sie neben den Profi-Haartrimmer auf den Tisch. Dann öffne ich den Geheimschrank, der hinter einer Tür mit Magnetschloss versteckt ist und in dem die Aufnahmegeräte stehen. Der Anblick des mattschwarzen Lacks der sechs staubfreien antistatischen Komponenten törnt mich geradezu an. Die Wärme, die die Geräte ausstrahlen – ich wärme immer alles mindestens eine Stunde vor einer Session vor –, treibt mir Schweißperlen auf die Stirn. Vielleicht ist es auch nur die Vorfreude.

Beckman ist an den Tisch gefesselt. Ich habe ihm Klebeband auf den Mund geklebt. Sein Kopf steckt in einer neurochirurgischen Kopfzwinge. Dieses Präzisionsgerät wird benutzt, um den Kopf des Patienten während eines stereotaktischen Eingriffs zu fixieren, bevor die Elektroden platziert werden. Bei dieser OP muss der Kopf absolut unbeweglich sein. Vor einem Jahr habe ich das Gerät bei einer deutschen Firma bestellt und per internationaler Postanweisung bezahlt. Ich habe es über mehrere Nachsendeaufträge erhalten.

Ich streife einen Operationskittel über, stelle mich neben den Tisch und klappe ein scharfes Rasiermesser auf. Mit dem Zeigefinger der linken Hand drücke ich auf die weiche Haut auf der Stirn des Mannes. Beckman brüllt in den Knebel, doch es ist nichts zu hören.

Das wird sich ändern.

Mit sicherer Hand füge ich ihm einen ersten Schnitt auf der Stirn zu, genau unterhalb des Haaransatzes. Ich lasse mir Zeit. Ich schaue zu, wie die Haut sich langsam teilt und das glänzende rosafarbene Gewebe darunter sichtbar wird. Die chirurgische Kopfzwinge funktioniert hervorragend. Der Mann kann den Kopf keinen Millimeter bewegen. Mit einem Fußpedal drücke ich auf Aufnahme und ziehe ihm anschließend den Knebel aus dem Mund.

Der Mann schnappt nach Luft. Aus den Mundwinkeln rinnt rosafarbener Schaum. Er hat sich auf die Zunge gebissen.

Er beginnt zu schreien.

Ich überprüfe die Lautstärke und reguliere sie ein wenig. Beckmann schreit wie am Spieß. Jetzt rinnt über beide Seiten seines Gesichts Blut auf den polierten Stahltisch und tropft dann auf den lackierten Boden.

Ein paar Minuten später wische ich das Blut mit einem Alkoholtupfer von Beckmans Stirn. Ich beginne mit der Arbeit an seinem rechten Ohr. Als ich fertig bin, nehme ich ein Maßband, messe von dem Schnitt auf der Stirn hinunter zum Ohr und markiere die Stelle mit einem roten Filzstift. Dann nehme ich das zweite Mordinstrument in die Hand und halte es ins Licht. Der Bohrer aus Carbonstahl schimmert dunkelblau.

Nach einem letzten Check der Lautstärke beginne ich mit dem vorletzten Akt. Bedächtig und besonnen – largo, könnte man sagen – fahre ich fort, in der Gewissheit, dass nur ein paar Schritte von hier auf der anderen Seite der Mauer das Leben in der Stadt Philadelphia seinen Lauf nimmt, ohne dass sie etwas von der Symphonie ahnt, die in diesem unscheinbaren Haus komponiert wird.

Sind nicht die größten Kunstwerke der Geschichte in bescheidener Umgebung entstanden?

Klipp-klapp, klipp-klapp.

Ich bin der rhythmische Tod.

Als der Bohrer die höchste Drehzahl erreicht und die rasiermesserscharfe Spitze sich der Haut nähert, die den Stirnknochen genau über dem rechten Auge bedeckt, erreichen die Schreie von Kenneth Arnold Beckman ein wunderbares Volumen, eine zweite Oktave. Die Stimme trifft nicht den richtigen Ton, aber das kann ich später noch korrigieren. Im Augenblick besteht kein Grund zur Eile. Nicht im Geringsten.

Wir haben den ganzen Tag Zeit.

Echo des Blutes: Thriller
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