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Wie ein riesiger Raubvogel saß der gewaltige Gebäudekomplex oben auf der Anhöhe. An den Mittelteil, der vermutlich vier Stockwerke hoch und wohl dreißig Meter breit war, schlossen sich auf beiden Seiten weit ausladende Flügel an. Sie waren beide mit einer Reihe von Türmen versehen, die in den Morgenhimmel ragten. Die Anlagen rund um das Gebäude, die einstmals sorgfältig gepflegt wurden und in denen prächtige Hemlocktannen, Rotkiefern und Eschenahorne standen, lagen schon seit Jahrzehnten brach. Stürme und Blitze hatten den Wald verwüstet, und Bäume und Sträucher waren abgestorben und verkrüppelt. Die einst beeindruckende Bogenbrücke aus Stein über dem künstlich angelegten Bach, der sich durch das Gelände schlängelte, war längst verfallen.
Im Jahr 1891 hatte die Erzdiözese den Bau eines Nonnenklosters oben auf dem Hügel, etwa vierzig Meilen nordwestlich von Philadelphia, genehmigt. Das Hauptgebäude wurde 1893 fertiggestellt und bot mehr als vier Dutzend Ordensschwestern Unterkunft. Neben dem Gemüse, das auf sechs Hektar Ackerland in der Nähe des Klosters angebaut wurde, und dem Getreide für das traditionell im Steinofen gebackene Brot lieferte der fruchtbare Boden rund um das Kloster Nahrungsmittel für Obdachlosenasyle in den Countys Montgomery, Bucks und Berks. Die Brombeermarmelade der Nonnen gewann Preise im ganzen Land.
1907 erhängten sich vier Ordensschwestern an einem Balken im Glockenturm. Die Kirche, die ohnehin Probleme hatte, Novizinnen für das Nonnenkloster zu gewinnen, verkaufte die Gebäude und Grundstücke an den Staat Pennsylvania.
Fünf Jahre später wurden vier neue Flügel an das ehemalige Kloster angebaut. Nachdem unter anderem zwei Vortragssäle, zwei Obduktionssäle, eine hochmoderne Chirurgie und in einem Apfelhain eine nicht-konfessionelle Kapelle entstanden waren, öffnete die Convent Hill Mental Health Facility ihre Pforten. Mit den zweihundert Betten, dem weitläufigen Gelände und dem hervorragenden Personal erwarb sich die Einrichtung schnell den Ruf einer der modernsten psychiatrischen Kliniken im Osten der Vereinigten Staaten.
Die Hauptaufgabe dieser Klinik bestand in der Behandlung und Rehabilitation psychisch Kranker. Daneben verfügte sie über einen Sicherheitstrakt, dessen Träger der Staat Pennsylvania war, der auch das Personal stellte. In den zwanzig Betten schliefen einige der schlimmsten Verbrecher des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.
Anfang der Fünfzigerjahre gingen der Klinik die Gelder aus. Mitarbeiter wurden entlassen und die Gebäude nicht mehr instand gehalten. Die medizinischen Geräte veralteten, und da sie nicht repariert wurden, versagten sie irgendwann den Dienst. Es kursierten Gerüchte über menschenunwürdige Zustände in Convent Hill. In den Siebzigerjahren wurde ein Dokumentarfilm gedreht, der die erbärmlichen und abscheulichen Zustände offenlegte. Es folgte ein Aufschrei der Empörung in der Öffentlichkeit und in der Politik, und in die Klinik wurden eine Million Dollar gepumpt.
1980 war Convent Hill wieder in Vergessenheit geraten. Erneut liefen Gerüchte über Korruption und ungeheuerliche Missstände um. Doch die Öffentlichkeit regt sich immer nur eine gewisse Zeit lang über irgendetwas auf.
Schließlich schloss Convent Hill 1992 endgültig seine Pforten, und die Häftlinge und Patienten wurden in andere staatliche psychiatrische Kliniken sowie in Justizvollzugsanstalten in New York und Pennsylvania verlegt.
In den nächsten achtzehn Jahren war das Anwesen den Elementen, Vandalen, Geisterjägern und Obdachlosen preisgegeben. Es wurden noch ein paar Anstrengungen unternommen, die Gebäude vor dem Verfall zu retten, doch angesichts des fast achtzig Hektar großen Geländes, das zudem größtenteils an Wälder grenzte, und der zahlreichen Eingänge war dies schier unmöglich.
An der Steinmauer neben der gewundenen Straße, die zum Haupteingang führte, hing noch immer ein Schild. Als Kevin Byrne und Christa-Marie Schönburg näher kamen, sah Byrne, dass jemand auf dem Schild herumgeschmiert und den Wortlaut verändert hatte. Es kündigte nun nicht mehr die Zufahrt zu der einst hochmodernen psychiatrischen Klinik CONVENT HILL an, einem Ort der Genesung und der Rehabilitation, einem Ort der Ruhe und des Friedens.
Nun wurde die Zufahrt zu einem Ort namens CONVICT HILL – der STRÄFLINGSHÖLLE – angekündigt.
Als sie die kurvenreiche Straße zum Hauptgebäude hinauffuhren, kam leichter Nebel auf. Die umliegenden Wälder wurden in perlgrauen Dunst gehüllt.
Byrne fragte sich, was er hier eigentlich tat. Er wusste, dass die Zeit lief und er in der Stadt gebraucht wurde. Doch er war überzeugt, dass die Antworten auf zu viele Fragen der Vergangenheit und der Gegenwart in Christa-Maries Kopf steckten.
»Kommst du Halloween wieder hierher?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich möchte dir einen besonderen Ort auf dem Land zeigen. Wir machen uns einen schönen Tag. Wir werden viel Spaß haben.«
Einen besonderen Ort.
Christa-Marie wollte aus einem ganz bestimmten Grund, dass er sich den Ort ansah.
Byrne wusste, dass er die Chance nutzen musste.
Je höher sie den Hügel hinauffuhren, desto mehr nahm die Steigung ab. Kiefern und kahle Ahornbäume verdeckten noch immer die Sicht auf die Gebäude. Die Wege waren von morschen Ästen und Kiefern übersät. Das bogenförmige Portal war an beiden Seiten von palladianischen Fenstern flankiert. Das Dach zierte eine große Kuppel mit zwei kleinen Wachtürmen.
Als Byrne den Wagen parkte, hörte er Lerchen singen: Sie kündigten einen Sturm an. Der Wind frischte auf. Er schien die Gebäude mit eisigem Griff zu umklammern, sodass das Grauen im Inneren nicht nach außen dringen konnte.
Byrne stieg aus und öffnete Christa-Marie die Tür. Sie reichte ihm ihre schmale Hand, und sie stiegen die verfallenen Stufen hinauf.
Die gewaltige Eichentür hing in massiven, verrosteten Angeln. Im Laufe der Jahre hatten die Leute Sprüche, Bitten, Geständnisse und Beschimpfungen auf die Tür geschmiert. Rechts vom Eingang war eine Inschrift in den verwitterten Stein gemeißelt worden.
Christa-Marie drehte sich aufgeregt zu Byrne um.
»Mach ein Foto von mir«, bat sie ihn. Sie strich sich die Haare glatt und band sich den Seidenschal um den Hals. In dem fahlen Morgenlicht sah Christa-Marie wunderschön aus.
Byrne hatte nicht vorgehabt, hier Fotos zu machen. Dennoch nahm er sein Handy heraus, klappte es auf und fotografierte Christa-Marie vor dem Eingang.
Er steckte das Handy wieder ein, stemmte sich gegen die schwere Tür und stieß sie auf. Eine kalte Brise fegte durch die Eingangshalle und wirbelte den Staub und Dreck von Jahrzehnten auf.
Gemeinsam traten sie über die Schwelle in Christa-Marie Schönburgs Vergangenheit, in die furchterregenden Gemäuer von Convent Hill.