59.

Das Prentiss Institute of Music in der Locust Street, gegenüber vom Rittenhouse Square, war in einem stattlichen Herrenhaus, einem imposanten georgianischen Sandsteingebäude aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, untergebracht. In der Welt der klassischen Musik stand für viele diese Musikhochschule in Philadelphia auf einer Stufe mit der Juilliard School in New York. Viele Mitglieder des Philadelphia Orchestra hatten am Prentiss Institute studiert. Die meisten Kurse fanden auf Hochschulniveau statt, doch es gab auch Vorbereitungskurse. Viele bedeutende Musiker der großen Orchester auf der ganzen Welt hatten am Prentiss ihre Ausbildung absolviert.

Aufgrund des hohen Ansehens dieses Konservatoriums und der späten Stunde hielt Byrne es für angebracht, bei der Staatsanwaltschaft anzurufen. Diese rief daraufhin in der Schule an und vereinbarte für Jessica und Byrne einen Termin.

Der Dekan des Prentiss Institute of Music war ein gewisser Frederic Duchesne. Ein großer Mann um die vierzig mit markanten Gesichtszügen, schon ein wenig lichtem blondem Haar, braunen Augen und sportlich-eleganter Kleidung. Er empfing sie am Eingang des Instituts, schloss die Tür hinter ihnen und führte sie in sein Büro, einen großzügig geschnittenen, weiß getäfelten Raum im Erdgeschoss. Überall standen Notenständer mit Notenblättern, hohe CD-Stapel und verschiedene Musikinstrumente in ihren mit Samt ausgeschlagenen Kästen. An einer Wand hing ein großes, gerahmtes Exemplar der Gründungsurkunde der Schule. Duchesne bot ihnen Kaffee an, doch Jessica und Byrne lehnten ab. Sie nahmen alle Platz.

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns zu sprechen«, sagte Byrne. »Und dann auch noch zu so später Stunde.«

»Das ist kein Problem. Ich bin oft bis Mitternacht im Hause. Es gibt immer etwas zu tun.« Mit zerstreuter Miene sortierte er ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch, dann hörte er damit wieder auf. Vielleicht begriff er, dass es hoffnungslos war. Er wandte sich den beiden Detectives zu. »Es kommt nicht oft vor, dass wir Besuch von der Polizei bekommen.«

»Wir haben nur ein paar Fragen«, sagte Byrne.

»Ich nehme an, es hat etwas mit Joseph Novak zu tun.«

»Das ist richtig.«

Duchesne nickte. »Ich habe es in den Nachrichten gehört.«

»Was können Sie uns über Novak sagen?«

»Ich glaube, zwischen Mr. Novak und dem Prentiss bestand zehn Jahre lang eine lose Verbindung.«

»War er hier angestellt?«

»Nein, nein. Er hat freiberuflich bei verschiedenen Aufnahmen als Tonmeister gearbeitet. Das Institut engagiert verschiedene Toningenieure, je nachdem, um was für ein Projekt es sich handelt.«

Byrne zeigte ihm die CD, die er von Christa-Marie erhalten hatte. »Bei diesem Projekt hat er mitgearbeitet?«

Duchesne setzte seine Brille auf. Als er die CD sah, lächelte er. »Das wurde vor über zwanzig Jahren aufgenommen. Novak hat bei der Originalaufnahme nicht mitgewirkt, sondern nur bei der Neubearbeitung.«

»Kannten Sie Joseph Novak?«

»Wir sind uns ein oder zwei Mal begegnet. Ich persönlich habe aber nie mit ihm zusammengearbeitet.« Duchesne schüttelte den Kopf. »Das ist eine furchtbare Tragödie.«

»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

Duchesne dachte kurz nach. »Das muss etwa zwei Jahre her sein.«

»Seitdem hatten Sie keinen Kontakt zu ihm?«

»Nein.«

»Wissen Sie, bei wie vielen Aufnahmen er hier mitgearbeitet hat?«

»So aus dem Stegreif kann ich Ihnen das nicht sagen. Ich kann mich aber gerne erkundigen.«

Byrne schaute auf seine Notizen. »Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Einige werden Ihnen vielleicht banal erscheinen.«

Duchesne hob eine Hand. »Kein Problem. Das hier ist ein Ort des Lernens.«

»Würden Sie uns bitte etwas über das Institut erzählen?«

»Möchten Sie die Touristenversion oder die für potenzielle Spender?«

»Die für Touristen«, sagte Byrne. »Zunächst einmal.«

Duchesne lächelte und nickte. »Das Institut wurde 1924 von einer Frau namens Eugenie Prentiss Holzman gegründet. Es gilt heute weltweit als eines der führenden Konservatorien. Es ist nicht einfach, hier aufgenommen zu werden, aber der Unterricht ist kostenlos. Mehrere derzeitige Mitglieder des Philadelphia Orchestra geben hier Unterricht.«

»Wie viele Studenten haben Sie?«

»Im Augenblick um die hundertsechzig.«

»Und der Unterricht ist kostenlos?«

»Ja, aber nicht die Privatstunden.«

»Teuer?«

»Sehr«, sagte Duchesne. »Die Kosten für eine Stunde können ziemlich hoch sein.«

Duchesne fuhr fort und informierte sie, nach welchem Verfahren das Institut seine Studenten auswählte und wie der normale Lehrplan aussah. Er nannte auch die Namen einiger bekannter ehemaliger Studenten. Es war eine beeindruckende Liste. Dann verstummte er, langte in eine Schreibtischschublade, zog zwei große, farbige Broschüren heraus und reichte den beiden Detectives jeweils eine. Die Publikation hieß Grace Notes.

»Prentiss veröffentlicht diese Broschüre vierteljährlich«, erklärte Duchesne ihnen. »In diesem Heft finden Sie alle Hintergrundinformationen, die Sie brauchen.«

Jessica und Byrne blätterten sie durch. Byrne hielt sein Exemplar hoch und bedankte sich.

Duchesne nickte.

»Eine letzte Frage hätte ich noch«, sagte Byrne.

»Natürlich.«

»Gibt es bei der Orchestermusik – den Symphonien – immer auch eine Textvorlage?«

»Eine Textvorlage?«

»Wie beim Musical. Jemand schreibt ein Buch, ein anderer schreibt die Musik und ein Dritter schreibt den Songtext.«

»Ich kann mir ungefähr vorstellen, was Sie meinen. Sie möchten wissen, ob eine Symphonie auch eine Geschichte erzählt.«

»Ja.«

»Das ist eine schwierige Frage. Eine Frage, über die lange Zeit heftig diskutiert und gestritten wurde. Ich glaube das, was Sie meinen, sofern es instrumentale Musik anbelangt, nennt man Programmmusik.«

»Zur Programmmusik gehört eine Geschichte?«

»Ja und nein. In ihrer reinsten Form kann Programmmusik eine Geschichte auch nur andeuten.«

»Ein Musikstück, das einem erzählerischen Ansatz folgt, muss also nicht unbedingt kohärent sein?«

Duchesne lächelte. »Sagen Sie mal, Detective, wo haben Sie Musik studiert?«

»In einer kleinen Eckkneipe.«

»Bei dem geschätzten Mr. Johnson?«

»Genau«, sagte Byrne. »Meine Interessen liegen auf einem anderen Gebiet.«

Duchesne dachte kurz nach. »Um Ihre scharfsinnige Frage zu beantworten – ja. Größtenteils. Es gibt ein paar Ausnahmen, und eine davon sind Vivaldis Vier Jahreszeiten

Obwohl Jessica sich redlich bemühte, dem Gespräch aufmerksam zu folgen, verstand sie nur wenig. Byrne machte sich detaillierte Notizen. Sie hoffte, dass er seine unleserliche Schrift später noch entziffern konnte und alles verstand. Sobald es um klassische Musik ging, war sie vollkommen aufgeschmissen. Wenn jemand den Barbier von Sevilla erwähnte, musste sie an Bugs Bunny denken.

»Gibt es symphonische Dichtungen, Programmmusik, die Tiersymbolik beinhalten?«

»Ach du meine Güte. Sehr viele.«

»Vor allem einen Löwen, einen Hahn, einen Schwan oder einen Fisch?«

»Das ist vermutlich die bekannteste von allen. Karneval der Tiere«, erwiderte Duchesne, ohne einen Augenblick zu zögern. »Es ist eine musikalische Suite mit vierzehn Sätzen. Sehr beliebt.«

»In den einzelnen Sätzen geht es immer um Tiere?«

»Nicht in allen.«

»Wer war der Komponist?«, fragte Byrne.

»Karneval der Tiere wurde von einem großen Vertreter des vertonten Gedichtes geschrieben. Einem französischen Komponisten der Romantik namens Camille Saint-Saëns.«

»Haben Sie Informationen darüber, die Sie uns zur Verfügung stellen könnten?«, fragte Byrne.

»Natürlich«, sagte Duchesne. »Es wird einen Moment dauern, bis ich sie alle zusammengestellt habe. Möchten Sie warten?«

»Würden Sie uns die Informationen faxen, sobald Sie sie haben?«

»Sicher. Ich kümmere mich sofort darum.«

Jessica und Byrne standen auf. »Wir sind Ihnen sehr verbunden«, sagte Byrne und reichte dem Mann seine Visitenkarte.

»Gern geschehen.« Duchesne führte die beiden durch die Halle zum Ausgang.

»Waren Sie schon an diesem Institut, als Christa-Marie Schönburg hier studiert hat?«, fragte Byrne.

»Nein. Ich bin seit fast zwanzig Jahren hier tätig, aber damals hatte sie uns schon verlassen.«

»Hat sie auch hier unterrichtet?«

»Ja, hat sie. Nur für zwei Jahre oder so, doch ich habe gehört, dass sie ein ganz besonderer Mensch gewesen sein soll. Die Studenten haben sie geliebt.«

Sie stiegen die Treppe zum Seiteneingang des Prentiss Institute hinunter.

»Vielleicht dürfen Sie nicht darüber sprechen, aber ich würde Sie dennoch gerne fragen, ob diese ganze Sache etwas mit Ms. Schönburg zu tun hat«, sagte Duchesne.

»Nein«, erwiderte Byrne, der hervorragend lügen konnte, wenn es die Situation erforderte. »Ich bin nur ein großer Fan von ihr.«

Duchesne sah auf die Wand neben der Tür. Jessica folgte seinem Blick. Zwischen hübsch angeordneten Porträts junger Musiker – Violinisten, Pianisten, Flötisten, Oboisten – hing in einem wertvollen Rahmen das Bild der jungen Christa-Marie Schönburg, die in einem Übungsraum im Prentiss Institute saß.

Sie gingen schweigend zurück zum Wagen. Er stand in der Nähe der Locust Street in einer kleinen Gasse, die Mozart Place hieß.

»Du hast es auch gesehen, nicht wahr?«, sagte Jessica schließlich.

»Klar.«

»War es dasselbe?«

»Dasselbe.«

Auf dem Foto von Christa-Marie neben der Tür, das vor über zwei Jahrzehnten aufgenommen worden war, trug sie einen Armreif aus Edelstahl mit einem großen Granatstein.

Dasselbe Armband hatten sie auf dem Regal in Joseph Novaks Wohnung gesehen.

Echo des Blutes: Thriller
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