9.

Mit wachsamem Blick und geschärften Sinnen ging Byrne auf das Tatorthaus zu. Sein Adrenalinspiegel stieg steil an. Das war seltsam, vorsichtig ausgedrückt. Gleichgültig, wie müde er war – heute lag seine Müdigkeit auf einer Skala von eins bis zehn bei sieben –, sobald er an einen Tatort kam, fiel alle Erschöpfung von ihm ab. Tatorte waren für Ermittler wie eine Droge, die sie süchtig machte, in Euphorie versetzte, aufputschte und die ihnen letztendlich jegliche Energie raubte. Es gab kein vergleichbares Gefühl. Das beste Essen, der beste Wein und sogar fantastischer Sex konnten damit nicht konkurrieren.

Okay, dachte Byrne. Sex vielleicht.

Er konzentrierte sich auf die ummittelbare Umgebung des Hauses, in dem sie die Leiche gefunden hatten. In der Luft hing der Gestank von verfaultem Obst. Er kam aus dem Müllcontainer, der ein paar Meter entfernt stand. Und aus dem ehemaligen Schuhgeschäft drang der unverkennbare Geruch des Todes.

Byrne stieg die Treppe hinunter und betrat das Haus. Obwohl der Gestank fast unerträglich war, nahm er ihn nicht als Erstes wahr. Stattdessen hatte er das Gefühl, soeben eine Grenze überschritten zu haben und in die Psyche eines Killers, in das Reich eines Wahnsinnigen eingetaucht zu sein.

Es ist ein Einvernehmen, ein Gleichgewicht, eine Partnerschaft.

Byrne blieb stehen und wartete auf mehr. Nichts. Noch nicht.

Nicht nur der Termin im Schlaflabor stand ihm bevor, sondern auch die jährliche Magnetresonanztomografie. Seitdem Byrne vor fünf Jahren bei einem Schusswechsel beinahe tödlich verwundet worden war, musste er sich jedes Jahr einem MRT unterziehen. Er kannte alle Leute in der Radiologie des Krankenhauses, und die Stimmung war bei seinen Besuchen dort immer unbeschwert. Doch sie wussten alle, warum er kommen musste. Es bestand die Gefahr, dass er einen Hirntumor bekam. Byrne hatte alles über diese Krankheit und ihre Symptome gelesen – Blackouts, Stimmen im Kopf, mitunter unerklärliche Gerüche.

Bei einer anderen Ermittlung viele Jahre zuvor hatte er einen Verdächtigen in einer Kneipe unter der Walt Whitman Bridge gestellt. Bei der Verhaftung kam es zu einem Kampf, und Byrne stürzte mit dem Verdächtigen in den eiskalten Delaware River. Als sie ihn schließlich aus dem Wasser zogen, wurde er für tot erklärt. Eine volle Minute später kam er wieder zu sich.

Kurz danach begannen die Visionen, es waren jedoch nie ganz deutliche Erscheinungen. Man durfte es sich nicht etwa so vorstellen, dass er einen Tatort betrat, die Augen schloss und das Verbrechen dann in Technicolor und mit THX-Sound vor ihm ablief. Vielmehr war es eher ein Gefühl, das ihn mitunter ins Reich der Sinne und Empfindungen führte, und meistens bekam er ein Gespür für das Opfer und den Täter. Ein Gedanke, ein Traum, ein Wunsch, eine Gewohnheit.

Byrne hatte Gruppentherapiesitzungen jeder Art und sogar eine Regressionstherapiegruppe besucht. Er hatte gehofft, dadurch wieder zu dem Augenblick vor dem Unfall und dem Sturz in den eisigen Fluss zurückkehren zu können und wieder der Mensch zu werden, der er vor dem Unfall gewesen war. Mittlerweile wusste Byrne, dass ihm keine Therapie helfen konnte.

In den folgenden Jahren ließen die Visionen genauso nach wie die Migräneanfälle, die immer gleichzeitig auftraten. Inzwischen litt er nur noch selten darunter.

In letzter Zeit hatte Byrne keinen schlimmen Migräneanfall mehr gehabt, aber er wusste, dass in seinem Inneren etwas geschah. Mehr als einmal hatte er in den letzten Monaten etwas gespürt … keine Schmerzen, sondern nur ein dumpfes Gefühl im Kopf, verbunden mit einer leichten Trübung des Blicks. Und mit diesen Empfindungen gingen die deutlichsten Visionen einher, die er jemals gehabt hatte, und sie waren nun von Tönen begleitet. Manchmal folgte dann ein Blackout.

Byrne wusste noch nicht, ob er mit seinem Arzt darüber sprechen wollte. Wenn er es tat, zöge das unweigerlich weitere Untersuchungen nach sich.

Byrne betrat im Keller den Raum, in dem der tote Mann auf dem Boden lag. Als er daran dachte, dass vor knapp vierundzwanzig Stunden an dieser Stelle ein Mörder gestanden und dieselbe Luft geatmet hatte, beschleunigte sich sein Herzschlag.

Er wollte sich die Leiche gerade genauer anschauen, da spürte er, dass sein Kopf warm wurde. Byrne hielt sich am Türrahmen fest und blieb einen Augenblick reglos stehen. Mit der Wärme kam das Wissen, dass …

etwas viele Jahre lang geschwelt hatte, ein Gefühl des Verlusts und des Begehrens, eine heimliche Leidenschaft, die für immer unerfüllt bleiben wird, eine nicht gelebte, unbeschreibliche Lovestory, der Wunsch, ein Vermächtnis zu hinterlassen …

Byrne kniete sich auf den Boden, streifte einen Latexhandschuh über und zog ihn dann sofort wieder aus. Er musste das Fleisch spüren. Zwischen der Haut des Toten und seinen Empfindungen entspann sich ein Dialog. Ein Vorgesetzter oder ein Mitarbeiter aus der Rechtsmedizin hätten sicherlich Einwände erhoben. Doch das interessierte Byrne im Augenblick nicht. Er war allein mit dem Toten und dem, was sich hier in diesem Raum abgespielt hatte, allein mit dieser unsäglichen Wut, die jemanden dazu getrieben hatte, einem Menschen auf so brutale Weise das Leben zu nehmen.

Er war mit sich allein.

Kevin Byrne legte einen Finger auf die Lippen des Toten. Er schloss die Augen und lauschte, und der Tote sprach.

Echo des Blutes: Thriller
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