98.

Im Haus herrschte eine so absolute, bedrückende Stille, wie sie in einem kleinen Raum niemals möglich wäre. Nur der Regen, der ab und zu an die riesigen Fenster in dem großen Zimmer prasselte, störte die Stille, und hin und wieder schlug ein Zweig gegen die Dachrinne.

Jessica hatte den größten Teil ihres Lebens in zu kleinen Häusern gelebt, wo schon ein Wandschrank oder ein winziger Raum, die für zusätzlichen Platz sorgten, ein großer Segen waren. Leute, die in Philadelphia in Reihenhäusern wohnten, kannten dieses Problem nur allzu gut. Aber dieses Anwesen mit den hohen Decken, den breiten Türen und den riesigen Räumen war zu groß. Jessica konnte sich nicht vorstellen, in einem so herrschaftlichen Haus zu wohnen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass das jemals geschah, nicht nur gegen null tendierte, sondern de facto bei null lag.

Jessica hatte es eilig, ins Roundhouse zurückzukehren. Als sie einen Blick aus dem Fenster warf, klingelte ihr Handy. Sie zuckte zusammen und hoffte, Josh würde sie informieren, dass er sich auf den Weg gemacht hatte. Es war nicht Josh, sondern eine ihr unbekannte Nummer. Jessica meldete sich.

»Hallo?«

»Eigentlich wollte ich Detective Byrne sprechen.«

Es war die Stimme eines Mannes.

»Mit wem spreche ich?«, fragte Jessica.

»Mein Name ist Robert Cole. Ich versuche, Kevin Byrne zu erreichen. Er hat mir zur Sicherheit diese Nummer gegeben.«

»Ich bin seine Partnerin, Detective Balzano. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

»Ich habe diese Untersuchung für ihn durchgeführt.«

»Welche Untersuchung?«

»Er bat mich, für ihn am Dienstweg vorbei einen DNA-Test durchzuführen. Es geht um einen ungelösten Fall.«

»Verzeihung, bei welcher Behörde arbeiten Sie?«

Cole erklärte ihr, dass er ein privates, unabhängiges Labor betrieb und dass er diese Untersuchung für Byrne inoffiziell durchgeführt hatte. Es handle sich um den zwanzig Jahre zurückliegenden Mord an Gabriel Thorne, fügte er hinzu.

»Welche Unterlagen liegen Ihnen vor?«, fragte Jessica.

»Ich habe Kopien der ganzen Akte.«

»Auch die Tatortfotos?«

»Ja.«

»Könnten Sie mir die Ergebnisse des DNA-Tests und die Tatortfotos mailen?«

»Klar«, sagte Cole. »Die Fotos kann ich Ihnen sofort schicken, aber die Ergebnisse des DNA-Tests einzuscannen wird ein paar Minuten dauern. Der Scanner ist an einen anderen Computer angeschlossen.«

Jessica gab ihm ihre E-Mail-Adresse. Dreißig Sekunden später erhielt sie die Datei auf ihrem iPhone. Jessica klickte die Datei an und öffnete sie.

Cole hatte ihr vier Fotos geschickt, unter anderem eines von der Eingangshalle, in der sie sich gerade aufhielt. Der Gedanke, dass dieses Foto vor zwanzig Jahren an der Stelle, an der sie nun stand, aufgenommen worden war, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

Das Foto der Küche glich einem Horrorszenario. Gabriel Thornes Leichnam lag ausgestreckt auf den weißen Küchenfliesen in einer Blutlache neben der Kochinsel. Er schien regelrecht hingemetzelt worden zu sein.

Jessica lief den breiten Korridor hinunter bis zur Küche und schaltete das Licht ein. Der Raum hatte sich nicht verändert. Dieselbe Kochinsel, dieselben weißen Fliesen, dieselbe Beleuchtung. Während Jessicas Blick zwischen dem Foto und der Küche hin und her wanderte, verglich sie die einzelnen Teile miteinander. Es war fast unheimlich, aber bis hin zur Farbe der Handtücher an dem Handtuchhalter neben der Spüle stimmte alles überein.

Die beiden anderen Fotos zeigten den Flur, der von der Küche in die Speisekammer führte, und das Musikzimmer, das neben der Speisekammer lag. Auch das Musikzimmer glich dem Foto fast aufs Haar, nur dass jetzt kein Blut auf dem Cello klebte.

Der kurzen Zusammenfassung zufolge, die den Fotos beigefügt war, ging man davon aus, dass Christa-Marie Schönburg im Musikzimmer auf Gabriel Thorne eingestochen hatte und ihm dann in die Küche gefolgt war. Als er zusammenbrach, stach sie weiter auf ihn ein.

Jessica versuchte sich vorzustellen, was in jener Nacht geschehen war. Es gelang ihr nicht. Sie wusste aber, was sie tun musste. Da sie das Haus gleich verlassen und hinter sich abschließen würde, hielt sie es für ratsam, die Dutzende von Kerzen, die im Musikzimmer brannten, zu löschen. Sie pustete sie nacheinander aus. Der Geruch des verbrannten Wachses stieg ihr in die Nase.

Als der Raum nur noch vom Licht der Gaslampen auf der Veranda an der Rückseite des Hauses erhellt wurde, lief Jessica zurück in die Eingangshalle und schaute auf die Uhr. Wo zum Teufel blieb Josh? Sie rief ihn an, doch es meldete sich nur die Mailbox.

Noch ehe Jessica eine Entscheidung treffen konnte, klingelte ihr Handy. Als sie sich meldete, hörte sie nur ein Rauschen. Sie lief auf die Eingangstür zu, bekam aber auch dort kein Signal. Als sie das große Zimmer durchquerte, verstand sie endlich alles, was Robert Cole sagte.

»Haben Sie die Fotos bekommen?«, fragte er.

»Ja.«

»Ich habe Probleme, die Ergebnisse der DNA-Tests einzuscannen. Ich kann es noch einmal versuchen, oder ich lese Ihnen die Ergebnisse vor. Was ist Ihnen lieber?«

»Lesen Sie sie am besten vor.«

Cole las ihr den Bericht vor. Jessica stockte der Atem. Wie sich herausstellte, klebte auf der Mordwaffe und dem Küchenboden nicht nur das Blut von Gabriel Thorne und Christa-Marie, sondern es waren noch zwei andere eindeutige DNA-Profile gefunden worden.

Mit anderen Worten, es hatten sich noch zwei weitere Personen in der Mordnacht in diesem Haus aufgehalten.

Was bedeutete das für den Fall? Was bedeutete es für Christa-Maries Schuld in jener Nacht vor zwanzig Jahren?

Als Cole ihr die restlichen Angaben durchgab, bekam sie Gänsehaut auf den Armen.

Jessica bedankte sich und beendete das Gespräch. Sie war vollkommen durcheinander.

Das änderte alles.

Jessica ging zur Eingangstür, öffnete sie und erwartete, einen Streifenwagen vom Vierzehnten Revier am Tor stehen zu sehen. Dort stand aber keiner. Das war seltsam. In den nächsten vierundzwanzig Stunden würde das Haus nicht auf Spuren untersucht werden, und da war ein Streifenwagen Standard.

Sie rief über Funk die Einsatzzentrale an. Keine Antwort.

Was ging hier vor?

Sie schloss die Tür und kehrte in die Eingangshalle zurück.

Und da hörte Jessica Balzano die Musik.

Echo des Blutes: Thriller
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