100.

Die Person im Flur bewegte sich nicht. Christa-Marie spielte weiter. Die Töne stiegen und fielen mit dem Rauschen des Windes draußen. Als das Stück ein Crescendo erreichte, betrat Jessica das Musikzimmer.

»Ist es jetzt?«, fragte die Person auf dem Gang.

Jessica wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Wenn sie die falsche Antwort gab, konnte zu viel schiefgehen.

Die Person trat aus dem Schatten heraus.

Michael Drummond hatte sich umgezogen. Er trug nun einen dunkelblauen Anzug mit abgewetzten Ärmeln. So ein Anzug mochte für fünfzehnjährige Jungen einst modern gewesen sein, als Drummond Gast und vermutlich Musikschüler in diesem Haus gewesen war.

Eine Tasche seiner Anzugjacke war ausgebeult. Jessica schaute auf seine Hände.

»Die Lehrerin ist böse mit mir«, sagte Drummond leise.

Jessica spähte zu Christa-Marie hinüber. Sie war vollkommen in ihr Cellospiel versunken.

»Ist es jetzt?«, fragte Drummond noch einmal.

»Nein«, sagte Jessica. »Es ist damals, Michael. Es ist die Halloween-Nacht 1990.«

Drummond schien es verstanden zu haben. Jessica erkannte an seinem milden Gesichtsausdruck, dass er im Geiste in die damalige Nacht zurückkehrte, als noch alles möglich war, als die Liebe in seinem Herzen brannte und er noch nicht durch das, was kommen sollte, vollkommen abgestumpft war.

»Erzählen Sie mir von jener Nacht«, sagte Jessica und schob sich Zentimeter für Zentimeter weiter auf ihn zu.

»Wir waren im Konzert. Joseph und ich.«

»Joseph Novak?«

»Ja. Als wir zurückkamen, war er hier.«

»Dr. Thorne?«

»Dr. Thorne!« Drummond stieß den Namen wie ein Schimpfwort aus und sah kurz in die Küche. Jessica kam ihm so unauffällig wie möglich näher.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Wir haben gestritten.«

Als Jessica sich ihm noch ein bisschen weiter näherte, sah sie einen Schatten zu ihrer Linken, bei der Küchentür, nur wenige Schritte von Michael Drummond entfernt. Sie schaute genauer hin, und das tat Drummond ebenfalls. Dort stand jemand.

»Joseph?«, fragte Drummond.

Natürlich war es nicht Joseph Novak. Dort stand Lucinda Doucette. Lucinda Doucette aus dem Hosanna House und dem Le Jardin.

Blitzschnell streckte Michael Drummond den Arm aus und zog Lucy zu sich heran. Er hatte jetzt ein Rasiermesser in der Hand und klappte es auf.

Jessica hob ihre Waffe. »Tun Sie das nicht, Michael.«

»Klipp-klapp, klipp-klapp.«

Drummonds milder Blick, der in ihr die Hoffnung geschürt hatte, er könne zur Aufgabe bereit sein, war hart geworden. Jetzt stand ein eiskalter, berechnender Killer vor ihr.

»Lassen Sie sie gehen.«

Drummond presste Lucy an sich. Jessica sah, dass die junge Frau kurz vor einem Zusammenbruch stand.

»Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen«, sagte Drummond.

»Das wird nicht passieren.«

Drummond riss das Rasiermesser hoch. Die glänzende Klinge war kaum einen Zentimeter von Lucys Kehle entfernt. »Passen Sie auf, was Sie sagen.«

»Warten Sie!«

Drummond schaute auf die Uhr. 23.51 Uhr.

»Ich habe keine Zeit zu verlieren.«

»Legen Sie das Messer aus der Hand und lassen Sie sie gehen.«

Drummond schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, Detective. Es fehlt noch eine Note.«

»Wir holen Hilfe für Sie«, sagte Jessica. »Es muss nicht so enden.«

»Wird es aber, verstehen Sie nicht? Ich muss es zu Ende bringen.«

Jessica schaute auf die Standuhr in dem breiten Flur. »Es ist noch nicht Mitternacht. Lassen Sie sie gehen.«

»Es gibt so viele unvollendete Symphonien. Beethoven, Schubert. Ich werde nicht so ein Vermächtnis hinterlassen.«

Jessica schaute Lucy ins Gesicht. Die junge Frau stand unter Schock. Jessica wusste, dass sie das Gespräch mit Drummond unbedingt fortsetzen musste.

»Warum diese Menschen, Michael? Warum haben Sie gerade sie ausgewählt?«

»Sie sind ungeschoren mit einem Mord durchgekommen, Jess. Das verstehen Sie doch sicher. Niemand wird sie vermissen.«

»Sie hatten Familie«, sagte Jessica. »Söhne, Töchter, Mütter, Väter. Über sie zu richten steht uns nicht zu.«

Drummond lachte. »Wir können nicht alles tun, Sie und ich. Ich beobachte das seit Jahren. Die Polizei macht ihren Job, die Staatsanwälte machen ihren Job. Und doch kommen Menschen immer wieder ungeschoren davon. Heute Nacht tanzen all diese Menschen mit den Toten. Eddie Robles, Kenny Beckman und seine Frau, diese Schlampe. Und viele mehr.«

»Was ist mit George Archer?«

Drummond lächelte. »In diesem Fall plädiere ich auf nicht schuldig, Euer Ehren. Aber glauben Sie mir, nicht weil ich mich nicht bemüht hätte. Ich war ihm seit Jahren auf der Spur. Schon seit Abschluss meines Jurastudiums.«

»Wer, Michael? Wer hat ihn getötet?«

»Machen Sie Ihren Job, Detective, und ich mache meinen.«

Drummond beugte sich ein Stück nach hinten, sodass sich das Rasiermesser für einen kurzen Augenblick von Lucys Kehle entfernte. Jessica richtete ihre Waffe nach unten. Sie hatte nur einen Schuss.

»Warum Lucy?«, fragte Jessica. »Sie ist unschuldig.«

»Nein, ist sie nicht!«, stieß Drummond wütend hervor und zog Lucy wieder enger an sich. Jessica hatte keine freie Schussbahn mehr. »Es ist ihre Schuld, dass Peggy van Tassel gestorben ist.«

»Ich verstehe nicht.«

»Die kleine Lucy hätte der Polizei von George Archer erzählen können. Sie hat es nicht getan, und niemand weiß, wie viele kleine Mädchen Archer noch getötet hat. Dieses kleine Luder ist Teil des Problems.«

Drummond blieb vor der Küchentür stehen. »Kommen Sie nicht näher, Detective. Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden.«

Jessica bewegte sich nicht.

23.54 Uhr.

»Machen Sie schon.«

»Okay, Michael«, sagte sie und legte die Glock auf den Boden. »Ich habe sie abgelegt.«

Jessica warf einen Blick nach links. Durch die Tür konnte sie die nackten Füße und die aufgekrempelte Hose einer auf dem Boden liegenden Gestalt und ein paar Tropfen Blut auf den Fliesen sehen. Sie sah auch das Messer auf dem Küchentresen. Es war genau dasselbe Bild wie in der Nacht vor zwanzig Jahren, eine Inszenierung des Mordes an Gabriel Thorne. Doch das Bühnenbild hatte sich ein wenig geändert. Auf dem Küchentresen lagen ein weißer Papierstreifen und eine rote Kerze.

Jessica blickte wieder auf den Küchenboden.

War das David Albrechts Leichnam?

Das Grauen nahm kein Ende.

»Sehen Sie«, sagte Jessica. »Dr. Thorne ist tot.« Sie deutete in die Küche.

Drummond warf einen Blick in die Küche und auf die Gestalt am Boden. Dann wanderte sein Blick zurück zu Jessica. Dieser Mann hatte definitiv den Verstand verloren. Ob schon damals nach Thornes Ermordung oder im Laufe der nächsten zwanzig Jahre – wer konnte das sagen?

»Ist es wirklich damals?«, fragte er.

»Ja.«

Drummond nickte schnell. »Er wollte mit ihr weggehen«, sagte er. »Für immer. Darum musste er sterben.«

»Ich verstehe.«

Langsam drehte Drummond sich zu der Stereoanlage in seinem Rücken um und drückte auf Play.

Christa-Marie schien aus ihrer Trance zu erwachen. Sie begann, ein neues Stück zu spielen und zupfte eine der Saiten – denselben Ton zwölf Mal.

»Was ist der Totentanz ohne den Chor?«, fragte Drummond und stellte den Ton lauter.

Inmitten von Christa-Maries Celloklängen ertönten kurz darauf verschiedene Geräusche – Straßengeräusche, Sirenen. Und dazu begann ein Chor zu singen:

Klipp-klapp, der rhythmische Tod
schlägt mit der Ferse auf ein Grab.
Der Tod spielt um Mitternacht eine Tanzmelodie,
klipp, klapp, auf seiner Violine.

Doch das lauteste Geräusch im Hintergrund war das Glucksen eines Babys.

»Heute Nacht gehört die Welt den Toten«, sagte Drummond. »Hören Sie ihnen zu. Ich habe seit Jahren ihre Stimmen gesammelt.«

23.56 Uhr.

Die Stimmen wurden immer lauter. Todesschreie und das Jammern von Sterbenden.

»Sehen Sie«, sagte Jessica und rückte unmerklich weiter nach links vor. Sie musste irgendwie in die Küche gelangen. »Ich habe meine Waffe abgelegt, Michael. Ich kann Ihnen nichts tun. Der Arzt ist tot. Lassen Sie das Mädchen gehen. Wir reden miteinander.«

»Es geht nicht um mich. Es ging nie um mich.« Drummond begann zu schwitzen. Er fuchtelte mit dem Rasiermesser durch die Luft und hielt es dann gefährlich nahe an Lucys Gesicht. Der Chor der Schreie im Hintergrund nahm ebenso an Intensität zu wie Christa-Maries Spiel.

Die Dame, so hieß es, ist eine Markgräfin oder Baronin
und ihr unerfahrener Verehrer ein armer Wagenbauer.
O Schreck! Seht, wie sie sich ihm hingibt,
als wäre der Flegel ein Baron!

»Sie gab sich ihm hin«, sagte Drummond und deutete auf die Gestalt auf dem Boden. »Sie hat nicht mehr lange zu leben, wissen Sie. Es musste erledigt werden.«

»Wer hat nicht mehr lange zu leben?«

»Die Lehrerin. Sie wird sterben. Darum musste ich schneller schreiben.«

Drummond ging einen Schritt rückwärts in die Küche und zog Lucy mit. »Hören Sie ihnen zu. Hören Sie es?«

»Ich höre es, Michael.«

23.58 Uhr.

Jessica schob sich kaum merklich weiter vor.

»Was ist mit Gabriel Thorne?«, fragte sie und zeigte auf die Gestalt auf dem Küchenboden. »Christa-Marie hat ihn nicht getötet, nicht wahr? Sie waren es, Sie und Joseph Novak.«

»Thorne war in sie verliebt. Er hat sie manipuliert.« Drummond schüttelte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Joseph war schwach. Er war immer schwach.«

»Aber Sie haben zugelassen, dass Christa-Marie die Schuld auf sich nahm.«

Tränen rannen ihm über die Wangen. »Ich musste zwanzig Jahre damit leben.«

Drummond ging rückwärts bis in die Mitte der Küche, als der Totentanz sich seinem glanzvollen Schlusssatz näherte.

Inmitten dieses Gewirrs an Klängen und Geräuschen erscholl auf einmal die Stimme eines Mannes:

»Michael.«

Im Inneren, wo die Musik lebt, in dieser vergoldeten Halle, beobachte ich alles und warte. Die Lehrerin weiß, was ich tun muss.

Eine Note muss noch gespielt werden.

Eine letzte Note.

Als die Stimme des Mannes erklang, hielten alle den Atem an. Drummond drückte Lucy noch fester an sich. Langsam hob er das Rasiermesser hoch und zog es blitzschnell über seine Stirn. Rotes Blut rann über sein Gesicht und tropfte auf Lucy hinab.

Wieder erklang von irgendwoher: »Michael.«

Drummond zögerte einen Augenblick und lauschte der Stimme. »Dr. Thorne?«

Noch eine Note.

Noch eine Stimme.

Drummond schaute zu Christa-Marie hinüber, die wie von Sinnen im Musikzimmer auf dem Cello spielte.

Sie drängeln, sie fliehen. Der Hahn hat gekräht.
Oh, was für eine wunderschöne Nacht für die arme Welt!

Mitternacht.

Michael Drummond hob das Rasiermesser hoch in die Luft. Er zog Lucys Haare zurück und entblößte ihren weißen Hals.

»Die Lehrerin …«, sagte er.

Als er die Hand wieder senkte und das Rasiermesser sich Lucys Hals näherte, sah Jessica, dass sich die Gestalt auf dem Boden bewegte.

Es war nicht David Albrecht.

Detective Kevin Byrne rollte sich auf die rechte Seite, hob die Glock 17 und drückte ab. Die Kugel drang in Drummonds Kopf ein, genau über seinem rechten Auge. Dicke Knochensplitter und Hirnmasse spritzten aus seinem Hinterkopf auf die weißen Fliesen an der Wand.

Drummond knallte mit dem Gesicht auf den Küchentresen, genau auf den weißen Papierstreifen. Sein blutverschmiertes Gesicht schrieb die groteske Parodie von Notenlinien auf das Papier. Dann brach er auf dem Boden zusammen.

Der laute Schuss hallte Jessica noch in den Ohren. Sie schaute in die Küche. Als sie in die Ecke des Musikzimmers trat und Lucy Doucette in die Arme schloss, wechselte sie einen Blick mit Byrne. Er war voller Blut, aber es war nicht seines. Kevin hatte auf dem Küchenboden auf der Lauer gelegen. Er schaute Jessica an, doch er sah noch etwas anderes, vielleicht etwas, das vor langer Zeit in diesem Raum geschehen und das nun zu einem Abschluss gekommen war.

Der Mann, nach dessen Musik die Toten tanzen sollten, war tot, aber seine Symphonie hatte er vollendet.

Echo des Blutes: Thriller
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