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Byrne konnte nicht einschlafen. Immer wieder tauchten die Bilder der vier Leichen vor seinem geistigen Auge auf. Er stand auf, goss sich einen Bourbon ein, schaltete den Computer an, stellte die Verbindung ins Internet her und startete einen Browser. Byrne schaute sich die Schlagzeilen auf philly.com an und besuchte ein paar andere Webseiten, die er nur überflog und nicht richtig verstand.
Haben Sie sie schon gefunden? Den Löwen, den Hahn und den Schwan? Gibt es noch andere? Sie meinen vielleicht, es bestünde keine Verbindung zwischen ihnen, doch es gibt eine.
Byrne öffnete YouTube und gab Christa-Marie Schönburgs Namen ein. Ehe er den ganzen Namen eingetippt hatte, wurde eine Dropdown-Liste mit verschiedenen Möglichkeiten angezeigt.
CHRISTA-MARIE SCHÖNBURG BACH
CHRISTA-MARIE SCHÖNBURG HAYDN
CHRISTA-MARIE SCHÖNBURG ELGAR
CHRISTA-MARIE SCHÖNBURG BRAHMS
Byrne hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Er wusste nicht einmal, was er hier tat oder was genau er suchte. Vordergründig nahm er an, dass er einen wenn auch zugegebenermaßen obskuren Zugang zu dem Fall suchte. Irgendetwas, das ihn auf eine Spur brachte. Irgendetwas, das ihm Christa-Maries unergründliche Mitteilung an ihn erklären könnte.
Vielleicht suchte er auch den jungen Detective, der 1990 ein Haus in Chestnut Hill betreten hatte. Wo eine lange, dunkle Odyssee des Blutvergießens, der Tränen und des Elends begann. Vielleicht suchte er in Wahrheit den Mann, der er einst gewesen war.
Der letzte Eintrag auf der Liste lautete:
CHRISTA-MARIE SCHÖNBURG INTERVIEW
Byrne klickte es an. Es war drei Minuten lang und 1988 bei einer Fernsehshow aufgezeichnet worden. Christa-Marie befand sich auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes und ihrer Karriere. Sie sah wunderschön aus in ihrem einfachen weißen Kleid und mit den Ohrhängern. Als sie Fragen über ihr Spiel und ihre Berühmtheit in so jungen Jahren beantwortete und erklärte, wie es war, für Riccardo Muti zu spielen, schwankte sie zwischen der selbstbewussten Karrierefrau, dem schüchternen Schulmädchen und der geheimnisvollen Künstlerin. Ab und zu errötete sie und schob sich die Haare hinters Ohr. Byrne hatte sie immer für eine attraktive Frau gehalten, aber bei diesem Interview war sie einfach umwerfend.
Als das Interview zu Ende war, klickte Byrne CHRISTA-MARIE SCHÖNBURG BACH an. Der Link führte ihn auf eine Seite, auf der eine Reihe weiterer Videos von Christa-Marie Schönburg angeboten wurden. Ihr ganzes öffentliches Leben wurde auf der rechten Seite in Schnappschüssen gezeigt – glänzende Kleider und gleißendes Licht.
Byrne klickte auf Bach Cello Suite Nr. 1. Es war ein aus Fotos zusammengesetztes Video. Die Fotos, die langsam ineinander übergingen, zeigten Christa-Marie in verschiedenen Lebensphasen, in unterschiedlichen Posen und Umgebungen: in einem Studio, lächelnd vor der Kamera, eine Seitenansicht auf der Bühne, ein aus der Froschperspektive aufgenommenes Foto als Neunzehnjährige, auf deren Gesicht sich starke Konzentration spiegelte. Auf dem letzten Foto war Christa-Marie als neunjähriges Kind zu sehen. Neben ihr an der Wand lehnte ein Cello, das fast doppelt so groß war wie sie.
In der nächsten Stunde sah Byrne sich alle bei YouTube angebotenen Videos an. Viele bestanden aus Collagen, die Fans zusammengefügt hatten, doch es waren auch Konzertauftritte dabei. Auf dem letzten Video hielt Christa-Marie sich mit einem Pianisten in einem Studio auf. Sie spielten Beethovens Klaviersonate Nr. 3 in C-Dur. Etwa in der Mitte des Stückes wurde eine Nahaufnahme von Christa-Marie gezeigt, als sie den Kopf hob und direkt in die Kamera und in Byrnes Augen schaute.
Nachdem Byrne sich das Video zu Ende angesehen hatte, ging er in die Küche, nahm zwei Aspirin und spülte sie mit einem Schluck Wild Turkey hinunter. Das war nicht die vorgeschriebene Methode, aber jeder machte es so, wie es am besten funktionierte, oder?
Byrne blickte durchs Fenster auf die menschenleere Straße unten. In der Ferne sah er die Lichter von Center City. Irgendwo da draußen lag noch eine Leiche, die darauf wartete, entdeckt zu werden, eine rasierte Leiche mit aufgerissener Haut und einem blutigen Papierstreifen um den Kopf.
Er schaute auf die Küchenuhr, obwohl er wusste, wie spät es war.
2.52 Uhr.
Byrne nahm seinen Mantel und die Schlüssel und trat hinaus in die Nacht.