2.
»Ich heiße Paulette, und ich bin Alkoholikerin.«
»Hallo, Paulette.«
Ihr Blick wanderte über die Gruppe. Heute waren mehr Leute gekommen als in der letzten Woche. Es waren fast doppelt so viele wie beim ersten Mal, als sie das Gruppentreffen in der Methodistenkirche vor fast einem Monat besucht hatte. Vorher war sie bei drei Treffen an drei unterschiedlichen Orten gewesen – im Norden, im Westen und im Süden von Philadelphia. Sie erfuhr jedoch schnell, dass die meisten Menschen, die regelmäßig zu Treffen der Anonymen Alkoholiker gingen, irgendwann eine Gruppe fanden, in der sie sich wohlfühlten und in der sie blieben.
Etwa zwanzig Personen, unter denen sich ebenso Männer wie Frauen, Junge wie Alte, Nervöse wie Ruhige befanden, saßen in einem lockeren Kreis. Die Jüngste war eine Frau um die zwanzig und der älteste Teilnehmer ein Mann in den Siebzigern, der in einem Rollstuhl saß. Schwarze, Weiße, Hispanoamerikaner und Asiaten nahmen an dem Treffen teil. Die Alkoholsucht kann Menschen aller Nationalitäten, jeden Geschlechts und Alters gleichermaßen treffen. Die Größe der Gruppe wies darauf hin, dass Feiertage bevorstanden. Wenn irgendetwas dazu angetan war, Gefühle wie Unzulänglichkeit, Groll und Wut wachzurufen, dann waren es Feiertage.
Der Kaffee schmeckte wie immer scheußlich.
»Einige von euch haben mich bestimmt schon mal hier gesehen«, begann sie und versuchte, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen. »Ach, wem will ich denn hier was vormachen? Vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht ist es egoistisch, nicht wahr? Vielleicht denke nur ich, ich sei nichts wert, und sonst denkt das niemand. Vielleicht ist genau das das Problem. Jedenfalls habe ich heute zum ersten Mal den Mut zu sprechen. Hier bin ich also, und ihr könnt euch anhören, was ich zu sagen habe. Zumindest für eine Weile. Ihr habt Glück.«
Als sie ihre Geschichte erzählte, wanderte ihr Blick über die Leute hinweg. Rechts von ihr saß ein junger Mann Mitte zwanzig mit stahlblauen Augen, in einer zerrissenen Jeans und einem bunten Ed-Hardy-T-Shirt, unter dem sich die Muskeln abzeichneten. Sie schaute mehrmals zu ihm hinüber und sah, dass sein Blick über ihren Körper glitt. Er war vielleicht Alkoholiker, mit Sicherheit aber auf ein Abenteuer aus. Neben ihm saß eine Frau um die fünfzig. Geplatzte Äderchen im Gesicht zeugten von jahrzehntelangem starkem Alkoholmissbrauch. Sie ließ das Handy immer wieder über ihre verschwitzte Handfläche rollen und trat mit einem Fuß zu einem längst verhallten Takt auf den Boden. Ein paar Plätze weiter saß eine kleine Blondine in einem grünen Sweatshirt mit dem Aufdruck der Temple University. Sie hatte eine sportliche Figur, und das Gewicht der Welt war nur eine Schneeflocke auf ihren Schultern. Neben ihr saß Nestor, der Gruppenleiter. Nestor hatte das Treffen mit seiner eigenen kurzen, traurigen Geschichte eröffnet und dann gefragt, ob noch jemand sprechen wolle.
Ich heiße Paulette.
Als sie ihre Geschichte beendete, klatschten alle höflich. Anschließend standen andere Teilnehmer auf, sprachen und weinten. Es wurde wieder geklatscht.
Nachdem alle ihre Geschichten erzählt und ihre Gefühle herausgelassen hatten, streckte Nestor beide Arme zur Seite aus. »Lasst uns danken und beten.«
Sie reichten sich die Hände, sprachen ein kurzes Gebet, und dann war das Treffen vorüber.
»Es ist nicht so einfach, wie es aussieht, nicht wahr?«
Sie drehte sich um. Es war der Typ mit den stahlblauen Augen. Es war kurz nach zwölf, und sie standen vor dem Haupteingang der Kirche zwischen zwei verkrüppelten braunen Nadelbäumen, denen die Jahreszeit schon zu schaffen machte.
»Weiß nicht«, erwiderte sie. »Es fiel mir jedenfalls nicht leicht, mich dazu durchzuringen.«
Der Typ lachte. Er hatte eine kurze cognacfarbene Lederjacke angezogen und eine bernsteinfarbene Serengeti-Sonnenbrille über den Saum seines TShirts gehängt. Er trug schwarze Stiefel mit dicken Sohlen.
»Ja, ich glaube, du hast recht.« Er faltete die Hände vor der Brust und wippte auf den Absätzen. Ich bin in Ordnung, mach dir keine Sorgen, sollte die Pose ihr vermitteln. »Es ist eine Weile her, seitdem ich es zum ersten Mal gemacht habe.« Er reichte ihr die Hand. »Du heißt Paulette, richtig?«
»Und ich bin Alkoholikerin.«
Der Typ mit den stahlblauen Augen lachte. »Ich auch, und ich heiße Danny.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Danny.« Sie schüttelten sich die Hand.
»Eines kann ich dir jedenfalls versprechen«, erklärte er ihr, ohne gefragt worden zu sein. »Es wird einfacher.«
»Der Verzicht?«
»Ich wünschte, das könnte ich behaupten. Nein, ich meine das Sprechen. Sobald du dich in die Gruppe integriert hast, wird es etwas einfacher, deine Geschichten zu erzählen.«
»Geschichten? Im Plural? Ich dachte, das wäre es gewesen.«
»Nein, das ist ein Irrtum. Es ist ein Prozess, der eine ganze Weile andauert.«
»Okay. Und wie lange?«
»Hast du den Mann in dem roten Flanellhemd gesehen?«
Danny meinte den alten Mann in den Siebzigern, der im Rollstuhl saß. »Was ist mit dem?«
»Er kommt seit sechsunddreißig Jahren zu den Treffen.«
»Mein Gott. Er hat seit sechsunddreißig Jahren keinen Alkohol getrunken?«
»Das behauptet er jedenfalls.«
»Und er hat noch immer das Bedürfnis zu trinken?«
»Das hat er gesagt.«
Danny schaute auf seine Uhr, einen auffallend großen Fossil-Chronografen. Die Geste sah nicht ganz so kalkuliert und einstudiert aus, wie sie es wahrscheinlich war. »Hör zu. Ich brauche erst in ein paar Stunden wieder zu arbeiten. Darf ich dich zu einer Tasse Kaffee einladen?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Paulette misstrauisch.
Danny hob die Hände. »Ganz unverbindlich. Nur eine Tasse Kaffee.«
Sie lächelte. »Irish?«
»Böse Paulette. Böse, böse Paulette.«
Sie lachte. »Okay.«
Sie wählten ein Lokal in der Germantown Avenue und suchten sich einen Tisch am Fenster. Ihr Gespräch drehte sich um Filme, Mode und die Wirtschaft. Paulette aß einen Obstsalat. Er trank einen Kaffee und aß einen Cheeseburger. Weder das eine noch das andere hatte einen Stern verdient. Etwa eine Viertelstunde später hielt Paulette ihr iPhone hoch und tippte auf den Touchscreen. Sie wählte keine Nummer und verschickte keine SMS oder E-Mail. Sie nahm weder einen Eintrag in die Kontaktliste vor, noch fügte sie einen Termin in iCal hinzu. Stattdessen machte sie ein Foto von dem Typen mit den stahlblauen Augen. Heute Morgen hatte sie die Option ausgeschaltet, die das Geräusch einer klickenden Kamera mit dem Vorgang selbst verband. Anschließend schaute sie scheinbar enttäuscht aufs Display, als stimme etwas nicht. Das war nicht der Fall. Das Foto, das der junge Mann nicht sehen konnte, war perfekt.
»Probleme?«, fragte er.
Paulette schüttelte den Kopf. »Nein, ich bekomme nur in dieser Gegend nie ein Signal.«
»Vielleicht bekommst du draußen ein Signal«, sagte Danny. Er stand auf und zog sich die Jacke über. »Willst du es mal probieren?«
Sie drückte auf eine andere Taste, wartete, bis der Fortschrittsbalken auf der rechten Seite ankam, und sagte: »Klar.«
»Komm«, sagte Danny. »Ich bezahl schnell.«
Sie gingen langsam die Straße hinunter und sahen sich schweigend die Schaufenster an.
»Wolltest du nicht telefonieren?«, fragte Danny.
Sie schüttelte den Kopf. »Ist nicht wichtig. Wollte nur meine Mutter anrufen. Sie sagt mir sowieso nur immer, was für eine Loserin ich bin. Das kann warten.«
»Wir könnten verwandt sein«, meinte Danny. »Eng verwandt. Ich glaube, wir haben dieselbe Mutter.«
»Du kamst mir gleich bekannt vor.«
Danny schaute sich um. »Wo hast du geparkt?«
»Hier entlang.«
»Soll ich dich zum Auto bringen?«
Paulette blieb stehen. »Nein, nein.«
»Wie bitte?«
»Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du ein Gentleman bist, oder?«, sagte sie in kokettem Ton.
Danny hob die Hand und streckte wie ein Pfadfinder drei Finger in die Luft. »Nein, bin ich nicht. Ich schwöre.«
Sie kicherte. »Klar.«
Sie bogen an einer Ecke in eine düstere Gasse ein und steuerten auf den Parkplatz zu. Noch bevor sie drei Schritte gegangen waren, sah sie einen Revolver aufblitzen.
Mit seinen starken Armen presste Danny sie gegen die Mauer und näherte sich ihrem Gesicht bis auf wenige Zentimeter.
»Siehst du den roten Sebring da hinten?«, flüsterte er und wies mit dem Kinn auf den Chrysler, der am Ende der Gasse parkte. »Hör genau zu, was ich sage. Wir gehen jetzt zu dem Wagen, und du steigst ein. Wenn du Schwierigkeiten machst oder auch nur einen einzigen Laut von dir gibst, schieße ich dir eine Kugel in den Kopf, kapiert?«
»Ja.«
»Zweifelst du an meinen Worten?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich will, dass du es laut sagst. Ich will, dass du sagst: ›Ich habe es verstanden, Danny.‹«
»Ich habe es verstanden, Danny.«
»Gut, gut«, sagte er. »Paulette.« Er legte eine Hand auf ihren Körper und lehnte sich zurück. »Weißt du, du hast echt geile Titten. Du hast zwar so ein schlabberiges Scheißding an, um sie zu verbergen, aber das klappt nicht. Und du bist eine verdammte Säuferin. Weißt du, wie heiß mich das macht?«
Sie starrte ihn an.
»Ich persönlich habe noch nie in meinem Leben getrunken. Ich habe nur diese Schwäche für schwache Frauen. Hatte ich schon immer.«
Er strich mit der linken Hand langsam über ihre rechte Hüfte, mit der anderen umklammerte er die Waffe. Er lächelte.
»Ich glaube, wir machen es gleich hier. Was meinst du?«
»Du tust mir doch nichts?«
»Nein. Aber gib es zu, Paulette. Es ist doch sehr erregend, es in der Öffentlichkeit zu tun, und dann auch noch mit einem völlig Fremden.« Er zog den Reißverschluss seiner Hose herunter. »Und das ist der Grund, warum du trinkst, nicht wahr? Weil du dich selbst hasst? Weil du eine Nutte bist?«
Sie wusste nicht, ob das wirklich Fragen waren, und schwieg.
Er fuhr fort.
»Natürlich. Und weißt du was? Ich wette, du hast im Laufe der Jahre ganz schön gesoffen und mit vielen Typen in dunklen Gassen gevögelt. Stimmt’s?«
Das war jetzt auf jeden Fall eine Frage. Als sie ihm keine Antwort gab, zog er den Revolver unter dem Hosenbund hervor und stieß ihn ihr zwischen die Beine. Mit voller Wucht.
»Beantworte meine Frage, verdammt!«
»Ja.«
Er stieß ihr immer wieder den Revolver zwischen die Beine. »Sag es.«
»Ich habe mit vielen Typen in dunklen Gassen gevögelt.«
»Und es hat dir Spaß gemacht.«
»Und es hat mir Spaß gemacht.«
»Weil du eine Scheißnutte bist.«
»Weil ich eine Scheißnutte bin.«
»Das dachte ich mir.« Er steckte die Waffe wieder unter den Hosenbund. »Kanntest du die andere Frau? Sie hat es mir schwer gemacht. Sie hätte nicht zu sterben brauchen.«
»Die andere Frau?«
»Die Rothaarige. Die Dicke. Marcy oder so ähnlich stand in den Zeitungen. Sie roch wie eine billige Nutte, und das war sie auch.«
Er beugte sich vor und schnüffelte an ihrem Haar.
»Du riechst nicht billig. Du riechst gut.«
Ein Schatten kroch langsam über die Erde, bis er vor ihren Füßen ankam. Danny sah es und wirbelte herum.
Hinter ihm stand, keine zwei Schritte entfernt, die kleine Blondine aus der Gruppe der Anonymen Alkoholiker, die mit dem grünen Kapuzenshirt der Temple University. Sie hielt eine Glock 17 in der Hand, die auf Dannys Brust gerichtet war.
»Ich heiße Nicci«, sagte die Blondine. »Und ich bin Polizistin.«
»Hi, Nicci«, begrüßte Detective Jessica Balzano sie.
Während des Undercover-Einsatzes in den vergangenen drei Wochen hatte Jessica Paulette gespielt, um den Killer der Anonymen Alkoholiker zu schnappen. Sie hieß nur Paulette – ohne Familiennamen. Jessica stellte schnell fest, dass bei den Anonymen Alkoholikern niemand einen Familiennamen hatte.
Hinter Detective Nicolette Malone standen zwei weitere Detectives und ein erfahrener Streifenbeamter namens Stan Keegan. An beiden Enden der Gasse standen zwei Streifenwagen.
Danny warf Jessica einen Blick zu. Seine Hände zitterten jetzt. »Du bist Polizistin?«
Jessica trat zurück, zog ihre Waffe aus dem Rückenholster unter dem Hosenbund und richtete sie auf ihn. »Hände hinter den Kopf!«
Danny zögerte. Sein Blick wanderte von einer Seite zur anderen.
»Brauchst du eine Einladung?«
Danny erstarrte.
»Wie du willst«, sagte Jessica. »Aber wenn du nicht tust, was ich sage, wirst du hier sterben. Und dann auch noch in einem Ed-Hardy-T-Shirt. Mit offener Hose. Deine Entscheidung.«
Der Verdächtige, der mit richtigem Namen Lucas Anthony Thompson hieß, schien nun zu begreifen, in welcher Lage er sich befand. Entweder verließ er diese Gasse in Handschellen oder in einem Sarg. Sein Wille war gebrochen. Er ließ die Schultern hängen und faltete die Hände hinter dem Kopf.
Jessica hatte das schon hundertmal erlebt. Und es wärmte ihr immer wieder das Herz.
Sie hatten ihn geschnappt!
Nicci Malone trat vor, zog die Waffe unter dem Hosenbund des Verdächtigen hervor und reichte sie Officer Keegan, der sie in eine Beweistüte steckte. Dann trat Nicci dem Verdächtigen die Beine weg. Er stürzte bäuchlings zu Boden. Sofort darauf drückte Nicci ihm ein Knie ins Kreuz und legte ihm Handschellen an.
»Kaum zu glauben, wie blöd du bist«, sagte sie.
Jessica steckte ihre Waffe ins Holster und trat vor. Sie packten beide einen Arm des Verdächtigen und rissen ihn hoch.
»Wir verhaften dich wegen Mordes an Marcia Jane Kimmelman«, sagte Jessica. Sie las ihm seine Rechte vor. »Hast du das verstanden?«
Thompson nickte. Er war noch immer wie benommen.
»Du musst laut antworten«, sagte sie. »Du musst laut ›Ja‹ sagen.«
»Ja.«
»Ich möchte, dass du sagst: ›Ja, ich habe es verstanden, Detective Balzano.‹«
Thompson sagte kein Wort. Er hatte sich noch nicht von dem Schock erholt.
Gut, dachte Jessica. Den Versuch war es wert. Sie griff in die Hosentasche und zog ein kleines Aufnahmegerät heraus. Sie spulte zurück und drückte auf Play.
Kanntest du die andere Frau? Sie hat es mir schwer gemacht. Sie hätte nicht zu sterben brauchen.
Jessica schaltete das Gerät aus. Thompson ließ den Kopf hängen.
Sie hatten genug gegen ihn in der Hand. Eine Augenzeugin, eine verwertbare DNA-Probe, die Ergebnisse der Ballistik. Die Aufnahme war nur das Tüpfelchen auf dem i. Die Staatsanwaltschaft liebte derartige Beweise. Manchmal war eine Aufnahme auch ausschlaggebend.
Als Thompson von Streifenbeamten abgeführt wurde, lehnte Officer Stan Keegan sich gegen die Mauer, verschränkte die Arme über seiner breiten Brust und grinste übers ganze Gesicht.
»Was ist denn daran so lustig?«, fragte Jessica.
»Ihr beide«, sagte er. »Ich überlege die ganze Zeit, wer von euch beiden Batman und wer Robin ist.«
»Batman? Träum weiter, Sterblicher«, erwiderte Jessica. »Ich bin Wonder Woman.«
»Und ich bin She-Hulk«, meinte Nicci.
Die beiden Frauen stießen ihre Fäuste aneinander.
Neben dem Streifenwagen stand ein junger Mann und sprach mit einem der uniformierten Polizisten. Es war ein großer, schlaksiger, dunkelhaariger Typ, der überschüssige Energie zu haben schien. Er hatte einen digitalen Camcorder bei sich, der ziemlich teuer aussah. Jessica überlegte kurz, und dann fiel ihr ein, wer das war und was er hier machte.
Sie hatte in der letzten Woche sein Memo bekommen und es dann ganz vergessen. Jemand von der Pennsylvania State University drehte einen Dokumentarfilm über die Mordkommission nach dem Motto: normaler Arbeitstag eines Detectives. Sie waren von höchster Stelle angewiesen worden zu kooperieren. In dem Memo stand, dass der Filmemacher sie eine Woche lang begleiten würde.
Als Jessica auf den jungen Mann zuging, bemerkte er sie. Er strich sich mit der freien Hand übers Haar und reckte sich.
»Hallo«, sagte er. »Ich bin David Albrecht.«
»Jessica Balzano.«
Sie reichten sich die Hand. David Albrecht trug ein langärmeliges T-Shirt mit dem Logo der Nittany Lions und eine Kette mit einem goldenen Kreuz. Er war glatt rasiert bis auf einen kleinen blondierten Fleck unter der Unterlippe. Und dieses winzige Unterlippenbärtchen war das Einzige, was seinen femininen Gesichtszügen einen männlichen Touch verlieh.
»Ich kenne Sie irgendwoher«, sagte er und schüttelte begeistert ihre Hand.
»Ach ja? Und woher?«, fragte Jessica und zog ihre Hand zurück, ehe er ihr den Arm abriss.
Albrecht lächelte. »Ich habe recherchiert. In diesem Artikel vor ein paar Jahren im Philadelphia Magazine über die neue Generation der weiblichen Detectives stand auch etwas über Sie. Erinnern Sie sich?«
Jessica erinnerte sich gut an den Artikel. Sie hatte sich dagegen gewehrt, den Kampf jedoch verloren. Natürlich war sie nicht gerade versessen darauf, dass Details ihres Privatlebens veröffentlicht wurden. Auch ohne dies dienten Polizisten und vor allem Detectives Verrückten oft genug als Zielscheibe.
»Ich erinnere mich«, sagte Jessica.
»Und ich habe den Fall des Rosenkranzmörders intensiv verfolgt.«
»Verstehe.«
»Damals ging ich noch zur Highschool«, sagte Albrecht. »Ich habe eine katholische Schule besucht. Der Fall hat uns alle furchtbar mitgenommen.«
Highschool, dachte Jessica. Der Typ ging damals zur Highschool. Ihr kam es vor, als wäre es gestern gewesen.
»Das war übrigens ein tolles Foto von Ihnen auf dem Cover der Zeitschrift«, fuhr Albrecht fort. »Wie Lara Croft. Viele Mitschüler von mir hatten Ihr Foto eine Zeit lang an der Wand hängen.«
»Sie wollen also einen Film drehen?«, fragte Jessica, um das Thema zu wechseln.
»Ich will es versuchen. Es ist etwas ganz anderes, eine Dokumentation oder einen Kurzfilm zu drehen. Bisher habe ich hauptsächlich Webisodes gemacht.«
Jessica wusste nicht genau, was Webisodes waren.
»Sie sollten mal auf meine Seite gehen und sich ein paar ansehen«, schlug Albrecht vor. »Ich glaube, sie werden Ihnen gefallen.«
Er reichte ihr eine Karte mit seinem Namen und einer Webadresse.
Jessica war so höflich, einen Blick auf die Karte zu werfen, ehe sie sie einsteckte. »Okay«, sagte sie. »Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen, David. Wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.« Das meinte sie selbstverständlich nicht ernst. Sie deutete auf den Polizei-Transporter, der soeben eingetroffen war. »Jetzt muss ich aber.«
Albrecht hob eine Hand. »Kein Problem. Ich wollte mich nur kurz vorstellen.« Er strich sich wieder übers Haar. »Ich bleibe in Ihrer Nähe, aber Sie werden es gar nicht merken. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen nicht in die Quere komme. Ich mache mich unsichtbar.«
Unsichtbar, dachte Jessica. Da war sie aber gespannt.
Zwei Stunden später hatten sie den Papierkram erledigt, die Berichte geschrieben und den Verdächtigen im Verwaltungsgebäude der Polizei Ecke Achte und Race Street – im sogenannten Roundhouse – abgeliefert. Jetzt saß das Team im Restaurant Hot Potato Café auf der Girard Avenue.
Außer Jessica und Nicci Malone waren auch der erfahrene Detective Nick Palladino und Detective Dennis Stansfield – ein relativ neuer Kollege – mit dabei. Dennis Stansfield war Anfang vierzig und – zumindest seiner Meinung nach – der Traum aller Frauen. Seine Anzüge aus dem Ausverkauf saßen nie richtig, und er legte immer zu viel Aftershave auf. Zu seinen zahlreichen nervtötenden Angewohnheiten gehörte es, dass er ständig auf dem Sprung zu sein schien, als müsste er gerade woanders sein oder hätte etwas anderes zu tun, was viel wichtiger war als ein Gespräch mit den Kollegen.
Dennis Stansfield war erst ein paar Monate in der Abteilung und hatte sich noch mit niemandem angefreundet. Keiner wollte mit ihm zusammenarbeiten. Seine unangenehme Art war einer der Gründe. Seine nachlässige Arbeitsweise und seine verblüffende Fähigkeit, Zeugen dazu zu bringen, vollkommen dichtzumachen, waren zwei andere.
Jessica und Nicci saßen auf einer Seite des Tisches, Stansfield und Nick Palladino auf der anderen.
Nick Palladino, der von allen Dino genannt wurde, arbeitete schon eine halbe Ewigkeit beim Police Department Philadelphia. Er war ein Junge aus South Philly und verfügte über das Talent, Betrüger und Diebe aufzuspüren, an denen es in Philadelphia nicht mangelte.
Sie mussten alle noch ein paar Stunden arbeiten und tranken nur Kaffee oder Cola. Sie stießen miteinander an.
Lucas Anthony Thompson, sechsundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Port Richmond, war jetzt Gast mit Vollpension in den Zellen im Untergeschoss des Roundhouse. Er wurde des vorsätzlichen Mordes und der Vergewaltigung einer jungen Frau namens Marcia Jane Kimmelman angeklagt. Zeugenaussagen zufolge hatten die beiden sich bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker im Westen von Philadelphia kennengelernt. Da sich dort keiner mit Nachnamen vorstellte, wusste niemand, wer Thompson war. Sie hatten eine grobe Beschreibung, aber das war auch alles.
Auf einem unbebauten Grundstück in der Baltimore Avenue in der Nähe der Siebenundvierzigsten Straße fanden sie Marcias Leichnam. Sie war vergewaltigt und aus nächster Nähe mit einer.38er durch einen Kopfschuss getötet worden. Drei Monate später griff Thompson nach einem Treffen der Anonymen Alkoholiker in Kingessing eine andere junge Frau namens Bonnie Silvera an, die als Sekretärin bei Comcast arbeitete. Diese Frau überlebte. Die DNA ihres Angreifers, die anhand seines Spermas ermittelt werden konnte, stimmte mit der von Marcia Kimmelmans Mörder überein. Bonnie Silvera lieferte der Polizei eine detaillierte Beschreibung von Thompson. Daraufhin wurde eine Undercover-Operation eingeleitet, an der ein Dutzend Detectives beteiligt waren, die in sechs Stadtteilen ermittelten.
»Wie hast du ihn identifiziert?«, fragte Dino.
Nicci gab die Frage an Jessica weiter. »Erkläre es unserem Genie.«
»Die Audio-Videoabteilung hat uns ein bisschen geholfen«, sagte Jessica. »Als ich mit Thompson in dem Café saß, habe ich mit dem Handy ein Foto von ihm gemacht. Dieses Bild habe ich per MMS an Niccis Handy geschickt. Nicci und zwei Streifenbeamte saßen einen halben Block entfernt mit Bonnie Silvera im Transporter. Ein paar Sekunden später erhielt Nicci das Foto und zeigte es Bonnie. Die Zeugin erkannte ihren Angreifer zweifelsfrei wieder. Nicci schickte mir die Nachricht, dass wir ihn hatten und dass es losging.«
»Du hast diese Show abgezogen?«, fragte Dino.
Jessica pustete auf ihre Fingernägel und polierte sie demonstrativ an ihrer Bluse.
»Mein Gott, du bist eine gefährliche Frau.«
»Sag das der Welt.«
»Ich sollte es deinem Mann sagen.«
»Als ob der das nicht wüsste. Er streicht gerade den Zaun hinter unserem Haus. Später bitte ich ihn, mir ein Schaumbad einzulassen.«
Detective Dennis Stansfield, der sich vermutlich ausgeschlossen fühlte, meldete sich zu Wort. »Neulich habe ich in irgendeiner Zeitung eine Statistik gesehen, nach der die Durchschnittsamerikanerin in ihrem Leben zweiundvierzigeinhalb Kilometer Schwanz in sich aufnimmt.«
Wenn Jessica etwas hasste, dann einen Cop, der Witze über Sex riss, nachdem sie soeben über eine Vergewaltigung gesprochen hatten. Es war sogar noch schlimmer: Vergewaltigung und Mord. Eine Vergewaltigung hatte nichts mit Sex zu tun. Eine Vergewaltigung war ein brutaler Übergriff, der Macht demonstrieren sollte.
Stansfield schaute Jessica an. Hoffte er tatsächlich, dass sie jetzt nervös wurde, errötete und wegen seines blöden Witzes in Verlegenheit geriet? Sollte das ein Scherz sein? Jessica war in South Philly geboren und aufgewachsen, und dann auch noch als Tochter eines Cops. Sie konnte schon mit fünf Jahren fluchen wie ein Kutscher und kam immer total verdreckt vom Spielen nach Hause.
»Zweiundvierzig Kilometer, hm?«, fragte Jessica.
»Zweiundvierzigeinhalb«, erwiderte Stansfield.
Jessicas Blick glitt von Nicco zu Dino und zurück zu Stansfield. Dino schaute auf den Tisch. Er wusste nicht genau, was jetzt kam, aber er war sicher, dass irgendetwas kommen würde.
»Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Jessica und straffte die Schultern.
»Klar.«
»Wird bei diesen zweiundvierzigeinhalb Kilometern jedes einzelne Eindringen gezählt, oder werden die Schwänze aller Männer im Leben einer Durchschnittsamerikanerin addiert?«
Jetzt errötete Stansfield selbst ein wenig. »Hm, das weiß ich nicht. Das stand nicht in der Statistik.«
Nichts ruinierte einen dreckigen Witz so gründlich wie eine Diskussion darüber oder Analysen. »Nicht sehr wissenschaftlich, nicht wahr?«
»Hm, das war …«
»Wenn man jetzt jedes Eindringen zählt«, fuhr Jessica unbeirrt fort, »könnte das schon ein einziges heißes Wochenende bringen.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Wenn man allerdings jeden Schwanz nur einmal zählt … Da muss ich rechnen.« Sie wechselte einen Blick mit Nicci und zeigte auf Stansfield. »Wie oft gehen zehn Zentimeter in zweiundvierzig Kilometer?«
»Zweiundvierzigeinhalb«, sagte Nicci.
»Stimmt. Zweiundvierzigeinhalb.«
Jetzt war Stansfield so rot wie eine italienische Tomate. »Zehn Zentimeter? Hm, das glaube ich kaum, meine Liebe.«
Jessica drehte sich zu der Frau um, die am Nebentisch saß. »Hi, Kathy, habt ihr ein Lineal im Büro?« Kathy war Mitinhaberin des Hot Potato Cafés.
»Klar«, erwiderte Kathy augenzwinkernd. Auch sie war in Philly aufgewachsen und hatte das ganze Gespräch verfolgt. Wahrscheinlich hätte sie liebend gern ihren Senf dazugegeben.
»Okay, okay«, sagte Stansfield.
»Kommen Sie, Dennis«, sagte Jessica. »Legen Sie Ihr großes, heißes Prachtexemplar auf den Tisch.«
Auf einmal musste Stansfield ganz schnell weg. Er schaute auf die Uhr, trank seinen Kaffee aus, murmelte Tschüss und machte sich davon.
An einem Tag wie diesem waren Jessica alle Cro-Magnon-Männchen dieser Welt vollkommen gleichgültig. Sie hatten einen Mörder in Gewahrsam genommen und einen Haufen Beweise gegen ihn. Kein Bürger oder Polizist war im Verlauf der Verhaftung verletzt worden, und auf den Straßen trieb sich ein Verbrecher weniger herum. Besser ging es kaum.
Zwanzig Minuten später trennten sie sich. Jessica ging allein zu ihrem Wagen. Sie hatte den Einsatz gemeinsam mit ihren Kollegen mit Bravour gemeistert. In solchen Situationen durfte man keine Schwäche zeigen. Die erschreckende Wahrheit war jedoch, dass jemand eine Waffe auf sie gerichtet hatte. Im Bruchteil einer Sekunde hätte alles vorbei sein können, wenn der Schütze abgedrückt hätte.
Jessica trat in einen Hauseingang und überzeugte sich davon, dass sie nicht beobachtet wurde. Als sie die Augen schloss, glitt eine Woge der Angst über sie hinweg. Sie hatte ihren Ehemann Vincent, ihre Tochter Sophie und ihren Vater Peter vor Augen. Peter Giovanni, der schon seit Jahren im Ruhestand war, und Vincent Balzano waren beide Cops und kannten die Risiken. Jessica stellte sich vor, wie sich beide über ihren Sarg in der St.-Paul’s-Kirche beugten. Sie hörte die Klänge der Dudelsäcke.
Mein Gott, Jess, dachte sie. Lass es sein. Wenn du zulässt, dass deine Gedanken diese Richtung einschlagen, bist du verloren. Andererseits war sie im Grunde eine toughe Frau, oder nicht? Sie war Detective beim Philadelphia Police Department. Sie war die Tochter von Peter Giovanni.
Verdammt, vor ihr musste man sich in Acht nehmen.
Als sie dann an ihrem Wagen ankam, zitterten ihre Beine nicht mehr. Noch bevor sie die Tür öffnen konnte, bemerkte sie jemanden auf der anderen Straßenseite. Es war David Albrecht, über dessen Schulter die Kamera hing. Er filmte sie.
Los geht’s, dachte Jessica. Das wird eine lange Woche.
Als sie einstieg und den Motor startete, klingelte ihr Handy. Sie meldete sich und erfuhr etwas, was sie schon immer vermutet hatte.
Sie war nicht die Einzige in ihrer Familie, vor der andere sich in Acht nehmen mussten.