60.
Die Audio-Videoabteilung des Philadelphia Police Departments war im Untergeschoss des Roundhouse untergebracht. Diese Abteilung hatte unter anderem die Aufgabe, alle städtischen Behörden mit Audio-und Videoequipment zu versorgen – Kameras, Fernsehapparate, Aufzeichnungs-und Überwachungsgeräte. Außerdem fiel es in ihren Zuständigkeitsbereich, alle öffentlichen Veranstaltungen aufzuzeichnen, in die der Bürgermeister oder das Police Department involviert waren, und diese so offiziell zu dokumentieren. Die Mordkommission wandte sich an diese Abteilung, wenn es darum ging, Filmmaterial aus Überwachungskameras zu analysieren, das ihre Fälle betraf.
Dafür war niemand besser geeignet als Mateo Fuentes. Er war Ende dreißig und Stammgast in der düsteren Enge der Kellerstudios und Schneideräume, ein pingeliger, überkorrekter Ermittler, der jeden Ausflug der Detectives in seine Welt als unwillkommene Störung anzusehen schien.
Mateo war kürzlich zum Sergeant aufgestiegen und nun Chef der Abteilung. Was als Perfektionismus angesehen wurde, als er noch Officer Fuentes gewesen war, grenzte jetzt an Besessenheit.
Als Jessica und Byrne im Untergeschoss ankamen, hielt Mateo Fuentes in einer Ecke des großen Studios Hof und unterhielt sich mit David Albrecht.
»Sie bevorzugen also die Objektive der L-Serie?«, fragte Mateo.
»Auf jeden Fall«, erwiderte Albrecht. »Es gibt nichts Besseres.«
»Keine Geisterbilder?«
»Nein.«
Mateo grinste. »Wenn ich eine Hypothek auf mein Haus aufnehmen und meine gesamten Besitztümer verkaufen würde, könnte ich mir dann so eine Ausrüstung kaufen?«
»Dann könnten Sie sich eine leihen.«
Die beiden Männer wandten sich Jessica und Byrne zu. Albrecht lächelte. Mateo runzelte die Stirn. Es sah so aus, als würden die beiden Detectives ihm die Laune verderben. Ein paar Minuten später stießen die anderen Mitglieder des Teams dazu. Insgesamt waren es sechs Detectives plus Sergeant Dana Westbrook.
Mateo war klar in der Minderheit.
»Dann wollen wir mal«, sagte Fuentes. »Sind Sie bereit?«
Die Detectives drängten sich um Albrechts Kamera. Das Display hatte eine Diagonale von ungefähr vier Zoll, doch Mateo hatte es mit einem externen 15-Zoll-Monitor verbunden.
Mateo spulte die Aufnahmen aus West Philly bis zu der Stelle vor, die den Parkplatz zeigte, auf dem Jessica angegriffen worden war.
Auf dem Video sahen sie, wie Jessica den Imbiss verließ und den Parkplatz betrat. Normalerweise hätten die Kollegen jetzt ein paar blöde Bemerkungen gemacht, um sie hochzunehmen. Doch heute schwiegen sie alle, denn sie wussten, was gleich kam.
Jessica telefonierte mit dem Handy und steckte es anschließend ein. Sie lehnte sich gegen die Mauer, schlug das Tagebuch auf und zog etwas heraus. Etwa eine Minute lang passierte nichts Besonderes. Im Vordergrund fuhren Autos vorbei. Eine Mutter mit drei kleinen Kindern blieb vor dem Parkplatz stehen. Eine Frau zog einem zweijährigen Kind die Jacke richtig an, dem das gar nicht gefiel. Sie gingen schnell weiter. Jessica las noch immer in dem Tagebuch.
Ein paar Minuten später bog Thompson um die Ecke. Er verpasste Jessica einen Faustschlag, worauf ihr das Tagebuch aus der Hand flog. Zwei lose Blätter segelten durch die Luft. Alle, die zuschauten, zuckten zusammen. Der zweite Faustschlag streckte Jessica zu Boden. Mit großspuriger Miene spazierte Thompson einen Augenblick hin und her. Sie hörten nur die Verkehrsgeräusche. Seine Worte konnten sie nicht verstehen, aber seine Gebärden waren unmissverständlich.
»Da«, sagte Albrecht. Er drückte eine Taste auf der kleinen Fernbedienung in seiner Hand. Der Film blieb stehen. Albrecht deutete auf die rechte Seite des Monitors. Genau hinter der Ecke des Gebäudes war ein Schatten auf dem Boden zu sehen, unverkennbar der Schatten einer Person. Albrecht ließ den Film weiterlaufen. Thompson beugte sich über Jessica, doch aller Augen waren auf den Schatten gerichtet. Der Schatten bewegte sich nicht.
Er beobachtet alles, dachte Jessica. Er steht da und verfolgt, was passiert. Er hilft mir nicht. Er gehört dazu.
Als Thompson sich der Ecke des Gebäudes näherte, tauchten auf einmal zwei Arme über seinem Kopf auf. Eine Sekunde später senkten sich die Arme und Thompson wurde mit enormer Kraft nach hinten gerissen, sodass er das Gleichgewicht verlor und fast völlig aus dem Bild verschwand.
Albrecht spulte den Film zurück und spielte ihn noch einmal in Zeitlupe ab. Die Arme steckten in dunkler Kleidung. Die Person trug dunkle Handschuhe. Als die Hände über Thompsons Kopf schwebten, hielt Albrecht den Film an. Vor dem Hintergrund der weißen Garage hinter dem Gebäude konnte man sehen, was der Mann im Schatten in der Hand hielt. Es war ein Draht. Eine lange Schlinge aus dünnem Draht. Er schlang den Draht über Thompsons Kopf und dann um dessen Hals, riss ihn nach hinten und zog Thompson aus dem Bild.
Dann war nichts mehr zu sehen.
»Ich möchte, dass eine Kopie davon an den technischen Dienst geschickt wird«, sagte Dana Westbrook. »Ich möchte, dass sie jedes einzelne Bild unter die Lupe nehmen.«
»Wird gemacht.«
»Ich will, dass alle Reifenspuren von dem Parkplatz und dem Bereich hinter dem Gebäude sichergestellt werden«, fuhr Westbrook fort. »Überprüfen Sie, ob es auf der Straße Überwachungskameras gibt.«
Ehe Westbrook dem noch etwas hinzufügen konnte, stieg Dennis Stansfield im Eiltempo die Stufen hinunter und stürmte in den Raum.
»Detective?«, sagte Westbrook. »Sie sind zu spät.«
Stansfield schaute auf den Boden, die Decke und die Wände. Er öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Er schien erstarrt zu sein.
»Stansfield?«
Schließlich erwachte er aus seiner Erstarrung. »Wir haben noch eine Leiche.«
Der Fundort war ein chinesischer Schnellimbiss in der York Street in Fishtown. Dieses Arbeiterviertel im Nordosten von Center City erstreckte sich ungefähr vom Delaware River bis zur Frankford Avenue und der York Street. Mittlerweile gab es in Fishtown eine Reihe von Veranstaltungsstätten für Kunst-und Unterhaltungsevents, wo sich Künstler oder solche, die sich dafür hielten, sowie Cops, Feuerwehrleute und Arbeiter trafen.
Als Byrne und Jessica unter dem Absperrband hindurchschlüpften und zu dem Bereich hinter dem Restaurant gingen, fürchtete Jessica sich vor dem, was sie erwartete.
Zwei Streifenpolizisten standen an der Einmündung der Gasse. Jessica und Byrne unterschrieben das Tatortprotokoll, streiften Handschuhe über und gingen die schmale Gasse hinunter. Sie hatten es nicht eilig.
Kurz nach einundzwanzig Uhr war der Anruf bei der Notrufzentrale eingegangen. Es sah so aus, als wäre das Opfer schon seit Tagen tot.
Hinter dem Restaurant stapelten sich seit Wochen die Müllsäcke. Offenbar hatte der Restaurantbesitzer mit dem privaten Müllentsorger einen Streit, der eskaliert war. An einer Wand standen über hundert volle Plastiksäcke, die von Ratten und Mäusen aufgerissen worden waren, und jetzt quoll der halb verrottete Inhalt heraus. Der entsetzliche Gestank des bereits verwesenden Leichnams wurde von einem Dutzend anderer beißender Gerüche nach verfaultem Fleisch und Gemüse überdeckt. Drei mutige Ratten liefen am Ende der Gasse hin und her und warteten auf eine günstige Gelegenheit.
Jessica sah das Opfer nicht sofort. Die Kriminaltechniker hatten ihre Scheinwerfer noch nicht aufgestellt. In dem trüben Licht der Straßenlaternen und dem matten Schimmer der Sicherheitsleuchte über der Hintertür des Restaurants verschmolz der Leichnam mit dem Müll und dem löchrigen Asphalt, als wäre er ein Teil dieser Stadt geworden. Erst als Jessica näher heranging, sah sie den Leichnam.
Hellbraune Haut, nackt und rasiert. Gase, die sich gebildet hatten, blähten den Toten auf.
Nicht nur das ganze Team war anwesend, sondern auch Russell Diaz, Mike Drummond und nun auch ein Vertreter aus dem Büro des Bürgermeisters.
Alle warteten darauf, dass der Rechtsmediziner den Leichnam für die Detectives freigab. Tom Weyrich hatte heute einen Tag freigenommen. Eine Schwarze in den Vierzigern, die Jessica noch nie gesehen hatte, vertrat ihn. Die Rechtsmedizinerin untersuchte den Leichnam auf Wunden und machte sich Notizen. Sie öffnete die Hände des Opfers und richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Innenfläche, worauf alle das kleine Tattoo auf dem Mittelfinger der linken Hand sahen. Es schien ein Känguru zu sein. Es wurde aus allen Perspektiven fotografiert.
Die Rechtsmedizinerin stand auf und trat zurück. Stansfield ging auf das Mordopfer zu und entfernte vorsichtig den hellen Papierstreifen, der um den Kopf des Toten gewickelt war.
Der Tote war ein Lateinamerikaner Ende dreißig. Wie die anderen Opfer auch hatte er einen Schnitt auf der Stirn, doch die Stichwunde befand sich diesmal über dem linken Auge. Das rechte Ohr war komplett verstümmelt und bestand nur noch aus einer unförmigen Masse aus getrocknetem Blut und zerschnittenem Knorpel.
Als Byrne das Gesicht des Opfers sah, trat er ein paar Schritte zurück und steckte die Hände in die Taschen.
Was war los?, fragte Jessica sich. Warum wich er zurück?
»Ich kenne ihn«, sagte Drummond. »Das ist Eduardo Robles.«
Aller Blicke richteten sich auf Kevin Byrne. Alle wussten, dass Byrne versucht hatte, genügend Beweismaterial zusammenzutragen, damit Robles vor der Grand Jury des Mordes an Lina Laskaris angeklagt werden konnte. Und jetzt war Robles Opfer ihres Serienmörders geworden.
»Hier ist sie gestorben«, sagte Byrne. »Sie wurde auf der Straße von Kugeln getroffen und kroch in diese Gasse, um zu sterben. Hier haben wir die Leiche von Lina Laskaris gefunden.«
In der York Street wimmelte es von Fernsehreportern. Jessica sah CNN, Fox und andere nationale Nachrichtensender. Zwischen ihnen kämpfte David Albrecht um einen guten Platz.
Fünf Opfer.