4.
Sophie Balzano saß am einen Ende der langen Couch und sah noch kleiner aus als sonst.
Jessica betrat das Sekretariat, sprach mit der Sekretärin, betrat dann das Büro und sprach mit einer von Sophies Lehrerinnen der Sonntagsschule. Nach dem kurzen Gespräch kehrte sie zurück und setzte sich neben ihre Tochter. Sophie starrte auf ihre Schuhe.
»Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte Jessica.
Sophie zuckte mit den Schultern und schaute aus dem Fenster. Sie hatte langes Haar, das mit einer hübschen Spange im Nacken zusammengehalten wurde. Die Siebenjährige war etwas kleiner als ihre Freundinnen, dafür aber schnell und clever. Jessica war ohne Schuhe circa eins zweiundsiebzig, und sie hatte diese Größe irgendwann zwischen der sechsten und siebten Klasse erreicht. Sie fragte sich, ob es ihrer Tochter ähnlich ergehen würde.
»Schatz? Du musst Mama sagen, was passiert ist. Ich kann dir nur erklären, wie du es beim nächsten Mal besser machen kannst, wenn ich weiß, was passiert ist. Deine Lehrerin hat gesagt, du hast gerauft. Stimmt das?«
Sophie nickte.
»Hast du dir wehgetan?«
Sophie schüttelte den Kopf, allerdings recht verhalten. »Nein, es ist alles in Ordnung.«
»Sprechen wir im Auto darüber?«
»Okay.«
Als sie die Schule verließen, sah Jessica, dass einige Schüler die Köpfe zusammensteckten. Anscheinend hatte auch heutzutage und in dieser Altersstufe eine Rangelei auf dem Schulhof Tuscheleien zur Folge.
Sie fuhren die Academy Road hinunter. Als sie in die Grant Avenue einbogen und der Verkehr wegen einer Baustelle zum Erliegen kam, fragte Jessica: »Kannst du mir sagen, worum es bei dem Streit ging?«
»Es ging um Brendan.«
»Brendan Hurley?«
»Ja.«
Brendan Hurley ging in Sophies Klasse. Der dünne, ruhige Junge mit der Brille schien wie dazu geschaffen, von Mitschülern gehänselt zu werden. Sonst wusste Jessica nicht viel über ihn. Zum letzten Valentinstag hatte Brendan Sophie eine Karte geschenkt. Eine große, glitzernde Karte.
»Was ist mit Brendan?«, fragte Jessica.
»Ich weiß nicht«, sagte Sophie. »Ich glaube, es könnte sein …«
Der Verkehr lief weiter. Sie bogen vom Boulevard ab und in die Torresdale Avenue ein.
»Was, mein Schatz? Du glaubst, Brendan könnte was sein?«
Sophie schaute aus dem Fenster und dann zu ihrer Mutter. »Ich glaube, er ist schwuuul«, flüsterte sie.
Oje, dachte Jessica. Sie war auf vieles vorbereitet. Gespräche über das friedliche Miteinander, über Nationalitäten und Klassenunterschiede, über Geld und sogar über Religion. Auf ein Gespräch über geschlechtliche Identität war sie überhaupt nicht vorbereitet. Die Tatsache, dass ihre Tochter das Wort im Flüsterton sagte, sprach Bände. Offenbar hielten Sophie und ihre Klassenkameraden dieses Thema für ein heißes Eisen, über das man sich besser nicht laut äußerte. »Verstehe. Und wie kommst du darauf?«, fragte Jessica.
Sophie strich ihren Rock glatt. Es war nicht leicht für sie. »Er läuft wie ein Mädchen«, sagte sie schließlich. »Und er wirft auch die Bälle wie ein Mädchen.«
»Okay.«
»Aber das tue ich doch auch, oder?«
»Ja, tust du.«
»Dann ist es doch nicht schlimm.«
»Nein. Es ist überhaupt nicht schlimm.«
Sie fuhren in die Einfahrt, und Jessica schaltete den Motor aus. Sie hatte keine Ahnung, was Sophie über die sexuelle Orientierung eines Menschen wusste. Schon allein der Gedanke an den Begriff »sexuelle Orientierung« in Verbindung mit ihrem kleinen Mädchen ließ sie ausflippen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Jessica.
»Dieses Mädchen hat gemeine Sachen über Brendan gesagt.«
»Welches Mädchen?«
»Monica«, sagte Sophie. »Monica Quagliata.«
»Geht sie in deine Klasse?«
»Nein. Sie ist in der dritten. Sie ist sehr groß und stark.« Sophie ballte die Fäuste – bewusst oder unbewusst.
»Was hast du zu ihr gesagt?«
»Ich hab gesagt, sie soll aufhören, so was zu sagen. Dann hat sie mich geschubst und mich Schlampe genannt.«
Dieses Miststück, dachte Jessica. Insgeheim hoffte sie, dass Sophie es diesem kleinen Biest ordentlich gezeigt hatte. »Was hast du dann getan?«
»Ich hab sie auch geschubst. Sie ist hingefallen, und alle haben gelacht.«
»Hat Brendan auch gelacht?«
»Nein. Brendan hat Angst vor Monica Quagliata. Alle haben Angst vor Monica Quagliata.«
»Aber du nicht.«
Sophie schaute aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen. Sie fuhr mit dem Finger über die beschlagene Scheibe und wandte den Blick dann wieder ihrer Mutter zu. »Nein. Ich nicht.«
Ja, dachte Jessica. Meine mutige kleine Tochter. »Ich möchte, dass du mir zuhörst, okay, Liebling?«
Sophie setzte sich gerade hin. »Kommt jetzt wieder einer deiner Vorträge?«
Jessica hätte beinahe gelacht, doch sie hielt sich im letzten Augenblick zurück. »Ja, ich glaub schon.«
»Okay.«
»Ich möchte, dass du daran denkst, dass eine Prügelei immer der allerletzte Ausweg ist, okay? Wenn du dich verteidigen musst, ist es in Ordnung. Immer. Und manchmal müssen wir auch auf Menschen aufpassen, die nicht selbst auf sich aufpassen können. Verstehst du, was ich meine?«
Sophie nickte, doch sie sah verwirrt aus. »Und was ist mit dir, Mama? Du hast dich doch ständig geprügelt.«
Oh, Scheiße, dachte Jessica. Die Logik einer Siebenjährigen.
Nachdem Sophie geboren wurde, hatte Jessica das Boxen für sich entdeckt. Dieser Sport unterstützte auch hervorragend ihre Bemühungen, nach der Schwangerschaft wieder abzunehmen. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr diese Sportart. Sie ging sogar so weit, ein paar Amateurboxkämpfe zu bestreiten, ehe sie sich von ihrem großartigen Onkel Vittorio überreden ließ, in den Profisport einzusteigen. Wenn für weibliche Boxerinnen über fünfunddreißig keine Seniorenklasse eingerichtet wurde, lagen diese Zeiten nun endgültig hinter ihr. Jetzt hatte Jessica sich bei Joe Hand’s Gym angemeldet, wo sie sich auf eine Reihe von Schaukämpfen vorbereitete, um Geld für die Police Athletic League zu sammeln. Diese Organisation widmete sich der Jugendarbeit, wobei der Schwerpunkt auf sportlichen Aktivitäten lag.
Weder das eine noch das andere half ihr im Augenblick, ihrer Tochter den Unterschied zwischen Prügeln und Boxen zu erklären.
Plötzlich sah Jessica einen Schatten im Außenspiegel.
Vincent lief mit einer Pizzaschachtel von Santucci’s die Einfahrt hinauf. Ihr Mann mit den karamellbraunen Augen, den langen Wimpern und dem durchtrainierten Körper ließ Jessicas Herz noch immer höher schlagen. Jedenfalls an den Tagen, an denen sie nicht den Wunsch hatte, ihn umzubringen. Manchmal trug er Anzug und Krawatte, rasierte sich sorgfältig und kämmte sein dunkles Haar nach hinten. An anderen Tagen machte er auf betont lässig. Heute war einer dieser lässigen Tage. Jessica musste zugeben, dass sie ihn dann unwiderstehlich fand. Für einen verheirateten Mann sah Detective Vincent Balzano wirklich verdammt gut aus.
»Liebling?«, sagte Jessica.
»Ja, Mama?«
»Du weißt, worüber wir gerade gesprochen haben? Über den Unterschied zwischen Prügeln und Boxen?«
»Was ist damit?«
Jessica tätschelte die Hand ihrer Tochter. »Frag deinen Vater.«
Sie wohnten seit über fünf Jahren in Lexington Park im Nordosten von Philadelphia, wenige Straßen vom Roosevelt Boulevard entfernt. An guten Tagen brauchte Jessica fünfundvierzig Minuten bis zum Roundhouse. An schlechten Tagen – und das war meistens der Fall – noch länger. Doch das sollte sich bald ändern.
Sie hatten beschlossen, in ein Haus in South Philly zu ziehen, ein dreigeschossiges Reihenhaus, das alten Freunden gehörte. Auf diese Weise wechselten Häuser in Philadelphia oft die Besitzer. Es kam selten vor, dass sie im Kleinanzeigenteil der Zeitungen ausgeschrieben wurden.
Das Haus stand in unmittelbarer Nähe ihrer neuen Kirche, der Sacred Heart of Jesus, wo auch Sophies neue Schule war. Neue Freunde, neue Lehrer. Jessica fragte sich, welche Auswirkungen der Umzug wohl auf das kleine Mädchen haben würde.
Jessicas Vater, Peter Giovanni, gehörte zu den Cops mit den meisten Auszeichnungen in der Geschichte des Philadelphia Police Departments. Er lebte noch immer Ecke Sechste und Catharine in South Philly in dem Haus, in dem Jessica aufgewachsen war. Noch war Peter ein rüstiger, aktiver Mann, der sich in der Gemeinde engagierte. Doch er wurde älter, und eines Tages würde es für ihn eine große Anstrengung sein, die Fahrt zu seiner einzigen Enkeltochter auf sich zu nehmen. Aus diesem und vielen anderen Gründen zogen sie wieder zurück nach South Philly.
Als ihre Tochter fest schlief und Vincent sich mit seinen Brüdern im Keller vergnügte, stand Jessica auf der obersten Stufe der schmalen Treppe zum Speicher.
Es kam ihr fast so vor, als stecke ihr ganzes Leben in diesen Kartons in dem vollgestellten, verwinkelten Raum unter dem Dach. Fotos, Andenken, Auszeichnungen, Geburts-und Sterbeurkunden, Zeugnisse.
Sie nahm einen der Kartons, einen weißen Geschenkkarton von Strawbridge’s, um den grünes Garn gewickelt war, in die Hand. Mit diesem Garn hatte ihre Mutter früher ihr Haar im Herbst, wenn die Sommersonne ihrem brünetten Haar einen kastanienbraunen Ton verliehen hatte, zusammengebunden.
Jessica zog das Garn von dem Karton und öffnete ihn: eine mit künstlichen Perlen besetzte Puderdose, ein kleines Lederportemonnaie, ein Stapel Polaroid-Fotos. Wie immer in solchen Situationen spürte sie die vertrauten Stiche des Schmerzes, der Trauer und des Verlustes, obwohl es schon über fünfundzwanzig Jahre her war, dass ihre Mutter gestorben war. Jessica schob das Garn wieder über den Karton, stellte ihn neben die Treppe und ließ ihren Blick noch einmal durch den Speicher wandern.
Sie war schon eine ganze Weile bei der Polizei und hatte fast alles gesehen. Es gab nicht viel, das sie aus dem Gleichgewicht warf.
Das schon.
Sie zogen zurück in die Stadt.