50.

»Mir geht es gut«, sagte Jessica.

Das war eine Lüge, aber sie blieb dabei.

Der Sanitäter kontrollierte zum dritten Mal mit der Pupillenleuchte ihre Augen, überprüfte zum dritten Mal den Blutdruck und zum fünften Mal ihren Puls.

Jessica hatte in der Vergangenheit schon viele Faustschläge eingesteckt. Wenn man im Boxring stand, war das nicht weiter verwunderlich. Thompsons Schlag hatte sie mehr oder weniger nur gestreift, und das auch nicht mit voller Wucht. Doch der Angriff traf sie vollkommen unvorbereitet. Im Ring stellte man sich innerlich auf die Schläge ein, und das Adrenalin, das in so einer Situation ausgeschüttet wurde, fungierte für die Nerven als eine Art Puffer. Niemand auf Erden kann sich auf einen Schlag vorbereiten, mit dem er nicht rechnet. Jessicas Kopf pochte ein wenig, aber ihr Blick war klar, und sie fühlte sich energiegeladen. Sie wollte die Jagd nach dem Killer fortsetzen, doch sie zwangen sie, wie eine Kranke hier zu sitzen. Jessica hatte solche Situationen schon häufig in ihren vielen Dienstjahren als Polizistin erlebt und selbst oftmals auf Opfer von Angriffen beruhigend eingeredet.

Bleiben Sie bitte einen Augenblick dort sitzen.

Für Vincent Balzano schied diese Option aus. Als die Streifenwagen eintrafen, rief Jessica ihn an. Vincent ermittelte nur ein paar Straßen weiter in einem eigenen Fall. Auf dem Weg zum Tatort brach er jeden Geschwindigkeitsrekord. Das war für ihn kein Problem. Schwierig war es hingegen, ihn zu beruhigen. In diesem Augenblick lief er wie ein Löwe im Käfig hin und her. Leider stand Vincent Balzano mit seinem italienischen Temperament hier kein Boxsack zur Verfügung.

Sie hatten Jessicas Waffe gefunden. Aus ihr war kein Schuss abgefeuert worden.

Jessica erinnerte sich nur noch, dass sie Schritte einer zweiten Person gehört hatte, aber sie wusste nicht, von wem. Das Tagebuch erwähnte sie nicht. Es war nicht gefunden worden.

»Niemand hat etwas gesagt?«, fragte Westbrook.

Jessica schüttelte den Kopf. Das tat weh, und daher ließ sie es besser sein. »Nein. Ich habe Schritte gehört, die sich näherten. Dann bekam ich zwei Faustschläge verpasst. Es gab eine Rauferei, und ich verlor das Bewusstsein.«

»Was war das für eine Rauferei?«

»Ich weiß nicht genau. Jedenfalls habe ich zwei Personen stöhnen gehört. Und dann hat das Klingeln in meinen Ohren alle anderen Geräusche übertönt.«

»Und die andere Person haben Sie nicht gesehen?«

»Nein, aber ich …«

Plötzlich schaute Jessica hektisch auf die Uhr und sprang auf. Im ersten Moment war ihr schwindlig, doch das verging sofort wieder. Ihre Verärgerung allerdings nicht.

»Was ist?«, fragte Vincent.

»Wir haben ihn verpasst. Verdammt!«

»Wen?«

»Den Termin beim Jugendamt.«

»Jess.«

»Jetzt komm mir nicht mit Jess

»Das kriegen wir schon hin. Mach dir keine Sorgen.«

»Keine Sorgen? Das kann der Grund sein, warum man abgelehnt wird, Vincent. Das ist der erste große Test. Wenn man nicht zum Termin erscheint und nicht anruft, ist es vorbei.«

Vincent drückte sie an sich. »Ich glaube, du hast eine gute Entschuldigung, mein Schatz. Das werden sie sicherlich verstehen.«

»Werden sie nicht«, widersprach Jessica und befreite sich aus der Umarmung. »Sie sprechen Carlos bestimmt keiner Familie zu, in der die Mutter jeden Tag großen Gefahren ausgesetzt ist.«

»Sie wissen, dass wir beide Cops sind. Unser Beruf ist ihnen bekannt.«

Jetzt kam alles heraus. Die Wut über den brutalen Fall. Die Enttäuschung darüber, dass sie nicht schwanger wurde, obwohl sie sich seit zwei Jahren ein zweites Kind wünschten. Die Demütigung, überfallen worden zu sein. Alles.

»Du warst nicht da, Vincent, aber ich. Ich habe gesehen, wie Carlos gelebt hat. Ich habe überall in der Wohnung die Hundescheiße und die verdammten Spritzen gesehen. Ich habe die Kakerlaken und die Ratten in der Spüle und das vergammelte Essen gesehen. Ich habe gesehen, dass er sich unter einem Müllsack versteckt hat. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Dreckloch das war und was für ein beschissenes Leben er geführt hat. Sie werden uns den Jungen nicht zusprechen, damit es ihm bei uns noch schlechter geht.«

Jessica ging ein paar Schritte auf und ab, um sich zu fangen. So einfach ließ sich die Wut aber nicht vertreiben.

Schließlich beruhigte sie sich. Die Ermittlungen warteten auf sie. Es würde ein langer Tag werden, und er hatte gerade erst begonnen.

Echo des Blutes: Thriller
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