96.

Wenn nach einem erfolgreich abgeschlossenen Polizeieinsatz alle Anspannung von den Beamten abfiel, breitete sich oft Hochstimmung aus. In den Minuten und Stunden nach einer Festnahme schalteten erst einmal alle einen Gang herunter, schüttelten sich die Hände, klopften sich auf den Rücken und reckten die Fäuste in die Luft. Es fehlte auch nie an Galgenhumor. Das war diesmal anders. Die Polizisten, die durch das riesige Haus in Chestnut Hill strömten, empfanden keine Freude und kein Glücksgefühl bei dieser Festnahme. Es war einer von ihnen.

Kevin Byrne war in Gewahrsam genommen worden und nun unterwegs ins Roundhouse. Christa-Marie Schönburg wurde vorsorglich ins Mercyhurst Hospital gebracht. Ihre private Krankenschwester Adele Hancock hatte heute Abend eine Vorstellung in der Oper besucht. Sie wurde informiert und war bereits auf dem Weg zu Christa-Marie.

Es dauerte nicht lange, bis sich nur noch Jessica, Dana Westbrook und Michael Drummond mit ein paar Polizeibeamten, die das Haus durchsuchten und sicherten, dort aufhielten. In Kürze brach der 1. November an, Allerheiligen, der Tag, an dem Christa-Marie vor genau zwanzig Jahren in diesem Haus verhaftet worden war.

Westbrook nahm Jessica zur Seite. Eine ganze Minute standen sie schweigend da. Keine der beiden Frauen fand die richtigen Worte. »Es wird sich alles aufklären«, sagte Westbrook schließlich. »Es gibt da eine ganze Menge, was ich nicht verstehe.«

Jessica nickte nur.

»Kevins Haftbefehl kam von höchster Stelle«, fügte Westbrook hinzu. »Ich musste mich dem beugen. Das wissen Sie, nicht wahr?«

Jessica erwiderte nichts. Das Bild von Kevin Byrne in Handschellen ging ihr nicht aus dem Kopf. Gemeinsam hatten sie im Laufe der Jahre so viele Verhaftungen durchgeführt, so viele Verbrecher gejagt und vor Gericht gebracht, dass sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass Byrne auf dieser Seite stehen könnte. Der Gedanke bereitete ihr Übelkeit.

»Sehen wir uns im Roundhouse?«, fragte Westbrook.

Jessica schaute auf die Uhr. »Geben Sie mir eine Stunde.«

»Einverstanden.«

Westbrook blieb noch einen Augenblick, legte eine Hand auf Jessicas Schulter und schien nach den richtigen Worten zu suchen, ohne sie zu finden. Dann drehte sie sich um, durchquerte die große Eingangshalle und verschwand durch die Tür.

Jessica schaute sich um. Ihr Blick fiel auf die Treppe, die Christa-Marie soeben noch hinuntergestiegen war. Jessica brauchte einen klaren Kopf. Sie musste nachdenken.

»Soll ich Sie irgendwo absetzen?«

Jessica drehte sich um. Es war Michael Drummond.

»Josh hat meinen Wagen«, erwiderte Jessica.

»Okay«, sagte Drummond. »Sobald am anderen Tatort alles geregelt ist, schicke ich ihn hierher.«

Er trat ein paar Schritte zur Seite und telefonierte kurz. Anschließend kehrte er zu Jessica zurück und sagte: »Es tut mir leid, dass es so gekommen ist.«

»Dazu möchte ich mich nicht äußern.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich brauchte nur ein bisschen Zeit, Michael. Das war alles. Ein bisschen Zeit.«

»Ich habe das nicht veranlasst, Jessica.«

Sie funkelte ihn böse an. »Ach, nein? Und wie kommt es dann, dass gerade jetzt die ganze Kavallerie hier angerückt ist?«

»Polizeiarbeit, Detective. Russ Diaz hat noch mal mit Kevins Cousin Patrick gesprochen. Es stellte sich heraus, dass in Mr. Connollys Van ein LoJack installiert war.«

Ein LoJack war ein System, mit dessen Hilfe gestohlene Fahrzeuge aufgespürt werden konnten.

»Russ meldete den Van als gestohlen und erfuhr diesen Standort«, fuhr Drummond fort. »Ich habe nichts damit zu tun.«

Jessica kämpfte noch immer gegen ihre Wut an, doch es war ihr auch peinlich, angedeutet zu haben, Drummond hätte sie verraten.

»Nur damit Sie es wissen, ich habe mit Detective Diaz gesprochen«, sagte Drummond. »Kevin wird anständig behandelt. Ich will nicht, dass hier irgendjemand meint, er müsste den starken Mann markieren.«

Es gab so vieles, was Jessica gerne gesagt hätte, aber über ihre Lippen kam kein Laut. Am liebsten hätte sie geschrien.

»Wir brauchen heute Nacht noch Ihre vollständige Aussage«, fügte Drummond hinzu.

Jessica nickte, hob ihre Dienstwaffe auf und steckte sie ins Holster.

»Ich weiß, dass es hart für Sie ist, Detective, doch die Menschen in Philadelphia können aufatmen. Wir sind alle froh, dass dieser Albtraum endlich vorbei ist.«

Tausend Eindrücke und Gedanken stürmten auf Jessica ein, aber es kam ihr nicht eine Sekunde in den Sinn, Kevin Byrne könnte irgendetwas mit der Sache zu tun haben. Sie zweifelte nicht im Geringsten an ihrem Partner. Ihr fiel die Aufgabe zu, Kevin Byrnes Unschuld zu beweisen, und damit würde sie auf der Stelle anfangen. Ehe Jessica eine Bewegung machen konnte, sah sie, dass links von ihr jemand stand.

»Ma’am?«

Jessica drehte sich um. Vor ihr standen zwei Streifenpolizisten aus dem Vierzehnten Revier. Der, der sie angesprochen hatte, ein stämmiger junger Mann Anfang zwanzig, war leichenblass, aber er hatte ruhige Hände. »Das Haus ist sauber, Ma’am.«

Jessicas Blick wanderte durch die riesige Eingangshalle und über die hohe Decke. »Sind Sie sicher? Es ist ein großes Haus, Officer.«

Der junge Polizist starrte sie irritiert an und drehte sich dann um. Hinter ihm standen vier weitere Polizisten und zwei Detectives vom Polizeibezirk Nord, die Jessica kannte. Der junge Officer hatte gesagt, dass acht Polizisten das Haus durchsucht hatten und dass sich dort niemand mehr aufhielt.

»Tut mir leid«, sagte Jessica. »Es ist kein schöner Abend.«

»Nein, Ma’am«, erwiderte der Polizist. »Zwei Türen sind abgesperrt, eine auf dem Dachboden und eine im Keller. Alle anderen Räume wurden überprüft.«

Er blieb noch stehen, wohl in Erwartung weiterer Anweisungen. Jessica schüttelte den Kopf. Der Officer tippte gegen den Schirm seiner Dienstmütze, worauf die acht Polizisten hintereinander das Haus verließen.

Als die Streifenwagen die Auffahrt hinunterfuhren, schlüpfte Michael Drummond in seinen Mantel. Er warf Jessica einen Blick zu, sagte aber nichts. Wortlos ging er durch die Tür und schloss sie hinter sich.

Im Haus herrschte Stille.

Jessica war allein.

Echo des Blutes: Thriller
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