26.
Das kriminaltechnische Labor war in dem massiven Gebäude einer ehemaligen Schule untergebracht. Es lag ein paar Blocks vom Roundhouse entfernt Ecke Achte und Poplar Street.
Sergeant Helmut Rohmer, der unumschränkte Herrscher der Dokumentenabteilung, war fünfunddreißig Jahre alt und mit seinen über eins neunzig ein wahrer Riese. Er brachte gut einhundertzwanzig Kilo auf die Waage. Neben seinem außergewöhnlichen und breit gefächerten Musikgeschmack, der von Iron Maiden bis Kitty Wells reichte, war er für seine stets schwarzen und immer mit neuen Aufdrucken versehenen T-Shirts bekannt. Er musste Hunderte davon besitzen. Mittlerweile bekam er sie schon per Post zugesandt, sogar von Leuten, die unter anderem mit seiner Unterstützung ins Gefängnis gewandert waren. Heute stand auf dem T-Shirt:
PADDLE SCHNELLER.
ICH HÖRE BANJOS.
Seine muskulösen Arme waren mit kunstvollen Tattoos verschiedenster Rosen verziert. Neuerdings rankte sich Efeu über seine Handgelenke bis auf die Handrücken. Rohmer war bis hin zu seinen unglaublich sorgfältig manikürten Händen stets sehr gepflegt. Jessica nahm an, dass die Maniküre etwas mit dem Tastsinn zu tun hatte. Hell Rohmer wollte nicht, dass irgendetwas seinen Tastsinn beeinträchtigte. Wie er an die kriminaltechnische Untersuchung von Dokumenten heranging, hatte schon fast etwas Übersinnliches. Das war einer der Gründe, warum er und Byrne dieselbe Sprache sprachen.
»Guten Abend, Schnüffler«, sagte Hell.
»Guten Abend, Alchemist«, erwiderte Byrne.
Hell lächelte. »Ich hab Ihr Papier«, sagte er. »Meinem Röntgenblick bleibt nichts lange verborgen.«
An der Wand hingen sechs vergrößerte Fotografien des Papiers – Vorder-und Rückseite –, mit dem die Köpfe der Opfer umwickelt gewesen waren. Auf den Fotos konnte man auch das Blut sehen, das von den Schnittwunden und kleinen Stichwunden auf der Stirn der Opfer durchgesickert war. Ein Strich, ein Punkt und die unbeholfen gemalte Zahl Acht an den verstümmelten Ohren.
»Was haben wir?«, fragte Jessica.
Hell nahm ein kleines, quadratisches Stück Papier in die Hand, das er vom Ende eines der Streifen abgeschnitten hatte. »Das ist teuer«, sagte er und strich mit dem Finger über das Papier mit der leicht gerauten Oberfläche. »Es ist wirklich schön. Unser Täter hat einen erlesenen Geschmack.« Hells Blick wanderte einen Augenblick durch den Raum und wurde ein wenig unscharf. Hell Rohmer verfügte definitiv über einen ausgeprägten Tastsinn.
»Hell?«
»Okay. Sorry. Das Papier ist handgeschöpft, hundert Prozent Baumwolle, säurefrei. Damit gehört es in die gleiche Kategorie wie zehntausend andere Papiersorten auch. Ich habe nicht die Möglichkeiten, einen Vergleichstest durchzuführen, um zu bestimmen, um welches Produkt es sich genau handelt. Daher wollte ich das Papier schon zum FBI schicken – und es kann, wie Sie wissen, ein bis zwei Monate dauern, bis Ergebnisse vorliegen –, als ich etwas entdeckt habe.« Hell hielt ein kleines Stück hoch. »Das haben wir von dem Papierstreifen abgeschnitten, mit dem der Kopf des weiblichen Opfers umwickelt war. Schauen Sie mal. Sie können einen kleinen Ausschnitt des Wasserzeichens erkennen.« Hell hielt das Papier vor eine grelle Lampe, aber nicht zu dicht. Jessica sah etwas, das aussah wie der Teil einer Schulter.
»Ist das vielleicht ein Engelskopf?«, fragte Jessica.
Hell schüttelte den Kopf. »Das Wasserzeichen zeigt die Venus von Milo. Auf dem anderen Papierstreifen ist es nicht. Daher nehme ich an, dass es von einem größeren Bogen abgeschnitten wurde.«
Hell zeigte ihnen einen anderen Ausdruck. Es war die durch ein Mikroskop gemachte Makroaufnahme vom Rand des Papiers. »Der Streifen wurde mit einer langen Klinge abgeschnitten. Man erkennt es daran, dass die Fasern leicht gerissen sind. Ich glaube, er hat eine Papierschneidemaschine und kein X-Actor-Messer, keine Schere oder Rasierklinge benutzt. Der Schnitt ist auf beiden Seiten gleichmäßig, und die Fasern wurden nach unten gedrückt. Zu gleichmäßig, als dass es jemand mit der Hand geschnitten haben könnte.«
Hell zeigte auf das Papier.
»Auf den ersten Blick sieht es weiß aus. Es ist aber ein ganz helles Grau. Der Büttenrand an zwei Seiten führt mich zu der Annahme, dass das Papier an allen vier Seiten einen Büttenrand hat. Der Papierstreifen ist sechzig Zentimeter lang. Daher nehme ich an, dass er von einem Bogen in der Größe sechzig mal sechsundsechzig Zentimeter abgeschnitten wurde. Das ist in der Drucktechnik eine Standardgröße.«
»Dieses Papier wird also zum Drucken verwendet?«
»Unter anderem.«
Hell legte das kleine Stück Papier auf den Tisch und nahm ein paar Computerausdrucke in die Hand.
»Das Wasserzeichen hat mich auf die richtige Spur gebracht. Ohne das Wasserzeichen hätten wir auf die Ergebnisse aus Washington warten müssen.« Er deutete auf eine Zeile auf dem Ausdruck, die in Lindgrün hervorgehoben war. »Der Hersteller dieses Papiers hat seinen Firmensitz in Mailand, und dieses Produkt heißt Atriana. Wirklich sehr gute Qualität. Größtenteils für hochwertige Druckerzeugnisse. Aber die Papiermühle stellt auch andere Papiere für die verschiedensten Verwendungen her – Schreibpapier, Leinwand, Pergament, Leinen. In unserem Fall handelt es sich um ein Spitzenprodukt. Ein Bogen davon kostet im Einzelhandel rund siebzig Dollar.«
»Was?«
»Ja. Und stellen Sie sich vor, die Firma liefert auch das Papier für den Euro.«
»Sagen Sie bloß.«
»In den USA bieten es nur zwei Großhändler an. Wenn ich mich nicht irre, kann man dieses Papier im ganzen Land nur in zwanzig Geschäften kaufen. Größtenteils Fachgeschäfte für Künstlerbedarf und Büroartikel. Allerdings kann man das Papier in einem Dutzend Online-Shops bestellen – Pech für uns, aber nicht für unseren Täter.«
»Gibt es auch in Philadelphia Läden, wo man es kaufen kann?«, fragte Jessica.
»Nein.« Hell lächelte und hielt eine Karteikarte mit einer Adresse hoch. »Aber in Doylestown gibt es ein Geschäft.«
Jessica nahm die Karte entgegen.
»Kein Applaus?«
Jessica klatschte.
»Danke. Und jetzt zu dem Wachs.« Auf dem Tisch stand eine kleine zugedeckte Schüssel, in der das Wachssiegel lag. »Das ist ganz normales Kerzenwachs und kein Siegelwachs. Darum löst es sich auch bereits auf.«
»Was ist der Unterschied?«
»Nun, vor ungefähr fünfhundert Jahren wurde Siegelwachs hauptsächlich aus Bienenwachs und dem sogenannten venezianischen Terpentin hergestellt, das aus dem Lärchenbaum gewonnen wird. Damals war Wachs noch ungefärbt, doch ab der Renaissance begannen die Menschen, es mit Zinnober zu färben. Wollen Sie das wirklich alles wissen?«
»Vielleicht später mal«, sagte Jessica. »Im Augenblick würde mich brennend interessieren, wo unser Täter das Zeug gekauft hat. Ich hätte gerne ein Video von ihm, wie er das Geschäft verlässt, und eine Kopie seines Führerscheins. Haben Sie das?«
»Nein, und noch schlimmer ist, dass dieses Kerzenwachs in jeder Filiale von Rite-Aid, Wal-Mart und Target im ganzen Land zu bekommen ist. Aber nicht in dieser Farbe.«
»Was soll das heißen?«
»Was ich sagen wollte, bevor ich so abrupt unterbrochen wurde, ist, dass dieses Wachs nicht mit altem Zinnober gefärbt wurde.«
Jessica brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was Hell Rohmer meinte. Ein Blick in Byrnes Augen sagte ihr, dass er es offenbar ebenfalls begriffen hatte. Sie wandte sich wieder an Hell.
»Nein.«
»Ich fürchte, ja. Das Wachs wurde mit Blut gefärbt. Unser Täter ist ein ganz, ganz übler Typ.«
Jessica warf Byrne wieder einen Blick zu, als jemand das Labor betrat und an der Tür stehen blieb. Hell durchquerte den Raum und verschwand aus Jessicas Blickfeld. In der Spiegelung eines Glasschrankes erkannte sie Irina Kohl. Irina hatte ein paar Akten mitgebracht und drückte Hell eine in die Hand. Dann stellte die zierliche Irina sich auf Zehenspitzen und küsste Hell Rohmer auf den Mund. Hell drehte sich um und bemerkte, dass Jessica sie in der Spiegelung des Glasschrankes sehen konnte.
Die beiden, nun rot wie Tomaten, gingen auf Jessica und Byrne zu.
»Hm, Sie haben nichts gesehen«, flüsterte Hell Jessica ins Ohr.
»Was gesehen?«
Hell zwinkerte ihr zu.
»Ich bin froh, dass Sie hier sind«, sagte Irina und kam sofort zur Sache. »Ich glaube, wir haben etwas über die Mordwaffe.«
Irina Kohl arbeitete in der Ballistik, die auch die Spuren von Tatwerkzeugen aller Art untersuchte. Die junge Frau Ende zwanzig war eine gepflegte Erscheinung und zeichnete sich wie die meisten ihrer Kollegen in der Kriminaltechnik durch eine sorgfältige Arbeitsweise und präzise Formulierungen aus. Für die Mitgliedschaft bei Mensa war sie vermutlich ein wenig zu clever. Unter ihrem Arbeitskittel trug sie eine Kostümjacke, eine weiße Button-Down-Bluse und eine lavendelfarbene Strickkrawatte.
Irina öffnete die Mappe und nahm ein paar Vergrößerungen heraus.
»Bei dem Draht, mit dem die Opfer erdrosselt wurden, handelt es sich um mehrsträngigen Titandraht.« Sie wies auf eine Makroaufnahme der Strangulationsmarken der beiden ersten Opfer. Sogar mit bloßem Auge konnte man das Muster der drei ineinandergedrehten Drähte im Fleisch erkennen. »In der Wunde haben wir Spuren des Metalls gefunden.«
»Wozu benutzt man so etwas?«, fragte Jessica.
»Es gibt zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten. Titandraht wird vor allem für medizinische Geräte, Knochenschrauben und kiefernorthopädische Apparaturen verwendet. In verschiedenen Stärken findet man ihn überall in Produkten für die Raumfahrt, Medizin und Seefahrt. Er hat eine niedrige Dichte und eine hohe Korrosionsbeständigkeit.«
Irina nahm eine Vergrößerung und zwei Objektträger in die Hand.
»Ich habe in den Wunden der ersten beiden Opfer auch Haare gefunden. Bei dem dritten Opfer sind wir noch nicht so weit.« Sie deutete auf die beiden Objektträger. »Diese hier habe ich bei Sharon Beckman und Kenneth Beckman gefunden.«
»Glauben Sie, das sind Haare von unserem Killer?«
»Nein. Ich fürchte, nein. Diese Haare stammen definitiv nicht von einem Menschen.«
Jessica wechselte kurz einen Blick mit Byrne. »Nicht von einem Menschen, sondern …«
»Von einem Tier.« Irina schob ihre dicke Brille hoch und verzog das Gesicht, als würde sie einen unangenehmen Geruch wahrnehmen. Offenbar wartete sie, bis sich alle von dem Schock erholt hatten. Jessica fiel auf, dass Irinas Unter-und Oberlippe in zwei unterschiedlichen Farbtönen schimmerten.
»Mann, Jess, du Dummkopf«, schimpfte Jessica. »Ich meine, von wem denn sonst?«
Irina fuhr unbeirrt fort. »Von einem Haustier.«
»Reden wir von einem Hund oder einer Katze?«, fragte Jessica.
»Ich meinte eher Haustiere im weiteren Sinne, also Nutztiere wie Kühe, Schafe oder Pferde.« Irina geriet richtig in Fahrt. »Wenn wir über die Haare von Haus-und Nutztieren sprechen, so gibt es da eine ganze Reihe von Unterschieden in Farbe und Länge. Viele dieser Kennzeichen sind sehr allgemein. Um zum Beispiel den Unterschied zwischen einem Hunde-und einem Katzenhaar oder zwischen dem einer Kuh und eines Elchs herauszufinden, muss man normalerweise die Haarwurzel haben. Und die haben wir in diesem Fall leider nicht.«
Sie schob einen Objektträger unter das Mikroskop und klemmte ihn fest.
»Aber wir haben eben erst angefangen.« Irina lächelte Hell an. Hell strahlte.
Irina schaute durch das Okular des Mikroskops und stellte es schärfer ein. »Wenn Sie hier durchschauen, können Sie es sehen«, sagte sie und trat zur Seite.
Jessica stellte sich vor das Mikroskop und schaute hindurch.
»Wie Sie sehen, ist die Oberfläche rau. Die Medulla ist nicht gebrochen«, sagte Irina. »Das Pigment ist fein und gleichmäßig verteilt.«
»Ja«, sagte Jessica. »Das mit der Medulla wollte ich auch gerade sagen.« Unter dem Mikroskop sah das Haar aus wie ein langes dunkelbraunes Rohr. Sie hätte sich genauso gut ein Schokoröllchen ansehen können. Hell Rohmer beobachtete Irina. In seinem Blick spiegelten sich Bewunderung und die Freude des Kriminalisten an seiner Arbeit. Jessica und Byrne hatten mit den beiden schon in vielen Fällen zusammengearbeitet. Hell und Irina gefiel es, wenn Detectives oder andere Ermittler, die von Kriminaltechnik nicht die geringste Ahnung hatten, durch Mikroskope schauten. Dadurch wurden sie als Kriminalisten gewürdigt, was sie ja auch waren.
»Die eiförmigen Strukturen haben mich darauf gebracht«, fügte Irina hinzu.
»Immer das Gleiche«, sagte Jessica und trat vom Mikroskop zurück. »Aber was meinen Sie jetzt genau? Ich meine, ich habe es verstanden. Nur damit Kevin es auch versteht.«
Byrne lächelte.
»Nun, das ist nicht unbedingt mein Fachgebiet. Ich schicke es daher an ein Speziallabor. Spätestens morgen müssten wir eine Rückmeldung haben.«
Jessica reichte Irina eine Karte mit ihrer Handynummer. »Rufen Sie mich sofort an, wenn Sie was gehört haben.«
»Mach ich. Und unser irrer Killer muss sich warm anziehen.«
»Warum denn das?«
Irina lächelte. Jessica sah, dass sie verstohlen Hell Rohmers Hand berührte. »Wir machen ihm das Leben zur Hölle.«
Auf dem Weg zum Wagen dachte Jessica an das Labor und die seltsamen Wesen, die dort schufteten. Spuren und Beweismittel waren – wie sie sagten – stumme Zeugen eines jeden Verbrechens und aufgrund des simplen Phänomens der Übertragung stets an Tatorten vorhanden. Kein Mensch konnte einen bestimmten Bereich betreten oder verlassen, ohne Beweismaterial von diesem Ort mitzunehmen oder dort zu hinterlassen. Doch die Beweismittel und Spuren allein hatten keinen Wert. Erst wenn sie entdeckt, gesammelt, analysiert, interpretiert und bei Gericht vorgelegt wurden, erhielten sie Bedeutung und konnten in einen Gesamtkontext eingeordnet werden.
In der Regel hatten Kriminelle keine Ahnung, wer die Leute waren, die in kriminaltechnischen Laboren in der ganzen Welt schufteten, und wie engagiert sie die Wahrheit ans Licht zu bringen suchten. Wüssten sie das, würden sie am Tatort nicht so unbekümmert Hautzellen, von denen sich täglich Millionen abschuppen, oder Haare, von denen wir täglich Hunderte verlieren, zurücklassen, von Speichel, Fußabdrücken, Blut oder Textilfasern gar nicht zu reden.
Als Jessica in den Wagen stieg, musste sie auch daran denken, dass ihr Job manchmal einer Episode aus Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI glich.
Diese Haare stammten definitiv nicht von einem Menschen.