28.
MITTWOCH, 27. OKTOBER
Lucy war den ganzen Morgen über wie auf Autopilot. Ihre Gefühle wechselten zwischen Auseinandersetzung und Verdrängung. Beides waren Termini, die sie in Bezug auf ihre Gemütsverfassung nie benutzt hatte, bevor sie zu Psychologen gegangen war. Sie sprachen eine andere Sprache, diese Leute, und verfügten über einen vollkommen anderen Wortschatz. Wenn man sich zum Beispiel einmal nicht an etwas erinnerte, betraf es das deklarative Gedächtnis. Oder wenn man ein Problem durch schlichte Logik löste, wurde das fluide Intelligenz genannt. Und dann ihr Lieblingsterminus. Wenn man zu den Leuten gehörte, die sich durch ihre eigenen Gedanken und Handlungen definierten, war man nicht einfach nur selbstsicher oder fühlte sich wohl in seiner Haut. Nein, nein. Man hatte ein Bewusstsein seiner Ich-Identität.
Lucy hätte fast gelacht. Es kam nicht oft vor, dass sie über ihre eigenen Gedanken lachte. Heute fand sie die Vorstellung lustig, dass sie dabei war, das Bewusstsein ihrer Ich-Identität zu erlangen.
Jedenfalls wurde Lucy an diesem Tag von ihren neuen Gefühlen beinahe überwältigt. Sie konnte kaum glauben, dass sie Detective Byrne gestern in die Arme gelaufen war. Sie hatte sich so gefreut, als sie ihn sah. Doch obwohl ihr klar war, dass sie ihn kannte, wusste sie im ersten Augenblick nicht, wer er war. Bis er lächelte.
Sie hatte diesen Mann, der eine volle Minute tot gewesen war, in der Regressionstherapie kennengelernt. Einmal tranken sie gemeinsam einen Kaffee und sprachen über ihre jeweiligen Erlebnisse. Nun ja, Lucy hörte ihm größtenteils nur zu, weil sie nicht genau wusste, was ihr zugestoßen war. Gestern gab er ihr seine Visitenkarte und bot ihr an, ihn jederzeit anzurufen. Lucy fragte sich, ob er ihr helfen konnte. Sie fragte sich auch, ob er über ihren Verdacht gegen den Mann lachen würde, von dem sie glaubte, er habe gestern Zimmer 1208 verlassen. Nein, er würde nicht lachen, aber vermutlich sagen, sie habe sich das nur eingebildet.
Während der Arbeit schaute Lucy alle fünf Minuten auf die Uhr. Zum ersten Mal seit langem fehlte ihr jedes Zeitgefühl. Es gelang ihr nicht, anhand der in den einzelnen Zimmern verbrachten Zeit die Uhrzeit zu schätzen.
Jedes Zimmermädchen besaß Schlüssel für seinen eigenen Bereich, eine elektronische Karte, die jener der Gäste ähnelte. Die Karte öffnete den Zimmermädchen die Türen in ihrem Arbeitsbereich, aber zu keinen anderen Zonen des Hotels. Wenn ein Zimmermädchen sagte, es habe ein Zimmer um 9.08 Uhr betreten, es in Wahrheit aber 9.21 Uhr war, fand die Hausdame das sofort heraus. Viele entlassene Zimmermädchen mussten auf die harte Tour lernen, dass Computer niemals logen. Es wurde nur registriert, wann man ein Zimmer betrat, nicht jedoch, wann man es verließ.
Heute verschmolzen alle Zimmer miteinander, und Lucy hatte keine Ahnung, wie lange sie für jedes einzelne brauchte.
Er roch nach Äpfeln.
Es konnte alles Mögliche gewesen sein. Es gab eine Million Erklärungen dafür. Viele Leute trugen dunkle Mäntel. Sogar Detective Byrne trug einen dunklen Mantel, verdammt.
Lucy stand am Ende des Korridors neben den Aufzügen. Sie schaute den Gang hinunter zum Ostflügel. Auf diesem Abschnitt lagen acht Zimmer. Zimmer 1201 bis Zimmer 1208. Heute konnte sie diesen Bereich mit einem Mädchen tauschen, das in der siebten Etage arbeitete. Als Gegenleistung hatte Lucy versprochen, deren tragbaren CD-Player zu reparieren. Diese Vereinbarung galt aber nur für heute. Morgen musste Lucy Zimmer 1208 betreten. Darauf freute sie sich wahrlich nicht.
Allen Zimmermädchen stand morgens eine Viertelstunde Pause zu. In dieser Zeit saß Lucy meistens in der Cafeteria und las, und wenn schönes Wetter war, lief sie zum Rittenhouse Square, um sich für fünf Minuten in die Sonne zu setzen. Es war erstaunlich, wie sehr fünf Minuten Sonne ihre Stimmung hoben. Heute ging sie in den kleinen Hof hinter dem Hotel. Dort hing so dichter Zigarettenrauch in der Luft, dass sie einen Augenblick brauchte, um sich zu orientieren. Niemand durfte im Umkreis von fünfzig Metern rund um das Hotel rauchen, aber an das Verbot hielt sich keiner, und es wurde auch nichts zu seiner Durchsetzung unternommen.
Als Lucy hinter dem Hotel um die Ecke bog, sah sie ihre Freundin Amanda auf einer Palette sitzen und eine Mandarine essen.
»Hey«, sagte Amanda.
»Hi.« Lucy setzte sich neben Amanda. Amanda Cuaron war all das, was Lucy nicht war. Exotisch, dunkeläugig, eine wahre Latina-Schönheit, die immer flirtete. Sobald Amanda in ihrer Nähe war, fühlte Lucy sich wie ein Mauerblümchen.
»Ach, ich hab ganz vergessen, dich zu fragen, ob du gestern bei diesem Typen warst«, sagte Amanda.
Mit diesem Typen meinte sie den Traumweber. Mr. Costa. Lucy wusste nicht, was genau sie Amanda erzählen sollte. Sie war zwar ihre Freundin, aber Geheimnisse hatte sie ihr noch nie anvertraut. Sie vertraute nie jemandem Geheimnisse an. »Ja«, sagte sie. »Ich war da.«
»Und wie ist es gelaufen?«
»Ganz okay.«
Amanda starrte sie an. Sie würde sich mit einer so kurzen Erklärung nicht abspeisen lassen. »Und? War er sonderbar? Trug er einen spitzen Hut, und hatte er einen Zauberstab?«
»Klar. Und er hatte einen langen weißen Bart. Hab ich dir nichts von dem Bart erzählt?«
Amanda lächelte. »Ist er süß?«
Lucy schnaubte verächtlich. »Hör auf. Der ist mindestens hundert Jahre alt.«
»Ist er süß?«
Lucy verdrehte die Augen. »Ich gehe heute wieder zu ihm.« Erst in dieser Sekunde wurde Lucy bewusst, dass sie sich dazu entschlossen hatte.
Amanda lächelte lasziv. »Mala chica.«
Sie sahen beide gleichzeitig auf die Uhr. Noch sechs Minuten.
Amanda zeigte auf die Mauer neben der Warenannahme. Dort war etwas in den Stein geritzt. RL liebt TJ.
»Ich frage mich, ob sie sich noch immer lieben«, sagte Amanda.
Lucy zweifelte daran. Sie glaubte nicht an wahre Liebe. »Es ist in Stein gemeißelt.«
Amanda lachte. »Wahrscheinlich damals, als das hier noch ein Wohnhaus war.«
»Wann war das denn ein Wohnhaus?«
»Ich weiß nicht genau. Bis 1999 oder so. Es soll auch ganz berühmt gewesen sein.«
»Wieso?«
»Vor allem wegen des kleinen Mädchens. Das weißt du doch, oder?«
»Wovon sprichst du?«
»Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Frag mal den Sergio. Der müsste es wissen.«
Sergio war ein älterer Mann, der in der Haustechnik arbeitete. Er war schon lange dabei.
»Aber wie ich gehört habe, wurde hier ein kleines Mädchen getötet«, fügte Amanda hinzu.
Lucy lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Wie meinst du das, getötet? War es ein Unfall oder etwas in der Art?«
»Nein. Getötet wie ermordet.«
»Wie bitte? Es wurde ermordet?«
»Ja.« Amanda fuchtelte mit den Fingern vor Lucys Gesicht herum und machte unheimliche Halloween-Geräusche. »Es heißt, der Geist der Kleinen wandle noch immer durch die Gänge.«
»Hör auf.«
Amanda kicherte. »Dich kann man aber schnell aus der Fassung bringen.«
»Wie alt war das Mädchen?«
Amanda zuckte mit den Schultern und bot Lucy einen Schnitz ihrer Mandarine an. Diese lehnte ab. »Keine Ahnung. Aber nicht sehr alt. Ungefähr zehn oder elf.«
»Und wie ist sie … Du weißt schon.«
»Wie sie gestorben ist?« Amanda zuckte wieder mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber ich glaube, sie haben den Kerl, der das getan hat, nie geschnappt.«
Lucy, der heute sowieso schon furchtbar unheimlich zumute war, kroch die Angst in die Glieder.
»Ich glaube, das ist einer der Fälle, in dem diese Spinner, die hier diese Woche übernachten, Nachforschungen anstellen wollen«, sagte Amanda. »Oder sie wollen über die Ermittlungen sprechen. Keine Ahnung, was sie vorhaben.«
Lucy war sprachlos. Amanda stand auf und warf die Mandarinenschalen in einen Mülleimer.
»Und, bleibt’s dabei?«, fragte Amanda.
Im ersten Augenblick wusste Lucy nicht, was ihre Freundin meinte. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie hatte Amanda versprochen, am Halloween-Abend, an dem es in Philadelphia immer total verrückt zuging, mit ihr im Fluid, einem Tanzklub in der Vierten Straße, etwas trinken zu gehen. Amanda glaubte zu wissen, dass dort immer haufenweise süße Collegejungs auftauchten. In diesem Jahr würden sie sich bestimmt alle wie Robert Pattinson kleiden.
»Ja«, sagte Lucy. »Warum nicht?«
»Super. Und du erlaubst mir, dir eine andere Frisur zu machen. Wir brezeln dich richtig auf, Chica. Vielleicht legt dich dann mal einer flach.«
»Amanda.«
Amanda kicherte wieder. »Ich hol dich um acht Uhr ab.«
»Super.«
Amanda kehrte ins Hotel zurück, doch Lucy blieb noch auf dem Hof. Sie musste immerzu an das kleine Mädchen denken, das Amanda erwähnt hatte. Ermordet. In dem Haus, in dem Lucy arbeitete. Sie musste mehr darüber erfahren, aber sie wusste nicht, warum. Vielleicht weil es in ihrem eigenen Leben auch einen weißen Fleck gab. Vielleicht weil sie sich seit neun Jahren auf seltsame Weise mit allen jungen Mädchen verbunden fühlte, die das Böse berührt hatten. Sie waren ihre Schwestern.
Es hieß, ihr Geist wandle noch immer durch die Gänge.
Danke, Amanda, dachte Lucy. Vielen Dank.