59. KAPITEL
Ich höre die Vögel zwitschern.
Sie klingen so glücklich. Meine Mundwinkel heben sich. Ich stelle fest, dass ich lächle. Ich lächle wegen der Vögel. Joshuas Vögel. Ich muss Futter nachfüllen – verdammt, das vergesse ich immer. Baldwin muss daran gedacht haben; deshalb sind sie hier vor dem Fenster. Fröhliche kleine Dinger. Rote Kardinäle, so wie es sich anhört.
Ich bin wach. Es ist an der Zeit, aufzustehen. Das ist mir der liebste Moment des Tages – das erste Erwachen, der Augenblick, wenn ich nicht länger schlafe, meine Lider aber noch geschlossen sind. Den Vögel zuhören. Ich bleibe immer noch ein paar Minuten im Bett und höre zu, wie der Tag erwacht. Versuche, den genauen Moment herauszufinden, in dem man weiß, dass man wach ist. Ist es, wenn man das erste Geräusch wahrnimmt? Die Augen öffnet? Oder wenn man erkennt, dass man nicht mehr träumt, wenn einem der Duft des frisch gewaschenen Lakens in die Nase steigt und man das weiche Daunenkissen unter der Wange spürt? Ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich verweile noch ein wenig hier.
Die Vögel werden lauter. Guter Gott. Die zwitschern so viel. Sitzen sie immer noch auf dem Fensterbrett? Oder ist einer in mein Zimmer geflogen?
Ich seufze. Ich komme wohl nicht darum herum, meine Augen aufzumachen und nachzusehen.
Jetzt bin ich ganz wach. Morpheus ist vertrieben worden. Auf Wiedersehen, süßer Prinz. Wir sehen uns heute Nacht wieder.
Ich liebe es, tatsächlich zu schlafen. Jahrelang litt ich unter schrecklicher Schlaflosigkeit. Ein paar Stunden Schlaf halfen mir, mich besser zu fühlen. Aber das hier ist einfach köstlich. Ich habe das Gefühl, eine ganze Nacht durchgeschlafen zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so tief und fest geschlafen habe.
Meine Augen sind jetzt offen. Mein Gott, ich muss vergessen haben, die Vorhänge zuzuziehen, es ist unglaublich hell hier drinnen. Ich schließe die Lider gegen die Helligkeit und versuche, mich an das Licht zu gewöhnen. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich die Decke. Es ist nicht meine. Wie nennt man das noch, wenn die aus lauter Rechtecken besteht, die aussehen wie Pappkarton? So eine Decke habe ich in meinem Büro. Die hatte immer einen Fleck in einer Ecke – verdammt, mir fällt nicht ein, wie das heißt.
Es gibt auch einen Fernseher, der hoch oben an der Wand hängt. Das hier ist nicht mein Schlafzimmer zu Hause. Oh, es ist ein Hotel. Ich will meinen Kopf zur Seite drehen, aber irgendetwas hält mich fest. Na toll. Ein Traum in einem Traum. Das passiert mir manchmal. Ich träume, dass ich aufgewacht und wieder eingeschlafen bin, obwohl ich nie wach war. Ich werde einfach meine Augen schließen und mich in den Traum zurücksinken lassen.
Dieser dumme Kardinal sitzt auf meiner Brust. Lauter, ungezogener Vogel. Geh weg. Geh weg, Vogel.
Hmmm, Kaffee. Das riecht gut.
Baldwin holte sich im Schwesternzimmer einen Kaffee und nahm sich die Morgenzeitung. Die Schwestern hatten ihn in den letzten Wochen oft genug gesehen, um daran zu denken, sie ihm dazulassen. Er hatte seinen neuen Tagesablauf gut im Griff – Anruf im Krankenhaus, bevor er sein Zuhause verließ, um zu hören, ob es irgendwelche Veränderungen gab. Nach der ersten Woche, in der er sich geweigert hatte, ihr Zimmer zu verlassen, hatten sie ihn schließlich durch zwei Wachmänner rauswerfen lassen. Aber tief in seinem Herzen wusste er, dass sie recht hatten. Niemand konnte absehen, wie lange es dauern würde, bis Taylor wieder zu Bewusstsein käme. Oder ob überhaupt.
Die Kugel war in einem seltsamen Winkel eingedrungen. Sie hatte den Schläfenlappen durchschlagen und war direkt dahinter stecken geblieben. Die Operation war ziemlich riskant, und Taylor hatte währenddessen einen Schlaganfall erlitten. Eine Woche hatte man sie in einem künstlichen Koma gehalten und den Kopf fixiert, damit sie ihn nicht aus Versehen bewegte und die ganze Arbeit zunichtemachte. Nach einer Woche hatten sie langsam die Medikamente abgesetzt. Doch sie wachte trotzdem nicht auf.
Man konnte nicht sagen, ob sie es je tun würde. Oder wie ihr Zustand wäre, wenn sie es täte.
Baldwin konnte an so etwas nicht denken. Er musste daran glauben, dass sie wieder aufwachen und ganz in Ordnung kommen würde.
Er schüttete zwei Päckchen Zucker in den Kaffee. Dieser Tage benötigte er die zusätzliche Energie. Es hatte so viele Folgen, wenn ein Polizist angeschossen wurde. Erklärungen. Entschuldigungen.
Und es hatte noch viel mehr Folgen, wenn ein FBI-Agent, der eigentlich in Knoxville hätte sein sollen, um einen Verdächtigen zu befragen, sich stattdessen in einem Krankenhaus in Nashville befand, wo er um seine Verlobte weinte, und wenn die Pistole dieses Agents dann auch noch zu den vier Kugeln passte, die aus einer auf einem Dachboden in Belle Meade gefundenen Leiche geholt worden waren. Belle Meade lag nicht einmal in der Nähe von Knoxville.
Heute war ihm beinahe fröhlich zumute. Taylor war eine Kämpferin. Er war entlastet und wieder eingestellt worden. Sie nannten ihn einen Helden. Sagten, er hätte Taylor und Sam aus den Klauen eines Verrückten befreit.
Er klärte den Fehler nicht auf. Und als der Autopsiebericht von Ewan Copeland neben den vier Kugeln noch multiple Knochenbrüche und Prellungen sowie eine kollabierte Lunge auflistete, erzählte er ihnen, Copeland hätte sich stark gewehrt. Marcus bestätigte seine Version der Geschichte.
Taylor musste jetzt mehr als je zuvor beschützt werden. Er hatte nicht vor, irgendjemanden wissen zu lassen, dass sie Copeland die Verletzungen zugefügt hatte. Er hatte ihn erschossen und getötet, ja, aber bevor Copeland geschossen hatte, hatte Taylor ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt.
Das war sein Mädchen.
Der Berg an Informationen über Copeland wuchs mit jedem Tag. Sie fanden seine Wohnung, ein Stadthaus im Osten Nashvilles, das er gemietet hatte. In ihm befand sich nichts außer einem Laptop, einem Stuhl und einer angeschlagenen Teekanne mit passender Tasse. Warum er seinen Laptop zurückgelassen hatte, darüber konnten sie nur spekulieren. Baldwin nahm an, dass er ihnen damit zeigen wollte, wie gut er wirklich gewesen ist. Copeland wusste, dass er sterben würde, und hatte diesen Ausweg vermutlich mit offenen Armen in Kauf genommen.
Auf dem Computer gab es nur ein einziges Word-Dokument. Eine Art Tagebuch mit täglichen Einträgen. Copeland hatte mit sich selbst diskutiert, Entscheidungen besprochen. Charlaine Shultz hatte recht, was seine körperdysmorphe Störung anging – der Arzt hatte ihre Theorie bestätigt. Copeland war sehr sorgfältig gewesen, was seine Einträge anging. Er hatte die letzten fünf Jahre beinahe vollständig auf dem Computer dokumentiert: seine Morde, seine Operationen, seine Pläne. Seine wachsende Enttäuschung, seine Wut.
Baldwin nahm an, dass Copeland vorher handgeschriebene Tagebücher geführt hatte. Doch die waren noch nicht gefunden worden.
Copeland beschrieb in allen Einzelheiten seine Verärgerung über die hübsche Polizistin, die ihn vor vier Jahren abgewiesen hatte – direkt, nachdem er Tommy Keck getötet hatte. Jede Bewegung, jedes Detail war aufgezeichnet. Es würde Jahre dauern, das alles zu entwirren, aber es gab inzwischen schon zehn Mordfälle, die sie hatten aufklären können, weil Copeland detaillierte Karten von den Verstecken der Leichen gezeichnet hatte.
Eine neue ViCAP-Suche brachte siebzehn höchst gewalttätige Vergewaltigungen miteinander in Verbindung, die alle eine Sache gemeinsam hatten: Schnitte auf dem Bauch. Copeland hatte seine eigenen Narben entfernen lassen und erschuf sie doch auf den Seelen anderer Menschen immer wieder neu.
Sam war eine der Empfängerinnen solcher Narben. Baldwin hatte sie vor zwei Tagen getroffen. Sie war langsam wieder die Alte, frech und geradeheraus, aber sie umgab auch eine beinahe greifbare Trauer, die er noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Ihr Kind zu verlieren war für sie die Hölle gewesen, aber wenn sie jetzt auch noch ihre beste Freundin verlöre, würde sie zusammenbrechen. Simon hatte sie auf einen kleinen Urlaub entführt – nur sie beide und die Zwillinge. Das hatte geholfen, um ihr Äußeres zu reparieren. Doch innerlich würde sie nie wieder die Gleiche sein, dafür hatte Copeland gesorgt.
Er ging den Flur hinunter zu Taylors Zimmer. In der Hand hielt er die Zeitung, in seinem Rucksack steckte sein neues iPad. Er hatte sich für diese Woche drei Bücher ausgesucht, die er lesen wollte. Er las sie Taylor laut vor. Es waren alles Klassiker. Heute war Emma dran, eines ihrer Lieblingsbücher. Er dachte kurz an Emma Brighton, ein armes, verängstigtes Mädchen, ein Opfer. Die arme Frau. Und er dachte an Flynn, der jetzt eine Waise war.
Genau wie er.
Er öffnete die Tür.
Irgendetwas war anders.
Er sah grau. Zwei graue Blitze. Guter Gott, sie hatte die Augen geöffnet.
Er ließ Kaffee und Zeitung fallen und ignorierte den Schmerz, den die heiße Flüssigkeit auf seinem Oberschenkel verursachte. Er eilte zu ihr ans Bett.
„Babe? Taylor? Kannst du mich hören?“
Die Augen wandten sich ihm zu, und er schwor, dass sie ihn erkannte. Ohne den Blick abzuwenden, drückte er den Rufknopf für die Schwester. Ihre Stimme erklang ungeduldig durch die Gegensprechanlage. „Was?“
„Holen Sie Dr. Benedict. Sie ist wach.“
„Was?“ Alle Ungeduld war verschwunden. „Wirklich?“
„Ja, ja. Nun holen Sie schon den Arzt.“ Er leckte sich über die Lippen.
Taylor kniff die Augen ein wenig zusammen; ihr Mund bewegte sich auf der linken Seite.
„Oh Gott, Taylor. Ich wusste, dass du wieder aufwachen würdest. Ich wusste es. Willkommen zurück, meine Liebste.“
Sie fing an, sich zu bewegen, aber er legte ihr vorsichtig die Hand auf die Brust. Er musste sich zusammenreißen, um nicht zu weinen.
„Nein, versuch nicht, dich zu bewegen. Du liegst in einem Geschirr, das deinen Kopf fixiert. Du bist angeschossen worden, Sweetheart. Copeland hat dir in den Kopf geschossen. Du hast eine Weile geschlafen, aber jetzt ist alles wieder gut, Baby. Du wirst wieder ganz gesund.“
– ENDE –