2. KAPITEL

Die Outer Banks, North Carolina

Hätte man die Flugbegleiterin der Gulfstream befragt, wäre sie sehr zurückhaltend und schweigsam gewesen, wie es ihrem Job gebührte. Sie arbeitete für den stellvertretenden Direktor des Federal Bureau of Investigation. Was bedeutete, dass sie sehr viel sah, was Normalsterblichen verborgen blieb. Sie sah ihren Chef in Gesprächen mit anderen verschwiegenen und mächtigen Männern. Sie sah Menschen mitfliegen, die sich auf normalen Reiserouten genauen Überprüfungen hätten unterziehen müssen. Sie sah frisch verwitwete Frauen und plötzlich kinderlose Mütter. Sie sah sehr viel, doch sie sprach niemals darüber.

Die Frau mit den grauen Augen, die in der Mitte der Kabine auf dem ausladenden Ledersessel saß, ein unberührtes Glas mit Voss-Wasser neben ihrem Ellbogen, war jedoch eine kleine Überraschung. Die Flugbegleiterin, die Cici hieß, hatte sich anfänglich von dem freundlichen Lächeln einfangen lassen, von den faszinierenden, ungleichfarbigen Augen, das rechte ein wenig dunkler als das linke, als wenn es sich noch nicht ganz dazu hatte entschließen können, sich dem Grau aus vollem Herzen hinzugeben. Ihr gefielen der rauchige Südstaatenakzent, mit dem die Frau Guten Morgen gesagt hatte, die blonden Haare, die am Hinterkopf zu einem perfekt achtlosen Knoten zusammengefasst waren. Cici berührte ihre eigenen schlaffen Locken und wünschte sich zum millionsten Mal mehr Fülle, mehr Volumen, damit sie ihre Haare einfach hochbinden könnte und sich für den Rest des Tages keine Gedanken mehr um sie machen müsste.

Sie war neidisch auf die Größe der Frau, die ohne Absätze gut einen Meter achtzig war, sowie auf ihren gesamten Look: ein schmeichelnder schwarzer Kaschmirrolli, eine schwarze Lederjacke, tief sitzende Jeans und schwarze Motorradstiefel von Frye. Leicht überrascht hatte sie das Holster und die Marke am Bund ihrer Jeans gesehen. Diese Frau sah gar nicht aus wie ein Cop. Doch sie war einer – das wusste Cici aus der Passagierliste. Ein Lieutenant von der Mordkommission in Nashville, Tennessee.

Sie saß ungewöhnlich ruhig auf ihrem Sitz – kein Hin- und Herrutschen, keine übereinandergeschlagenen Beine, kein Trommeln mit den Fingern. Ihr Hände waren locker im Schoß gefaltet, ihr Kopf ein wenig zur Seite gedreht, damit sie aus dem Fenster schauen konnte. Diese Bewegungslosigkeit verursachte in Cici ein unbehagliches Gefühl, und sie schlich beinahe auf Zehenspitzen durch die Kabine, um sie nicht zu stören.

Cici wusste außerdem, dass diese Frau zu einem ihrer Lieblingsmänner auf der ganzen Welt gehörte: Dr. John Baldwin. Baldwin war der Liebling ihres Chefs, was sie nur zu gut verstand. Abgesehen von seinem guten Aussehen – oh, für diese grünen Augen könnte man sterben! – war Baldwin einfühlsam und verständnisvoll. Er war der Kleber, der ihren Boss zusammenhielt, der Sohn, den er nie gehabt hatte. Das wusste sie, weil Garrett Woods es ihr einmal erzählt hatte, nachdem er etwas Stärkeres als Wasser getrunken hatte.

Baldwin hatte Männer und Frauen in die Schlacht geführt, gegen das Böse gekämpft, das auf ihren Schreibtischen landete, die Flutwellen aus Blut zurückgedrängt, die die Bösartigkeit ihrer Gegner vor sich hertrieben. Er war so höflich, dass sie sich manchmal fragte, ob es nur gespielt war. Wer konnte schon immer so sein? So gefasst. So wie diese Frau. Sie fragte sich oft, was Dr. John Baldwin antrieb. Cici war keine Profilerin, aber sie hatte Psychologie studiert. Seine ruhige Miene war eine Fassade, dessen war sie sich sicher. In seinen Eingeweiden wanden und krümmten sich Dämonen. Schuld und Scham und Hass. Das war doch bei jedem so, oder? Oder?

Die gleiche Art Kampf fühlte sie hinter den grauen Augen des Lieutenants. Schuld und Scham und Hass. Und wenn Cici sich nicht irrte – sie war schließlich keine Expertin und wäre die Erste, die dies zugeben würde –, ja, wenn Cici sich nicht irrte, lauerte in diesen grauen Tiefen noch etwas anderes.

Angst.

Taylor spürte, wie die Landeklappen und Räder ausgefahren wurden und einrasteten. Unter ihr tauchte grau und kühl der Asphaltstreifen auf. Der Jet landete sanft und kam innerhalb weniger Minuten zum Stehen. Baldwin hatte organisiert, dass sie in Nashville mit dem Flugzeug seines Chefs abgeholt und hierher nach North Carolina geflogen wurde. Sie musste zugeben, dass sie sich daran gewöhnen könnte, in der Gulfstream zu fliegen.

Die Flugbegleiterin öffnete die Tür und verabschiedete sich von ihrem einzigen Passagier. Taylor war sehr froh, dass der Flug vorüber war; die Frau war so nervös gewesen wie ein Hirsch auf einer ungeschützten Lichtung und hatte sie die ganze Zeit unter ihren beinahe wimpernlosen Lidern heraus mit blassem Blick gemustert.

Sie ging die Treppe hinunter und war überrascht, kleine Schneeflocken zu sehen, die vom Himmel zur Erde segelten und sich bereits auf ihrem Kopf sammelten. Sie schüttelte ihre Haare aus und band sie zu einem Pferdeschwanz.

Baldwin erwartete sie. Seine dunkelgrünen Augen leuchteten auf, als er sie näherkommen sah. Er hatte sich, seitdem er sie Montagfrüh verlassen hatte, nicht mehr rasiert und sah aus, als sei er ein Model in einer Werbung für einen Rasierapparat. Sofort verspürte sie das sehnsüchtige Ziehen in ihrem Magen, und die unbändige Freude, ihn wiederzusehen, zauberte ein breites Lächeln auf ihr Gesicht. Er erwiderte das Lächeln, packte Taylor um die Taille und küsste sie innig. Als sie wieder nach Luft schnappten, sprachen sie beide gleichzeitig.

„War der Flug okay?“

„Ist Fitz hier?“

Sie lachten, und Taylor sagte: „Du zuerst.“

„Nein, er ist nicht hier. Die Agents vom North Carolina State Bureau of Investigation haben ihn. Sie sind noch beim Debriefing. Heute Nachmittag soll er operiert werden. Dazu wird er ins Duke geflogen, wo bereits ein Spezialist auf ihn wartet.“

„Wir haben in Nashville auch Spezialisten. Warum können wir ihn nicht nach Hause bringen?“

„Weil das North Carolina SBI ihn im Moment in ihrem Zuständigkeitsbereich behalten will. Es sind drei Bezirksstellen involviert. Das hier ist für sie ein großer Fall. Sie wollen ständigen Zugriff auf Fitz haben. Du kennst das doch. Außerdem ist dieser Arzt im Duke einer der Besten. Sie werden seine Augenhöhle säubern und einen Ring einsetzen, damit seine Augenmuskeln nicht kollabieren. Dann verlegen sie ihn für den Rest seiner Rekonvaleszenz ins Vanderbilt. Ich habe Fitz kurz gesehen. Ich weiß, er wird sich unbändig freuen, dich zu sehen.“

Zu sehen. Die Worte trafen sie genau ins Herz. „Sein armes Auge. Hat er große Schmerzen?“

„Er war stabil genug, um aus der Notaufnahme entlassen und zur Befragung aufs Polizeirevier gebracht zu werden. Ich bin mir sicher, er bekommt alles, was nötig ist. Er ist ein zäher alter Vogel. Alles wird gut. Sie haben gesagt, der Schaden könne behoben werden, und in ungefähr einem Monat bekommt er eine Prothese.“

„Ich möchte mit ihm sprechen. Hören, ob er lieber nach Nashville möchte. Sie können ihn nicht wie einen Verdächtigen behandeln. Er sollte selber entscheiden dürfen.“

Gemeinsam gingen sie auf das Terminal zu. Der Privatflughafen in Duck war winzig und konnte nur die kleinsten Jets und einmotorigen Flugzeuge aufnehmen.

„Gibt es sonst etwas Neues?“, fragte Taylor.

„Ehrlich gesagt ja. Der Hafenmeister hat Fitz’ Boot entdeckt. Es liegt seit ungefähr einer Woche hier in der Marina. Er ist vorbeigegangen, um die Miete zu kassieren, und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, und hat die Polizei gerufen. Auf dem Boot war Blut, viel Blut. Die Polizei von Nags hat Susies Leiche im Bug des Bootes gefunden. Sie hatte mehrere Stichwunden.“

Übelkeit stieg in Taylor hoch. Susie McDonald war das Beste, was Fitz seit Langem passiert war. Taylor hatte sie gemocht, Fitz hatte sie geliebt. Was für ein enormer Verlust für ihn.

„Arme Susie. Weiß Fitz es schon?“

„Dass sie tot ist, ja, aber keine Einzelheiten. Er war allerdings da, als sie starb, also hat er vermutlich eine gute Vorstellung davon, was ihr angetan wurde. Wenn man bedenkt, was er alles durchgemacht hat, ist er in erstaunlich guter Verfassung. Es ist zum Glück nicht lebensbedrohlich, ein Auge zu verlieren. Höllisch schmerzhaft, ja, aber ihm wird es wieder gut gehen. Ich wette, er wird dir alles genau erzählen.“

„Gibt es in dem Jachthafen Kameras? Hat irgendwer jemanden das Boot verlassen sehen?“

„Sie haben Kameras, aber bisher wurde noch nichts gefunden. Du darfst nicht vergessen, wir stecken noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Ich bin selber gerade erst hier angekommen.“

Taylor schaute dem grazilen Tanz der Schneeflocken zu, die sich immer schneller am Boden sammelten. Laut Wetterbericht sollten es mindestens zehn Zentimeter Schnee werden. Das war für diese Jahreszeit eine ganze Menge.

„Der Pretender ist nicht dumm, Baldwin. Er versucht, mich aus der Reserve zu locken. Fitz zu verletzen, war eine sichere Bank. Er weiß, dass ich ihn ab jetzt jagen werde, und sollte ich es nicht tun, wird er zu mir kommen.“

„Taylor.“

„Nein, ehrlich. Kein Vorspiel mehr. Ich will den Hurensohn bluten sehen.“

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Was der Grund dafür ist, dass du nach deiner Heimkehr sofort rund um die Uhr Personenschutz erhältst. Ich lasse nicht zu, dass er Hand an dich legt.“

„Ich weiß. Das hast du schon mal gesagt. Aber ich brauche keinen Schatten.“

Er blieb abrupt stehen und drehte sie zu sich herum.

„Hör mir gut zu. Ich mache keine Witze. Die Sache läuft langsam auf ihren Höhepunkt zu. Ich weiß, dass du es auch spürst. Wir müssen extrem wachsam sein.“

„Ich bin wachsam. Ich bin immer wachsam. Hör auf, dir solche Sorgen zu machen.“ Sie tätschelte ihre Glock, die in dem Hüftholster hing, und holte dann aus ihrer vorderen Hosentasche ein einzelnes .40er-Winchester-Hohlspitzgeschoss heraus.

„Siehst du? Ich trage die Kugel bei mir, die der Bastard mir geschickt hat. Ich habe sie extra für ihn aufgehoben.“

Um Baldwins Mundwinkel zuckte es, und sie spürte, dass er ein Lächeln unterdrückte.

„Was steht darauf?“, fragte er schließlich.

Sie drehte die Kugel in ihrer Hand hin und her. Mit einem wasserfesten Stift hatte sie eine über Kopf stehende Hamsa darauf gemalt, die Hand der Fatima. Die Augen waren für sie wie eine Art Talisman. Es war kindisch, das wusste sie, aber die Kugel zu bemalen hatte ihr große Befriedigung verschafft.

„Ich habe vor, den Pretender genau wissen zu lassen, was ich von seiner Auge-um-Auge-Mentalität halte.“

Baldwin schüttelte den Kopf und seufzte erneut.

Sie zog ihn am Arm. „Komm, gehen wir. Was ist seit deiner Anhörung passiert? Hast du irgendetwas gehört?“

Er zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er sagte: „Ja. Aber nicht jetzt. Darüber sprechen wir, wenn wir alleine sind.“

Irgendetwas stimmte nicht. Er wich aus. Als sie weitergingen, spürte sie, wie er sich ihr leicht entzog. Bei der Disziplinaranhörung in Quantico war es um einen Fall aus Baldwins Vergangenheit gegangen, so viel wusste sie. Er hatte ihr keine Einzelheiten verraten, und sie war zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt gewesen, um nachzuhaken. Vielleicht war das ein Fehler gewesen.

Sie biss sich auf die Lippe und folgte ihm durch das winzige Terminalgebäude, die gläserne Doppeltür am Ausgang und auf den Parkplatz hinaus. Das State Bureau of Investigation hatte ihnen einen Wagen geschickt. Mit laufendem Motor stand das schwarze Auto da und sah so sehr nach FBI aus, wie etwas nur nach FBI aussehen konnte. Aus dem Auspuff erhoben sich Abgaswolken in die Luft. Trotz des dämmrigen Tages trug der Fahrer eine Sonnenbrille. Auf dem Rücksitz war es drückend warm. Baldwin bat den Agent, die Heizung niedriger zu stellen. Er tat, wie geheißen, und bog dann langsam auf die Hauptstraße ein. Noch hatte es nicht gefroren, das würde später kommen, aber der Schnee machte alles trotzdem zu einer Rutschpartie.

Die Landschaft war gleichzeitig fremd und vertraut. Taylor war seit ihrer Kindheit nicht mehr in den Outer Banks gewesen und noch nie während der kalten Monate. Schnee trieb über den Sand; ein seltsam unpassendes Bild. Feiern Sie den Winter am Strand. Bilder stiegen in ihr auf von prasselnden Lagerfeuern, fröhlich über den Sand tollenden Hunden und Menschen in warmen Wollpullovern, die an den kalten Ufern saßen. Denen des Nordens, wohlgemerkt, nicht des Südens.

Es überraschte sie, wie ansprechend sie es fand. Sie war in Nashville geboren und aufgewachsen, was bedeutete, dass sie Schnee mit aller Inbrunst hasste und ihn gleichzeitig mit den großen Augen eines Kindes bewunderte. Abgesehen von dem starken Sturm über Weihnachten letztes Jahr war Schnee in Nashville eher ungewöhnlich. Eis und Graupel ja, aber diese weichen, tänzelnden Flocken waren ihr gänzlich unvertraut und daher umso faszinierender.

Sie wusste nicht, ob sie die immer um sich haben wollte, aber der Schnee, der leise flüsternd auf den feinen Sand fiel, fühlte sich im Moment richtig an. Wie Vergebung.

Baldwin nahm ihre Hand und drückte sie, als hätte er Taylors Gedanken gelesen. Irgendwie schien er immer durch ihre Haut hindurchsehen zu können, ihre Knochen, direkt in ihr Innerstes. Sicher, er war Psychiater, aber das ging weit über ein klinisches Verständnis ihrer Person hinaus. Er spürte den Schmerz, den sie empfand. Er wusste, dass sich jedes Mal, wenn sie die Waffe benutzte, ein kleines Stückchen ihrer Seele ins Nichts verflüchtigte. Sie hoffte nur, dass wenn er sie weiterhin liebte, er sie davor bewahren würde, dass sich auch ihre Menschlichkeit verflüchtigte.

„Hast du ein wenig geschlafen?“, fragte er.

Sie lächelte. „Der Billardtisch schiebt Überstunden, aber letzte Nacht habe ich auch ein wenig geschlafen.“

„Du weißt, dass ich oder Sam dir etwas gegen die Schlaflosigkeit geben können.“

„Sam hat zu tun.“ Sie wandte den Blick ab. „Sie hat viel um die Ohren; die nächste Schwangerschaft hätte nicht so früh kommen sollen. Es zehrt sowohl an ihr als auch an Simon.“

„Habt ihr beide euch wieder gestritten?“

„Nein. Sie ist … Ich will einfach nicht durch Medikamente Schlaf finden.“

Weil ich dann außer Gefecht gesetzt bin und mich nicht wehren kann, wenn er kommt, um mich zu holen.

Die Stimmung zwischen ihr und Sam Loughley war in letzter Zeit ein wenig angespannt, aber darüber wollte Taylor nicht mit Baldwin reden. Es hatte keinen Sinn, ihn noch mehr aufzuwühlen, als er es bereits war. Lustig war es nicht, sich mit der besten Freundin zu streiten, noch dazu, wenn man täglich beruflich miteinander zu tun hatte, weil sie die leitende Rechtsmedizinerin war. Taylor kannte Sam seit der Vorschule, und sie hatten sich im Laufe der Jahre oft gestritten. Doch sie hatten sich auch immer wieder vertragen, und genauso würde es auch dieses Mal sein.

Auslöser für die Meinungsverschiedenheit war James „Memphis“ Highsmythe gewesen, ehemals von New Scotland Yard, jetzt neuer Verbindungsoffizier des FBI. Er hatte Taylor eindeutige Avancen gemacht. Taylor hatte den Flirt dummerweise erwidert, und Sam hatte sie zur Ordnung gerufen. An der Situation trug eindeutig Taylor die Schuld, das wusste sie. Aber die ganze Sache ermüdete sie. Sie vermied es beharrlich, an Memphis zu denken, und war sich sicher, dass seine Gefühle für sie abflauen würden, wenn sie unerwidert blieben. Die Sache mit Sam zu klären hieße, doch an Memphis zu denken und an den Kuss, und daran hatte sie keinerlei Interesse. Nicht jetzt. Nicht, wo sich gerade alles so unsicher anfühlte.

Baldwin nahm ihre Hand.

„Okay, okay. Wie lief deine Sitzung mit Dr. Willig?“

„Mit Victoria? Gut.“

Er spürte die Lüge, sagte aber nichts. Nach dem Schusswechsel, nach all den Toten, all den unschuldigen Leben, die genommen worden waren, hatte Taylors Vorgesetzte Joan Huston darauf bestanden, dass Taylor sich durchchecken ließ, bevor sie in den aktiven Dienst zurückkehrte. Und zwar gründlicher, als es die Vorschriften normalerweise nach einer Schießerei verlangten. Deshalb hatte sie sich mit Willig treffen müssen, der Psychologin der Metro. Taylor hatte genau zehn Minuten mit der Seelenklempnerin verbracht. Sie war nicht in der Stimmung gewesen, über die Einzelheiten des Falles zu sprechen.

Sie schaute auf das Meer, dessen heranrollende Wellen auf dem Sand brachen, und konnte das Gefühl ein kleines bisschen zu gut nachvollziehen.

Baldwin merkte, dass Taylor nicht weitersprechen wollte. Also ließ er sich in den Ledersitz sinken und zog sich in seine eigene Welt zurück, um sein Blackberry zu checken. Taylor war erleichtert, dass die Befragung durch ihn vorbei war. Sie hatte immer noch nicht zur Gänze gelernt, ihre Gedanken und Gefühle mit ihm zu teilen. Dazu war sie zu lange alleine gewesen, hatte zu lange alles allein mit sich ausgemacht. Die Tatsache, dass sie jetzt außer ihren Freunden aus Kindheitstagen noch einen weiteren Seelenverwandten gefunden hatte, verstörte sie manchmal. Sie hielt sich immer noch zurück, erzählte nicht alles, was in ihr vorging. Dr. Willig würde ihr sagen, dass das nicht gesund sei, aber Taylor war sicher, irgendwann damit klarzukommen. Sie würde Baldwin heiraten, und zwar bald schon, was bedeutete, dass sie sich gestatten würde, endlich auch die letzten Barrieren einzureißen. Zum Glück war er ein geduldiger Mann, der sie gut genug kannte, um sich zurückzuziehen, sobald er spürte, dass sie dichtmachte.

Eine oder zwei Meilen fuhren sie schweigend dahin, dann bog der Wagen auf eine mit Muschelschalen bestreute Einfahrt ein – die Zufahrt zum Revier der Polizei von Nags. Das Gebäude war genauso unkonventionell wie der Rest des Ortes Nags Head – verwitterte graue Schindeln, weiße Fenster- und Türrahmen, ein zweistöckiges Gebäude, das sich jedes Jahr erneut gegen die ankommenden Fluten der Hurrikan-Saison stemmte. Der Wagen blieb stehen, ihr Fahrer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an, bevor er leise um die Ecke des Gebäudes verschwand.

Ein dünner Mann trat aus der Eingangstür und winkte ihnen zu. Er hatte braune Haare und braune Augen und trug passend zum Wetter Kakis und einen abgewetzten, hellbraunen Wollpullover.

Sie stiegen aus dem Wagen und gingen über den kleinen Fußweg zu ihm. Der Mann lächelte Taylor anerkennend an.

„Guter Gott, Sie stoßen sich den Kopf aber auch am Himmel, oder?“, sagte er.

Sie hörte, dass Baldwin ein Lachen unterdrückte. Wenn sie jedes Mal zehn Cent bekäme, wenn jemand eine Bemerkung über ihre Größe machte …

„Ich versuche, der Sonne nicht zu nahe zu kommen. Schön, Sie kennenzulernen“, erwiderte sie.

Sie schüttelten einander die Hand. „Steve Nadis. Ich bin der Chief von Nags Head. Wie geht’s Ihnen?“

„Lieutenant Taylor Jackson, Metro Nashville Mordkommission. Mir geht es gut. Und Ihnen?“

„Gut, gut. Hier wimmeln zwar eine ganze Menge fremder Cops und ein paar Feds herum, aber ansonsten ist alles gut. Kommen Sie rein, ich habe gerade frischen Kaffee gekocht. Hier draußen friert man sich ja alles ab. Der Schnee kommt auch viel zu früh. Ganz seltsames Wetter für diese Gegend. Dr. Baldwin, schön Sie wiederzusehen.“

„Gleichfalls, Chief.“

Sie folgten ihm ins Revier, in dem es aussah wie in jedem anderen Polizeirevier im Land auch. Taylor fühlte sich sofort heimisch. Irgendetwas hatte es mit Polizisten auf sich – Leuten, die nicht in der Strafverfolgung arbeiteten, vertraute sie nie so ganz. Obwohl sie auch ihren Anteil an Idioten in Uniform kennengelernt hatte, fühlte sie sich nur in Gegenwart von Menschen mit dem gleichen Hintergrund wirklich wie sie selber. Menschen, die Ähnliches erlebt hatten, die ihre Gedankengänge verstehen konnten. Deshalb funktionierte ihre Beziehung mit Baldwin auch so gut.

Sie gingen an einem Holztresen vorbei und an der Rezeptionistin in ihrem Glaskubus, dann folgten sie dem Chief durch ein wahres Labyrinth von Gängen, bis sie eine Tür erreichten, an der braun auf weiß „Chief“ stand.

Der tröstliche Geruch von gerösteten Kaffeebohnen zog über den Flur.

Nadis zeigte auf die beiden Stühle, die vor seinem Tisch standen. „Wie trinken Sie Ihren Kaffee, Lieutenant? Ich weiß, dass Dr. B ihn schwarz mag.“

„Oh, ich nehme ihn mit viel Milch und Zucker, bitte.“ Taylor war keine große Freundin von Kaffee. Sie hatte immer das Gefühl, er brenne ihr die Eingeweide weg, wenn sie nicht aufpasste. Aber sie wollte nicht unhöflich sein. Außerdem war ihr kalt, sodass etwas Warmes nicht schlecht wäre.

Nadis verschwand fröhlich pfeifend, und Taylor lächelte Baldwin an. Der Chief von Nags Head erinnerte sie an ein fröhliches Glühwürmchen. Wie passend für einen Strandpolizisten. Taylor war aufgefallen, dass die Beamten in den etwas ungewöhnlicheren Regionen alle eine gewisse Mentalität hatten. Man brauchte schon eine besondere Persönlichkeit, um das ganze Jahr über am Strand zu leben, und einen ganz bestimmten Menschenschlag, um auf die Freigeister, die sich dort versammelten, aufzupassen. Ihr eigener Chief wäre in so einem verschlafenen Nest die reinste Katastrophe.

Nadis kehrte mit zwei Bechern Kaffee zurück, reichte sie Taylor und Baldwin und setzte sich dann ihnen gegenüber an seinen Schreibtisch. Die Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden.

„Wir haben es hier draußen nur selten mit Mord zu tun. Meine Kriminalpolizei hat vier gute Leute, aber ich wusste, dass das SBI bereits mit dem Fall betraut war, also haben wir Sie angerufen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht.“

„Natürlich“, erwiderte Taylor. „Ich hätte an Ihrer Stelle das Gleiche getan. Sagen Sie, haben Sie oder das SBI bereits irgendwelche Spuren?“

„Ich fürchte nicht. Wie ich dem Doc hier schon sagte, haben wir eine Menge Beweismaterial gesammelt, dass die Jungs vom SBI gerade sichten. Ihr Freund hat eine Menge durchgemacht. Er ist ein guter Kerl. Man spürt, dass er ein guter Cop war.“

„Das ist er immer noch. Ich bezweifle, dass diese Sache Fitz längerfristig aus der Bahn werfen wird.“ Ihr Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte, was ihr sofort leidtat, als Nadis entschuldigend nickte.

„Natürlich ist er das immer noch. So habe ich das nicht gemeint. Tut mir leid.“

Sie zuckte mit den Schultern. Es gab wichtigere Themen. „Wie ist er hier nach Nags Head gekommen?“

„Wir haben ihn gestern frühmorgens gefunden. Er wanderte nur in Unterwäsche am Straßenrand entlang. Sein ganzes Gesicht war von Schnitten übersät, und er konnte uns nicht sagen, wie er hierher gekommen war.“

Baldwin unterbrach ihn. „Wir nehmen an, der Pretender hat ihn hier abgesetzt, nachdem er Susie getötet hatte. Als der Hafenmeister das Boot fand, war sie schon mindestens achtundvierzig Stunden tot, vielleicht sogar noch länger.“

Mein Gott.

Nadis schaukelte in seinem Stuhl zurück. „Einige Agents vom Westteam des SBI haben sein Auge Anfang der Woche in einem Trailer in der Nähe von Asheville gefunden. Das liegt nicht gerade in der Nähe; ich schätze, man fährt von dort gute sieben Stunden. Sein Geiselnehmer hätte ausreichend Zeit gehabt, ihn hierher zu bringen. Vermutlich stand er unter Medikamenteneinfluss.“

„Oder er ist die ganze Zeit hier in Nags Head gewesen, auf seinem Boot. Sie haben sein Auge vor vier Tagen gefunden. Ich frage mich, ob der Verdächtige einfach nur das Auge nach Asheville gebracht hat, um uns von der Spur abzubringen“, sagte Taylor.

Nadis schaute sie bewundernd an. „Wo Sie das jetzt sagen, das ergibt mehr Sinn. Als wir Sergeant Fitzgerald fanden, sprach er ziemlich unzusammenhängendes Zeug. Wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht, wo er erst einmal grundlegend versorgt wurde. Er konnte uns nicht viel darüber erzählen, was passiert war. Er hat uns nur seine Kennnummer und seinen Namen gesagt. Er stand natürlich unter Schock. Wir hatten die Suchmeldungen gesehen und gleich das FBI angerufen. Dr. Baldwin ist mit dem Flugzeug sofort hergekommen. Die SBI-Jungs waren gleich am nächsten Morgen da, und die Sache war erledigt. Mehr haben wir im Moment nicht.“

„Warum ist er nicht im Krankenhaus geblieben?“

„Die Frage hatte ich erwartet. Unser Krankenhaus ist ziemlich klein, und gestern Abend gab es mehrere Fälle von Lebensmittelvergiftung. Man brauchte die Betten, und da Fitzgerald stabil war, haben wir ihn hierher gebracht.“

Taylor bemerkte gar nicht, dass sie mit den Fingern gegen ihren Becher trommelte, bis Baldwin seinen Kaffee auf dem Schreibtisch des Chiefs abstellte. „Ich weiß, dass Lieutenant Jackson ihren Sergeant gerne sehen würde. Können Sie das ermöglichen?“

„Ich halte das für eine gute Idee.“ Nadis schaute auf seine Uhr. „Das SBI beschäftigt sich jetzt schon mehrere Stunden mit ihm. Vermutlich kann er eine Pause gut gebrauchen. Aber Lieutenant, ich muss Sie warnen. Er hat in den letzten Tagen viel gesehen, viel mitgemacht. Sie möchten sich vielleicht …“

„Chief, nehmen Sie es nicht persönlich, aber Fitz ist für mich wie ein Vater. Ich werde ihn nicht bedrängen. Aber ich würde ihn gerne sehen. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht …“

„Okay.“ Nadis stand auf und deutete ihnen, ihm zu folgen. Der Flur schien überhaupt kein Ende zu nehmen und führte zu einer einzelnen Stahltür. Nadis klopfte zweimal an, dann gab er einen Code in das Kästchen an der Wand ein und erklärte dabei: „Dies ist unsere Sicherheitszone, in der wir normalerweise die örtlichen Krawallbrüder ihren Rausch ausschlafen lassen. Wir haben hier im Gebäude kein richtiges Gefängnis, nur Arrestzellen. Die Strafvollzugsanstalt ist eine Meile die Straße hinunter.“

Das Schloss der Tür öffnete sich mit einem Klicken, und Nadis ging als Erster durch. Auf der anderen Seite des Raumes stand eine Frau mit verschränkten Armen und starrte durch ein Fenster in ein anderes Zimmer. Sie war ungefähr einen Meter sechzig groß, schlank und sportlich und trug ihr dickes braunes Haar in einem Pferdeschwanz. Ihr schwarzer Anzug war von guter Qualität, und unter ihrem linken Arm sah Taylor die Ausbuchtung eines Schulterholsters.

Sie drehte sich um, sah die Entourage, trat vom Fenster weg und stellte sich vor.

„Sie müssen der Lieutenant des Sergeants sein. Ich bin Renee Sansom, SBI. Dr. Baldwin. Meine Jungs sind gerade bei Ihrem Mann. Wollen Sie ihn sehen?“

Taylor schüttelte Sansoms Hand. „Ja, gerne.“

„Er hat viel durchgemacht“, sagte die Frau nur und klopfte an das Fenster. Taylor wusste, dass es sich um einen Einwegspiegel aus unzerbrechlichem Acrylglas handelte, aber aus irgendeinem Grund vermied sie es, in den anderen Raum zu schauen. Es kam ihr unhöflich vor, ihn anzustarren, während er sie nicht sehen konnte. Und nachdem sie jetzt so viele Warnungen bezüglich Fitz’ Zustand bekommen hatte, fing sie langsam an, sich noch mehr Sorgen um ihn zu machen.

Die Tür wurde geöffnet, und zwei Männer kamen heraus. Beide trugen einen blauen Anzug und rot-weiß gestreifte Krawatten. Sie nickten professionell, und der Zweite hielt ihr die Tür auf.

Taylor atmete tief durch und trat ein.

Fitz war, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, geschrumpft. Er hatte Gewicht verloren und seine Schultern waren zusammengesackt. Er wirkte, als hätte er sich in sich selbst zusammengefaltet, um den Kern aus Schmerz zu beschützen, der ihn antrieb. Taylor wusste, wie erschöpft er sein musste, und das tat ihr genauso weh wie seine offensichtliche Trauer.

Als sie eintrat, drehte er sich um. Die linke Seite seines Gesichts war mit einer dicken weißen Mullbinde verbunden, die Haut ganz gelb gefärbt vom Jod. Aber sein verbliebenes Auge war immer noch rund und dunkelblau und leuchtete bei ihrem Anblick auf.

„Schön, dich zu sehen, kleines Mädchen“, sagte er rau, und sie hörte die Tränen in seiner Stimme.

Und dann hatte sie auch schon die Arme um ihn geschlungen und hielt ihn fest, als hinge ihr Leben davon ab.