29. KAPITEL

Nashville, Tennessee

„Ruth, Ruth, Ruth. Tz, tz, tz. Ich bin sehr enttäuscht von dir.“

Sie wand sich. Das Holz schien ihr in die Knie zu beißen.

„Ewan, es ist nicht meine Schuld. Bitte, glaub mir. Ich habe nichts dem Zufall überlassen. Gar nichts. Auf keinen Fall haben sie meine Spur zurückverfolgen können.“

Er musste zugeben, dass er die pure Panik in Ruths Stimme genoss. Sie erwartete, getötet zu werden. Er klärte sie nicht über ihren Irrtum auf. Sie kannte die Strafe für Versagen.

„Und doch haben sie es getan. Wie konnte das deiner Meinung nach passieren? Hm? Denn an mir hat es definitiv nicht gelegen.“

Er zog ein wenig an ihren Haaren. Sie kniete mit dem Gesicht zu ihm, und er hatte dicke braune Strähnen in seiner Hand. Ruth verzog das Gesicht, gab aber keinen Laut von sich. Starke kleine Ruth. Gewillt, beinahe alles für ihn zu tun. Lügen. Stehlen. Töten. Das kam bei einer Schwester sehr gelegen.

„Antworte mir, Ruth. Was wissen sie über mich?“

Ihre Worte kamen in abgehackten, kurzen Stößen heraus. „Nichts. Ich schwöre dir, sie haben nichts. Sie können meine Wohnung nur durch einen Zufall gefunden haben. Jemand muss mich an einem der Tatorte wiedererkannt haben. Sie hatten Bilder von uns von der Überwachungskamera an der Tür. Bestimmt haben sie die herumgezeigt, und jemand hat mich darauf wiedererkannt. Ich weiß, dass es weder Newt noch Harvey waren. Newt haben wir entsorgt, sobald wir aus North Carolina raus waren.“

„Ihr habt Newt getötet? Dazu habe ich euch keine Erlaubnis erteilt.“

„Es tut mir leid. Es ging nicht anders. Ich hatte Angst …“

„Angst vor was?“

In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Angst, dass du ihm befohlen hast, mich zu töten – oder Harvey. Das Risiko konnte ich nicht eingehen.“

„Vertraust du mir nicht, Ruth? Ich bin dein Bruder.“

Sagte der Mungo zur Kobra.

„Natürlich vertraue ich dir, Ewan. Aber Newt hat sich seltsam benommen und ständig seine E-Mails gecheckt. Ich bin einfach panisch geworden. Vielleicht war er ein Spitzel, verstehst du? Einer von ihnen, ein Informant. Harvey wollte es tun, also habe ich zugestimmt.“

Sieh an, die kleine Ruth zeigte ein wenig Rückgrat. Er musste zugeben, dass er beeindruckt war. Sie war klüger, als er ihr zugestanden hatte.

„Hast du Harvey unter Kontrolle? Noch mehr negative Aufmerksamkeit können wir nicht gebrauchen. Das hier ist mein Plan, mein Spiel. Nicht seins.“

„Natürlich. Ich habe ihm gesagt, er soll erst einmal untertauchen.“

„Ruth, lüg mich nicht an. Ich habe den Fall von dem vermissten Jungen gelesen, der erst letztes Wochenende hier in der Stadt verschwunden ist. Ich weiß, dass du über Halloween mit Harvey hier in der Stadt warst, um dich umzuschauen. Habt ihr euch dabei ein wenig Spaß gegönnt?“

„Nein, nein. Haben wir nicht.“

Er zog fester und spürte, wie sich ein paar Haare an der Wurzel lösten. Endlich wimmerte sie leise.

„Ja, okay. Wir konnten nicht anders. Er war da, wir mussten nur zugreifen. Er war betrunken. Du weißt, wie Harvey mit betrunkenen Jugendlichen ist, die auf der Straße herumlaufen. Es tut mir leid. Sie werden ihn nicht finden. Und sie werden ihn niemals mit dir in Verbindung bringen. Versprochen. Harvey hat ihn aus der Stadt gebracht.“

Mein Gott. Man konnte heutzutage wirklich nicht mehr darauf vertrauen, dass sich irgendjemand an den Plan hielt.

Er beugte sich herunter, sodass sein Gesicht nur Millimeter von ihrem entfernt war, und fletschte die Zähne. Sein Speichel sprühte über ihre Nase und ihren Mund. „Du hattest nicht das Recht, eine solche Entscheidung zu treffen.“

Sie sackte gegen ihn und ließ zu, dass er noch stärker an ihren Haaren zog. „Du hast recht. Ich werde mich um Harvey kümmern. Ich bringe ihn noch heute Abend um. Versprochen:“

Gut. Sie hatte die Nachricht verstanden. Er ließ ihre Haare los, und sie fiel mit einem zufriedenstellenden lauten Rums zu Boden.

Er zog seinen Stuhl heran und setzte sich, sah zu, wie sie ihre Kopfhaut rieb, sich dann vorsichtig aufsetzte und ihre Beine übereinanderschlug, so wie früher, als sie klein gewesen war.

„Ich schwöre es“, sagte sie und schaute ihm direkt in die Augen.

„Was werden sie in deiner Wohnung finden?“

„Nichts. Gar nichts.“ Aber sie wich seinem Blick aus, und er wusste, dass sie ihm irgendetwas verschwieg. Dummes, dummes Mädchen.

„Was haben sie, Ruth? Sag es mir. Sag es mir!“

Sie fing an zu weinen, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper und schaukelte langsam vor und zurück, ein auf den immer gefährlicher werdenden Wellen treibendes Boot.

Er atmete scharf durch die Nase ein. Jetzt die Geduld zu verlieren, wäre nicht hilfreich. Wenn er jetzt das wahre Ausmaß seiner Wut zeigte, würde Ruth sich komplett in sich zurückziehen und stundenlang vor- und zurückschaukeln, wie sie es auch als Kind schon getan hatte. Er war ihr immer von der Schule aus nach Hause gefolgt, hatte sie im Wald abgefangen und mit ihr gespielt. Meistens Schach, denn Mühle und Backgammon waren zu leicht. Sie war gut darin, Geheimnisse zu bewahren, aber wenn es ihr zu viel wurde, schaltete sie ab und zog sich in diese wundersame kleine Welt zurück, die sie sich erschaffen hatte. Dann würde er heute nichts mehr aus ihr herausbekommen. Aber verdammt, er brauchte ihre Hilfe noch ein letztes Mal.

Also senkte er seine Stimme und beugte sich zu Ruth herunter.

„Es tut mir leid, Ruth. Ich hatte einen schweren Tag. Ich wollte dich nicht anschreien.“ Sich versöhnlich zu zeigen, war nicht gerade sein ausgeprägtester Charakterzug, und so schniefte sie auch nur und drehte den Kopf zur Seite. Er beschloss, es mit einer anderen Taktik zu probieren.

„Du kannst es mir sagen. Ich verspreche dir, dass ich nicht sauer werde.“

Sie hielt den Blick weiter gesenkt und sprach mit ganz kleinlauter Stimme. „Versprochen?“

„Versprochen.“

Sie schlang ihre Arme um die Beine, als wenn sie so in sich selber verschwinden könnte. „Mein Laptop steht auf meinem Schreibtisch. Ich habe ihn nicht mitgenommen. Ich dachte, ich käme zwischendurch noch mal nach Hause. Doch dann lief auf einmal alles so durcheinander, ging so schnell … Harvey beschloss, dass er den Jungen hier töten wollte, und wir lagen in unserem Plan zurück und mussten unter Zeitdruck nach Nags Head fahren.“ Sie brach ab, weil sie spürte, dass er kurz vor dem Explodieren stand.

„Dein Laptop. Mit allen E-Mails?“

„Ja.“

Die E-Mails, die direkt zu ihm führten. Nun, es war sowieso beinahe an der Zeit, die Räumlichkeiten aufzugeben, um den letzten Teil des Planes in die Tat umzusetzen. Zeit, seine Ministranten ihre Züge machen zu lassen und zu sehen, ob sie so gut waren, wie er hoffte.

Ruth schaukelte jetzt stärker vor und zurück. Er musste sie da rausholen, bevor die Trance zu tief wurde.

„Ruthie, was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass jemand sterben muss? Und zwar heute noch? Nicht Harvey – den kannst du behalten. Ich weiß, dass du ihn magst. Würde dich das aufheitern?“

Er sah, wie ihre Augen in seine Richtung glitten. Blutrünstiges kleines Biest. Er wusste, dass die Aussicht auf einen Mord ihre Aufmerksamkeit zurückbringen würde.

„Wer?“, fragte sie mit leiser, kindlicher Stimme.

„Colleen Keck. Die Bloggerin. Es ist Zeit für sie, zu gehen.“

Ruth rappelte sich auf Hände und Füße auf und krabbelte mit einem animalischen kleinen Grinsen auf den Lippen zu ihm. Sie schaute ihn um Erlaubnis heischend an und streichelte dann sein Bein.

„Harvey ist ihr bereits auf der Spur. Er beobachtet sie, seitdem wir North Carolina verlassen haben. Sie war der erste Halt nach unserer Rückkehr. Ich habe ihn oben an ihrer Straße postiert, bevor ich hierhergekommen bin. Er hat alles unter Kontrolle.“

„Nein, meine Süße. Ich will, dass du es tust.“

„Warum? Ich meine, nicht dass ich mich nicht darüber freuen würde, das weißt du. Aber ich dachte, du wolltest sie bis zum Ende am Leben lassen? Hast du deine Meinung geändert?“

Er stand auf und ging zum Fenster, ließ Ruth zusammengesackt auf dem Fußboden zurück wie eine weggeworfene Lotusblüte. „Ja. Ich habe meine Meinung geändert. Das ist mein gutes Recht.“

„Aber du hast mir immer gesagt, ich soll mich an den Plan halten …“

„Ruth, kein Aber.“

Er schaute über seine Schulter. „Nach dem Chaos, das du in North Carolina angerichtet hast? Nein, Ruth. Du wirst nicht dafür belohnt, dass du es vermasselt hast.“

Vor und zurück. Vor und zurück. Vor und zurück.

„Schmoll nicht, Ruth. Keck wird dir Spaß machen, versprochen. Sie ist eine Last geworden. Klüger, als gut für sie ist. Sie wird jetzt jede Minute den Opferkreis herausgefunden haben. Diese perversen, dummen Idioten auf ihrer Website haben die Überraschung verdorben. Also muss sie weg, bevor sie irgendjemanden alarmiert. Das ist ein persönlicher Gefallen für mich. Ein sehr großer Gefallen. Du weißt, was passiert, wenn du mir einen Gefallen tust, oder?“

„Ich darf mir im Gegenzug auch etwas wünschen.“

„Genau. Du bist ein gutes Mädchen. Jetzt geh. Kümmere dich für mich um diese lästige Schlampe.“

Ruth stand auf. „Ja, Ewan. Wenn du es sagst.“

„Ich sage es. Jetzt geh. Ich habe noch andere Dinge zu tun. Und Ruth? Du weißt, was zu tun ist, wenn du gefasst wirst?“

Ihre Mundwinkel sackten nach unten, und ihr Gesicht wurde ganz weiß. „Ja, Bruder.“

Er sah ihr hinterher, wie sie aus seiner Wohnung schlich, und seufzte. Vielleicht hätte er dem Impuls, sie in North Carolina sterben zu lassen, doch nachgeben sollen? Nein, was geschehen war, war geschehen. Ihre Fehler würden den Plan nur beschleunigen. Auch wenn die Jackson-Schlampe sehr klug war, konnte sie trotzdem nicht zaubern. Ruth sagte die Wahrheit – sie hatte versucht, seine Geheimnisse zu bewahren. Er hatte so darauf geachtet, seine Spuren zu verwischen. Jedes Jahr neue Namen, neue Städte, neue Gesichter. Ruth war der einzig lebende Mensch, der wusste, wer er wirklich war. Der Rest seiner Familie war tot oder weggesperrt. Vor allem seine Mutter. Sie war total verrückt und erinnerte sich nicht einmal mehr daran, dass sie überhaupt Kinder gehabt hatte. Ein einziges Mal hatte er sie besucht. Das war vor drei Jahren gewesen. Nur um sicherzugehen. Dank Jahren der Geisteskrankheit und der Krebsmedikamente war ihr Gehirn nur noch Brei. Sie sah Teufel auf den Schultern der Wachen sitzen, die sie zum Baden zwingen mussten, weil sie eine unerklärliche Angst vor Wasser entwickelt hatte. Sie war eine regelrechte Medusa geworden, die Haare zu übel riechenden, ungekämmten Dreadlocks verklebt. Sie war in ihrem eigenen Geist gefangen.

Nein, was sie anging, war er auf der sicheren Seite. Er machte sich keine Sorgen, dass jemand die Wahrheit herausfand. Die Schlampe war tot.

Aber die drei finalen Schachfiguren waren auf dem Weg zu ihm. Wer würde es sein? Wer würde das Spiel gewinnen? Wer würde als würdig erachtet werden? Welcher Bauer würde es bis zum anderen Ende des Schachbretts schaffen und so die Chance erhalten, zuzusehen, wie er Jackson auf die Art des siegreichen Mörders tötete? Für diese letzte Runde hatte er seine drei Lieblingsserienkiller der Vergangenheit ausgewählt. Zuzusehen, wie sie nach einer ihrer Methoden starb, wäre ein großes Vergnügen.

Die eine Million Dollar war sicher ein Anreiz. Die drei Figuren waren höchst motiviert. Wenn er einen Tipp abgeben müsste, würde er sagen, der junge Kerl aus Boston wäre der wahrscheinlichste Kandidat. Bei ihrem Gespräch hatte er wesentlich ruhiger und erwachsener geklungen als sie anderen beiden. Konzentrierter. Er war finanziell unabhängig und tat es somit nicht nur des Geldes wegen. Nicht wie Kalifornien – der steckte bis über beide Ohren in Schulden, das Haus war zwangsversteigert worden, er hatte keine Bindungen, kein Fundament. Dazu noch die extralange Fahrt – es war vermutlich nicht ganz fair, ihn so zu benachteiligen, aber er war eindeutig nur geldgierig. Traurigerweise wandelte der Junge aus Long Island auf einem schmalen Grat. Er war total unberechenbar, vielleicht sogar verrückt. Nein, wenn er so darüber nachdachte, war Boston der richtige Anwärter.

Ein neuer Lehrling. Wie aufregend.

Er lächelte vor sich hin, während er Ruth hinterherschaute, wie sie mit ihrem Auto davonfuhr. Er musste an die Worte denken, die sie als Kind immer zu ihm gesagt hatte. Früher hatten sie für ihn keine Bedeutung gehabt, aber je älter er wurde, desto mehr Sinn ergaben sie endlich.

Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen sollte und von dir umkehren. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.

Er war Ruths Gott. So, wie er kurz davor stand, Taylor Jacksons Gott zu werden. Es war an der Zeit, das hier zu einem Ende zu bringen. Er langweilte sich langsam. Er verstand Bostonboys Ungeduld. Manchmal konnten Herausforderungen einen ermüden. Sie mussten irgendwann aufhören, ansonsten waren sie nur niemals enden wollende Aufgaben. Reine Sisyphos-Arbeit.

Er wandte sich vom Fenster ab und nahm sich sein Schlüsselband mit der laminierten Marke, die ihren Untergang bedeutete. Er hängte es sich um den Hals und schaute auf die lächelnde Visage hinab, das Gesicht, das er selber kaum noch wiedererkannte.

Oh ja, Taylor. Es ist beinahe so weit.