55. KAPITEL

Taylor machte vier schnelle Schritte in den Tunnel hinein, dann hockte sie sich hin und zog die Tür über sich zu.

Dunkelheit. Stille. Der Strahl der Taschenlampe biss sich durch die Finsternis und zeigte ihr den Weg. Sie bewegte sich jetzt schnell und ignorierte den Geruch der Fäulnis. Wäre es jetzt Sommer, wäre es noch schlimmer. So war es einfach nur kalt, hart, wie gefrorenes Fleisch.

Sie zählte dreißig Schritte, bevor sie knappe fünfzehn Meter vor sich die Tür zum Haus sah. Sie blieb stehen und drehte sich nach rechts. Der Schlüssel lag auf dem Vorsprung, eine Armlänge von der Tür entfernt, genau wie Joshua gesagt hatte. Sie hielt ihn in ihrer Hand und atmete ein paar Mal tief durch.

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Unter der Tür sickerte ein wenig Licht hindurch. Taylor steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Tür öffnete sich leise; keine alten, quietschenden Scharniere, als wären diese extra für diesen Zweck geölt worden. Eine Falle? Vielleicht, aber das Risiko war sie bereit einzugehen. Ein dunkler Flur erstreckte sich vor ihr. Sie schaltete die Taschenlampe nur einen Moment an und leuchtete die Treppe hinauf, um zu sehen, was vor ihr lag, dann schaltete sie sie wieder aus, schloss die Tür hinter sich und betrat das im Dunkeln liegende Haus.

Sie schloss die Augen und ließ sich von der Dunkelheit um sich herum umfangen. Akklimatisierte sich. Es roch muffig und feucht, das Haus war seit beinahe einem Jahr nicht mehr bewohnt. Alte Luft, die erst kürzlich aufgewirbelt worden war.

Sie öffnete die Augen und sah die Silhouette der Treppe. Die Hintertreppe. Der Dienstbotenaufgang. Eng und steil und dunkel, kein Vergleich mit der breiten, geschwungenen Treppe im Eingangsbereich des Hauses.

Treppen für die weniger Wichtigen. Genau das, was sie jetzt brauchte.

Langsam und leise erklomm sie die Stufen. Sie achtete darauf, nicht zu laut zu atmen. Wischte sich ein Spinnennetz aus dem Gesicht. Lauschte nach jedem Schritt. Joshua sagte, dass Copeland auf dem Dachboden wäre. Vier Etagen hoch. Sie war auf der zweiten, als sie einen Schrei hörte.

Sam.

Taylor zwang sich, nicht loszurennen, doch sie beschleunigte ihre Schritte. Jetzt war sie in der dritten Etage und hörte ihn reden. Sie blieb stehen, um mit zusammengebissenen Zähnen zuzuhören. Sie musste ein Gefühl dafür bekommen, wo in dem Raum er sich aufhielt, damit sie nicht aus Versehen Sam verletzt, wenn sie schoss.

Noch vier weitere Stufen. Sie würde bei dem Plan mit der Notwehr bleiben. Sie zog ihre Glock aus dem Holster. Die Tür vor ihr stand einen Spalt weit auf; Licht fiel durch den Schlitz.

Sam weinte; ein sanftes, kätzchenhaftes Geräusch. Sie hatte Schmerzen. Copeland – zumindest ging Taylor davon aus, dass er es war – redete. Über seine Schwester. Dabei schien er hin und her zu gehen. Taylor roch Blut. Sie war froh, zu hören, dass Sam immer noch lebte und lebendig genug war, um zu weinen. Das bedeutete, sie hatte noch nicht aufgegeben, war immer noch ausreichend bei Bewusstsein, um das, was Copeland ihr antat, grausam zu finden. Taylor hatte zu viele Frauen gesehen, die unter der Gewalt verstummt waren und aus leeren Augen blind vor sich hinstarrten.

Sie schlich zwei weitere Stufen hoch. Jetzt lagen lediglich zwei weitere zwischen ihr und der Tür. Sie hörte ihn jetzt deutlicher. Er redete ohne Punkt und Komma.

„Weißt du, Sam, meine Schwester Ruth war ein gutes Mädchen. Sie hatte die Persönlichkeit eines Kaktus, aber wenn man sich die Mühe machte, sie ein wenig kennenzulernen, war sie ein wirklich süßes, liebevolles, nettes Mädchen. Sie hat sich nicht zur verabredeten Zeit gemeldet, also gehe ich davon aus, dass sie tot ist. Ich dachte, ich hätte noch die Möglichkeit, mich von ihr zu verabschieden, dass vielleicht ihr Geist kommen und mit mir sprechen würde. Glaubst du, der Geist deines Babys wird zu dir sprechen?“

Taylor biss sich auf die Lippe. Noch eine Treppenstufe. Der Schatten glitt immer wieder über den Türrahmen. Hin und her. Hin und her. Sie musste nur genau auf seine Stimme achten, feststellen, wann er der Tür den Rücken zuwandte. In dem Moment würde sie zuschlagen.

Die letzte Stufe, und er sprach immer noch. „Meine Mutter war auch eine kranke Schlampe, weißt du das? Sie hat mich immer mit dem Messer verletzt. Nur um die Blutlache zu sehen. Und dann hat sie mich geschlagen, wenn ich die Laken vollgeblutet habe. Meine Hände waren immer rot und rau von der Bleiche, mit der ich das Blut herauswaschen musste. Sieh nur, wie spät es schon ist. Wo ist Miss Taylor? Ich hatte erwartet, dass sie schon längst mit ihrer Kavallerie eingetroffen wäre. Der nette, süße Dr. Baldwin, der an ihrer Seite reitet. Warst du eifersüchtig, als die beiden sich kennengelernt haben? Ich stelle mir vor, dass es schwer gewesen sein muss, deine sklavisch ergebene beste Freundin aufzugeben.“

„Fick. Dich“, sagte Sam.

Gutes Mädchen, dachte Taylor. Die Schritte entfernten sich von der Tür, die Stimme wurde leiser. Jetzt. Das war ihre Chance.

Sie stieß die Tür mit dem Fuß auf und betrat mit erhobener Waffe den Raum. Das Zimmer war klein, und sie war schnell. Er sah sie nicht kommen und drehte sich mit schockierter Miene zu ihr um. Sie grinste wild – sie hatte ihn überrascht. Und sie hatte ihn. Er kam auf sie zu, und sie schlug mit der Waffe nach ihm, traf ihn an der Schläfe. Danach folgte ein linker Haken, der direkt auf seinen Wangenknochen prallte. Sein Kopf schlug nach hinten, sie hörte ein Knacken. Sie hatte ihm irgendetwas gebrochen. Blut sickerte aus seiner Wange. Seine zarte Wange. Sie erhaschte ihren ersten unbelasteten Blick auf ihn, als er zu Boden ging. Es war tatsächlich Iles. Er sah überhaupt nicht aus wie der Mann, den sie im Control gesehen hatte. Es war schwer zu glauben, dass es sich um den gleichen Mann handelte. Erstaunlich, wie viel er an sich hatte machen lassen. Seine Haut war weich und unnatürlich gebräunt, die Nase gerade und schmal, das Kinn kantig. Sie setzte noch einen Kinnhaken drauf, während er zu Boden fiel.

Er packte ihre Beine, und sie trat heftig zu. Zwei Mal. Direkt in die Brust, sodass ihm die Luft ausging. Sie warf einen Blick auf Sam. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, der cremefarbene Kaschmirpullover, den sie trug, um die Taille blutverschmiert. Ihre Arme waren mit Handschellen hinter der Rückenlehne des Stuhls gefesselt. Taylor sah Ammoniak – offensichtlich hatte er versucht, Sam wach zu halten, während er sie mit dem Messer verletzt hatte. Sie sah das viele Blut an ihr, zwischen ihren Beinen, auf dem Boden unter ihr.

Oh Gott.

Das Baby.

Sie war nicht rechtzeitig genug gekommen, um beide zu retten.

Rasend vor Wut drehte Taylor sich zu Copeland um. Er war gerade dabei, sich wieder aufzurappeln. Sie trat so fest sie konnte auf seinen Oberschenkel und jubelte innerlich, als er aufschrie. Eine Oberschenkelfraktur würde ihn langsamer machen. Er packte sein Bein und jaulte wie ein verwundetes Tier. Sie sah, dass er darum kämpfte, von dem Schmerz nicht ohnmächtig zu werden. Sie trat zurück, atmete tief durch, wurde ganz ruhig. Dann zielte sie mit der Glock auf den Kopf des Mistkerls. Und lächelte, als er sie aus aufgerissenen Augen anstarrte.

„Komm, lass uns spielen.“