53. KAPITEL
Taylor ignorierte ihr klingelndes Handy.
Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass Baldwin erneut versuchte, sie zu erreichen. Sie brauchte nur ein bisschen mehr Zeit. Sie war nicht verrückt, sie war keine totale Idiotin. Wenn sie an dem Haus in Belle Meade angekommen war, an Fortnights Haus, würde sie Baldwin anrufen und ihm sagen, wo sie war. Er würde mit Blaulicht und Sirenen und Verstärkung zu ihr eilen, aber dann wäre es bereits zu spät. Sie hatte die Worte schon im Kopf – ich habe einen Schrei gehört und wusste, dass Sam da drin ist. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zu eliminieren – nein, falsches Wort – als auf den Verdächtigen zu schießen, bevor er Dr. Loughley oder ihrem ungeborenen Kind Schaden zufügen konnte. Sie ging die Worte in ihrem Kopf immer wieder durch, so wie sie es mit ihren Zeugenaussagen vor Gericht tat. Trocken. Ausschließlich Fakten. Nur ein paar Worte auf einmal. Keine Fragen beantworten, die nicht gestellt wurden. So musste man nicht lügen.
Sie würde dafür vor Gericht gestellt, das wusste sie, doch ihre Anwälte würden für sie kämpfen. Baldwin würde ihr bald auf die Schliche kommen. Es brauchte kein Genie, um zu erkennen, dass Copeland die Sache dort zu Ende bringen wollte, wo sie angefangen hatte: im Haus des Schneewittchenmörders. Symmetrie war in seinem Leben schon immer das Wichtigste gewesen.
Sich Sam zu schnappen war für ihn lediglich eine Art Versicherung. Ein perfekt kalkulierter Zug, um Taylor direkt zu ihm zu bringen, damit sie es endlich von Angesicht zu Angesicht austragen konnten.
Gott sei Dank war sie ihre Beschützer losgeworden. An diesem Punkt wäre es viel zu verdächtig gewesen, wenn sie ihnen befohlen hätte, zurückzubleiben. Sie hatte sich zwar auch dafür einen Plan zurechtgelegt, war aber froh, dass sie ihn nicht ausführen musste. Sie hätte die beiden gebeten, einen Kaffee zu besorgen, während sie eine Toilettenpause einlegte, und wenn sie ihr die Rücken zugewandt hätten, wäre sie schnell mit ihrem Truck abgehauen. Dabei hätte sie darauf gesetzt, dass die beiden noch unerfahren genug waren, um einen Anfängerfehler zu machen. Zum Glück war das nicht nötig, und sie konnte sich entspannt auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrieren.
Die Ampel war rot, vor ihr hatte sich eine Schlange gebildet. Zu Taylors Linken lag eine Shell. Sie setzte den Blinker, fuhr quer über die Tankstelle und bog auf die Woodmont ab. Dann fuhr sie nach links und den Hügel hinauf. Das war zwar total illegal, aber bis der Tag zu Ende war, würde sie noch größere Gesetzesübertretungen begehen.
Ihr Handy klingelte erneut. Baldwin ließ einfach nicht locker.
Sie verspürte einen Anflug von Verärgerung, schob ihn aber beiseite.
Nachdem sie sich einen Weg durch das Labyrinth der kleinen Straßen in Belle Meade nach Iroquois gesucht hatte, überquerte sie den Belle Meade Boulevard.
Beinahe geschafft.
Sie musste das Ende im Blick behalten. Doch jedes Mal, wenn das Handy klingelte und Baldwins Nummer aufleuchtete, sah sie das kleine runde Gesicht eines rothaarigen Kindes vor sich.
Verdammt, Taylor, konzentriere dich. Du bringst dich sonst noch um.
Sie atmete bewusst durch die Nase ein und stieß den Atem ganz langsam wieder aus. Dabei stellte sie sich vor, wie Ewan Copeland vor ihr auf dem Boden kniete und bettelte.
Besser.
Fortnights Haus lag an der Leake Avenue. Eine wuchtige, dreistöckige graue Villa mit Efeuranken und dunklen Fenstern. Sie wollte nicht riskieren, gesehen zu werden, also bog sie auf die Westover ab, um von hinten heranzufahren. Den Truck ließ sie vor dem Nachbargrundstück stehen.
Joshua hatte ihr gesagt, wenn sie dort parkte und etwa einhundert Meter in den Wald hineinginge, würde sie zu ihrer Linken einen überwachsenen Pfad finden, der direkt zu dem Tunnel seitlich des Hauses führte. Der dichte Bewuchs wäre heute ihr Freund – sie könnte sich ungesehen hineinschleichen und den Mistkerl überraschen. Obwohl – wie überrascht würde Copeland wohl sein, wo er doch mit ihrem Kommen rechnete? Ihr einziger Vorteil war, dass sie alleine kam. Er erwartete bestimmt, dass sie mit einer ganzen Schar Polizisten anrücken würde und es zu elendig langen Verhandlungen mit ihm käme, in deren Verlauf sie sich im Austausch für Sam anbieten würde. Er glaubte garantiert, dass sie eine große Geschichte daraus machen würde, ihn verhaften und der Gerechtigkeit Genüge getan sehen wollte. Sie war immerhin eine Polizistin, die sich genau an die Vorschriften hielt.
Und das war der Punkt, in dem er sie überhaupt nicht kannte. Denn ihr Plan war das genaue Gegenteil von dem, was er erwartete. Ihre wahre Stärke kannte er nicht. Er wusste nicht, dass Liebe sie allen Gefahren gegenüber blind machte, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken sämtliche Regeln über den Haufen werfen würde, wenn sie die ganze Sache dadurch leise zu einem Ende bringen könnte. Ohne Zeugen. Als würde man einen Reset-Knopf drücken.
Er wusste nicht, dass sie plante, ihn umzubringen, seitdem er das erste Mal einen Fuß in ihre Welt gesetzt hatte, seitdem er begonnen hatte, sie zu verspotten, mit ihr Katz und Maus zu spielen.
Sie musste ihren Herzschlag beruhigen, denn sie wurde schon wieder wütend. Wut bedeutete, dass sie einen Fehler machen würde. Und das konnte sie sich nicht leisten.
Es war an der Zeit.
Sie saß am Fuß der Auffahrt des Nachbarn.
Sie stieg aus dem Wagen und spürte das ungewohnte Gewicht der Ruger unter ihrem linken Arm. Normalerweise trug sie kein Schulterholster. Die Beretta steckte sie in das zweite Holster, das sie hinten an ihren Gürtel geklemmt hatte, weil an ihrer Hüfte schon die Glock hing. Sie zog an ihrem Hemd, damit es lose über die dritte Waffe fiel. Dann zog sie ihre Lederjacke an, die extra weit geschnittene, die sie normalerweise über ihren dicken Pullovern trug. Alles fühlte sich gut an, solide. Am richtigen Platz.
Ewan würde die Straße vorne im Blick haben, und sie hatte vor, sich hinten hineinzuschleichen. Über die Dienstbotentreppe, die sich direkt zum Dachboden hinaufwand, der von der Auffahrt aus nicht zu sehen war. Joshua hatte ihr erzählt, dass Jane Macias, die Reporterin, die Copeland zum Vergnügen des Schneewittchenmörders entführt hatte, dort oben gefangen gehalten worden war. Joshua hatte sie auf dem gleichen Weg, den sie jetzt hineinnehmen würde, aus dem Haus herausgebracht.
Ihr Handy klingelte erneut. Baldwin. Dieses Mal ging sie ran und war selber erstaunt, wie normal ihre Stimme klang.
„Wo zum Teufel bist du?“, schrie er sie an. „Ich versuche seit einer Stunde, dich zu erreichen.“
„Hallo Baldwin.“ Neutral. Nicht wütend werden. Nicht aufregen. „Du weißt, wo ich bin. Ich suche nach Sam.“
„Aber nicht allein, verdammt noch mal. Bleib, wo du bist, und warte auf uns.“
„Nein.“
Sie stieg wieder in den Truck, da sie nicht wollte, dass einer der Nachbarn den Streit mitbekam und misstrauisch wurde.
„Taylor.“ Seine Stimme klang eine Oktave tiefer. Sie hörte Stimmen im Hintergrund und nahm an, dass er jemanden bei sich hatte. Verdammt, vermutlich würde er ein ganzes Sondereinsatzkommando mit sich bringen. Wenn das hier eine normale Situation wäre, würde sie genau das tun.
„Taylor, bitte. Tu das nicht. Sag mir, wo du bist. Lass mich dir helfen.“
„Mir helfen? Sicher. Es gibt ein paar Dinge, die du tun kannst, um mir zu helfen. Wie wäre es damit, mir die Wahrheit zu sagen? Wenn du dazu überhaupt in der Lage bist.“
„Wovon redest du? Hat er dich, Taylor? Sprichst du unter Zwang? Sag einfach Ja, wenn es so ist.“
„Nein, er hat mich nicht. Ich spreche von deinem Sohn. Dem Kind, das du bequemerweise nie erwähnt hast. Ist es das Kind von Charlotte und dir?“
Totenstille.
„Jesus. Wie hast du davon erfahren?“
Sie schaltete den Lautsprecher ein und legte das Handy auf das Armaturenbrett, um sich einen Zopf zu machen. Sie wollte nicht, dass ihr die Haare in die Augen fielen, wenn sie zielte.
„Das ist egal, Baldwin. Du weißt, wo ich bin. Ich muss das hier tun. Ich muss dem ein Ende setzen. Ich kann nicht zulassen, dass noch jemand verletzt wird.“
„Taylor, bitte. Geh nicht alleine rein. Ich will nicht, dass dir etwas passiert oder du etwas tust, das du später bereuen könntest.“
„Wage es ja nicht, so mit mir zu reden. Bereuen – am Arsch. Mein Urteilsvermögen steht hier nicht infrage. Dieser Mann hat meine beste Freundin. Nach allem, was ich weiß, hat er sie bereits getötet. Er gehört mir, und ich habe vor, mich um ihn zu kümmern.“
Sie war jetzt unvorsichtig, aber es fühlte sich zu gut an, um damit aufzuhören. „Du hattest deine Chance, Baldwin. Du hättest mir vertrauen können. Jetzt kann ich dir nicht mehr vertrauen. Der einzige Mensch, dem ich immer vertrauen kann, ist Sam. Ich kann nicht glauben, dass ich mich auf dich verlassen habe. Mein Fehler. Also werde ich das hier auf meine Art erledigen. Ich bin es leid, Anweisungen von dir entgegenzunehmen. Du weißt, wo ich bin. Komm her, aber glaube mir, die Sache wird vorbei sein, bevor du hier bist.“
Taylor ignorierte seinen Protest und legte auf. Das Letzte, was sie hörte, bevor die Leitung unterbrochen wurde, war, dass er den anbrüllte, der mit ihm im Auto war.
Sie stellte ihr Handy auf lautlos und steckte es ein, bevor sie erneut aus dem Wagen stieg. Sie würden für die Fahrt hierher hoffentlich lange genug brauchen, um ihr die Zeit zu geben, die Falle vorzubereiten. Irgendjemand würde durch die Tür stürmen und sehen, wie Copeland sie angreifen wollte, wie sie schoss. Sie brauchte jemanden, der zumindest dachte, gesehen zu haben, dass sie in Notwehr handelte.
Ein riskanter Plan, aber einen besseren hatte sie nicht. Sie musste sich nur lange genug gedulden, um ihn in Gänze auszuspielen.
Sie ging die Auffahrt des Nachbarn hinauf, wobei sie sich eng an der immergrünen Hecke hielt. Joshua hatte ihr erzählt, dass die Leute den Winter über in der Stadt wohnten. Er hatte recht, die Fenster waren dunkel und leer, das Grundstück verlassen.
In der Ferne sangen Vögel. Joshuas Vögel. Ihre Hände waren kalt. Sie hielt sie sich vor den Mund und blies warmen Atem hinein. Die Blätter waren alle schon von den Bäumen gefallen, die jetzt ihre dürren Äste nackt in den Himmel reckten. Sie standen so eng zusammen, dass sie einen Sichtschutz zwischen den Häusern bildeten. Im Sommer, voll belaubt, würden man das Haus nebenan nicht sehen können. Jetzt war die Sicht immer noch eingeschränkt, aber südlich von sich sah sie eine Ecke des grauen Monolithen durchschimmern.
Dort fing der Pfad an.
Sie schlich ihn entlang und versuchte, keine Geräusche zu verursachen. Es fehlte ihr noch, dass ein neugieriger Nachbar sie sah und die Situation falsch interpretierte.
Alleine ins Haus zu gehen widersprach allem, was sie je gelernt hatte. Aber es war der beste Weg – der einzige Weg.
Joshua hatte ihr gesagt, sie solle auf einen verrotteten Baumstumpf achten. Er war nicht echt, sondern verbarg das Kontrollpanel für die Sprinkleranlage.
Da.
Sie klappte den Stumpf hoch und sah darunter eine Falltür, die aussah wie der Eingang zu einem winzigen Sturmkeller. Dank Joshua wusste sie, wo sie den Schlüssel dazu suchen musste – in einer Vertiefung im Inneren des Baumstumpfs. Sie fand ihn, schloss auf und öffnete die Tür. Feuchte, abgestandene Luft wehte ihr entgehen; der Geruch von Erde vermischt mit zu viel Zeit. Sie hielt ihre Taschenlampe in das Loch und sah die schmale Treppe.
Nach einem letzten Blick über ihre Schulter in den eisblauen Himmel machte sie den ersten Schritt.
Die Vögel hörten auf zu singen.