15. KAPITEL

Taylor saß in ihrem Büro und starrte aus dem Fenster. Die Nacht brach schnell herein. Die Ampel wechselte immer wieder langsam ihre Farben. Grün. Gelb. Rot. Grün. Gelb. Rot. Ihr fiel auf, dass die Farben sich ein kleines bisschen veränderten, je dunkler es wurde. Das Grün leuchtete in der Farbe von frisch gemähtem Gras, das Gelb wurde beinahe bernsteinfarben und das Rot ein lebendiges Purpur. Blutrot.

Die Ampel zu beobachten war besser, als sich mit den riesigen Stapeln an Papieren zu beschäftigen. Post-it-Zettel, Terminplanänderungen und neue Erkenntnisse zu verschiedenen Fällen verteilten sich wie eine Flutwelle auf ihrem Schreibtisch. Ihr Posteingang quoll über, die Holzplatte des Tisches verschwand unter lauter Müll. Selbst auf den Besucherstühlen stapelten sich Akten. Taylor war nur wenige Tage weg gewesen, doch es fühlte sich wie Wochen an und sah wie Monate aus. Sie sollte jetzt nicht hier sein, doch sie brauchte einen ruhigen Ort, um nachzudenken.

Baldwin hatte sie am Criminal Justice Center, kurz CJC, abgesetzt und sie streng ermahnt, worauf sie in der nächsten Stunde achten sollte, um während der Arbeit ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Dann war er gefahren, um sich um seine dringende Angelegenheit zu kümmern. Vermutlich organisierte er die Wachen, die auf sie aufpassen sollten. Diese gesteigerte Aufmerksamkeit bereitete ihr Sorgen. Nicht wegen der Drohung – der Pretender würde sich ihr nähern, daran bestand zu diesem Zeitpunkt kein Zweifel. Nein, ihre Sorgen hatten einen ganz anderen Grund.

Sie hatte noch nie zuvor einen Mord geplant.

Sie würde sich nichts vormachen. Was sie sich vorstellte, war ein kaltblütiger Mord, wie er im Buche stand. Geplant. Vorsätzlich. Und fest entschlossen, einem anderen Menschen schweren körperlichen Schaden zuzufügen.

Falls man sie fasste, würde die stellvertretende Staatsanwältin Page sie raushauen. Sobald der Fall in ihren Händen läge, würde es nicht einmal mehr wie Totschlag aussehen. Es würde als Notwehr tituliert werden. Immerhin war Taylor Polizistin, und die waren nun einmal manchmal gezwungen, im Dienst zu töten. Zudem gab es nur wenige Menschen in ihrem Umkreis, die nicht bereits von dem Pretender und seinen Drohungen wussten. Solange sie es schaffte, die Kontrolle über die Situation zu behalten, solange ihr Wort gegen seines stand – na gut, seines galt dann nicht mehr, denn er wäre ja tot. Keine Zeugen für den Augenblick der Tat. Timing war bei ihrem Plan alles. Sie musste schlicht sicherstellen, dass niemand sah, wie sie den Schweinehund tötete, und gleichzeitig dafür sorgen, dass im Nachhinein niemand Zweifel daran hegte, dass sie aus reiner Notwehr gehandelt hatte. Das war das Wichtigste. Auf diese Weise würde es nicht wie eine Hinrichtung aussehen.

Trotzdem wäre es Mord.

Ein Menschenleben zu nehmen bedeutete, jeden Tag mit den Konsequenzen zu leben. Das wusste sie aus Erfahrung. Normalerweise kamen sie um drei Uhr nachts, wenn der Schlaf ihr versagt blieb: Die Geister der Männer, die sie getötet hatte, saßen auf ihrer Bettkante und starrten sie aus leeren, missbilligenden Augen an; ihr Fleisch verrottete am Leib, ihre Knochen schimmerten im Mondlicht. Ihre Albträume waren ihre Strafe.

Welche Strafe erwartete sie wohl, wenn sie das hier durchzog?

Erschrocken bemerkte sie, dass es ihr egal war. Sie wollte einfach nur, dass es ein Ende fand.

Was würde Baldwin davon halten?

Sie wand sich in ihrem Stuhl und spielte mit ihrem Pferdeschwanz.

Baldwin hatte auch schon getötet. Er wusste, was das mit der Seele anrichtete. Keine Vergebung, keine Rechtfertigung konnte den dunklen Fleck je wieder auslöschen. Würde er ihr Vorwürfe machen, die Sache in ihre Hände genommen zu haben? Würde er ihr applaudieren? Sie hatte den Verdacht, dass er genau die gleiche Idee hatte wie sie, doch sie würde ihn niemals danach fragen. Das war etwas, dass sie nie, nie, nie laut aussprechen könnte. Nicht gegenüber Baldwin.

Wie schön wäre es, wenn sie eine unregistrierte Waffe benutzen könnte. Sie hatte ein paar, die für den Zweck geeignet wären. Sie wollte ihre Dienstwaffe nicht mit dem Blut der Rache besudeln. Falls sie das wirklich durchziehen würde, hätte sie immer noch einen Job, Verantwortung, ein Leben in der Metro Police. Sie würde die Waffe täglich berühren und wissen, dass sie ihr gehorcht hatte, dass sie absichtlich einen Mann aufgespürt und sein Leben genommen hatte. Das würde Taylor niemals vergessen können. Vielleicht wäre das die angemessene Strafe.

Aus der Distanz oder aus der Nähe? Sie zwang sich, ehrlich zu sein. Aus der Nähe. Definitiv. Sie wollte dem Pretender in die Augen schauen, wenn er starb. Nur so konnte sie sich wirklich sicher sein.

Sie ignorierte das Adrenalin, das durch ihren Körper rauschte. Allein der Gedanke an eine direkte Konfrontation mit ihm erfüllte sie mit einer Mischung aus Lust und Grauen. Sie erkannte sich selber nicht mehr. Er hatte sie an diesen Punkt gebracht, hatte in ihr dieses Verlangen geweckt, einen anderen Menschen zu töten. Jedem Versprechen, das sie sich und der Truppe je gegeben hatte, den Rücken zu kehren. Sie hatte einen Eid abgelegt, Menschen zu beschützen und nicht, selber dem Ruf der Dunkelheit zu erliegen.

Aber diejenigen zu verletzen, die ihr nahestanden … das überschritt jede Grenze. Der Pretender hatte sich für diesen Weg entschieden, und Taylor war die Einzige, die ihn aufhalten konnte, bevor noch mehr Menschen verletzt wurden. Fitz, Sam, Lincoln, Marcus, selbst McKenzie, sie waren alle mehr als Kollegen, mehr als Freunde. Sie waren ihre Familie, genau wie Baldwin. Vielleicht sogar noch mehr.

Sie musste den Hurensohn nur finden. Ihn finden und ein paar kostbare Minuten mit ihm alleine haben. Dann fände der Albtraum endlich ein Ende.

Damit der Plan gelingen konnte, musste Taylor ein paar Vorkehrungen treffen. Staatlich bestellte Bodyguards, die ihr auf Schritt und Tritt folgten, gehörten nicht dazu. Sie brauchte Insider. Freunde. Menschen, die, wenn es darauf ankam, in die andere Richtung schauten.

Sie nahm den Telefonhörer in die Hand und rief ihren alten Chef Mitchell Price zu Hause an.

Er nahm beim dritten Klingeln ab.

„Hallooo, Miss Jackson! Wie geht es dir an diesem schönen Abend?“

„Ganz gut. Mitchell hast du gehört, dass wir Fitz gefunden haben?“

„Ja. Ich habe ihn vorhin sogar schon besucht. Wenn man bedenkt, was er alles durchgemacht hat, ist er in erstaunlich guter Verfassung. Ich muss zugeben, dass ich diese Nachricht ein wenig gefeiert habe.“

Bei dem Geständnis musste Taylor lächeln. Mitchell klang auch ein wenig beschwipst.

„Das merke ich.“

„Oh, so schlimm?“

„Nein, keine Angst. Ich kenne dich nur gut genug, um den leichten irischen Akzent in deinen Worten herauszuhören.“

„Ah. Gut. Was kann ich für dich tun? Hast du dich endlich entschieden, die Truppe zu verlassen und dich meiner fröhlichen Ganovenbande anzuschließen?“

„Nicht ganz. Ich hatte gehofft, mit dir etwas Geschäftliches besprechen zu können.“

Sie hörte, dass die Musik im Hintergrund leiser gestellt wurde. Er hustete kurz. Seine Stimme war ernst.

„Geht es um eine Ermittlung oder um Schutz?“

„Um ehrlich zu sein, um Schutz. Baldwin ist kurz vorm Durchdrehen und plant, mich hinter einer Mauer aus FBI-Agents zu verstecken. Ich will nicht … behindert werden. Ich muss mich um verschiedene Dinge kümmern, und diese Polonaise aus Anzugträgern ist mir dabei nur im Weg.“

„Du hast doch nicht etwa vor, auf die Jagd zu gehen?“

Price hatte sie schon immer viel zu gut gekannt. Sie drückte sich um eine ehrliche Antwort.

„Wir sind uns ziemlich sicher, dass die nächste Aktion des Pretenders gegen mich persönlich gerichtet sein wird. Ich will einfach nur etwas zusätzliche Verstärkung. Nach Dienstschluss. Draußen. An meinem Haus. So etwas. Hast du ein paar Jungs, die du mir für eine Woche oder so zur Verfügung stellen kannst?“

„Nur für eine Woche?“

„Wenn es länger dauert, mache ich irgendetwas falsch“, sagte sie leise.

Price schwieg einen Moment. Sie hielt den Atem an. Sicher würde er nicht Nein sagen. Und sie hatte recht.

„Okay Taylor. Ich habe ein paar Jungs, die vielleicht für dich arbeiten könnten. Sie sind sehr diskret. Ruhig. Und verdammt gut in dem, was sie tun. Ich halte sie normalerweise für die eher privaten Aufgaben zurück.“

Privat. Genau das, was sie suchte.

„Das klingt perfekt. Wann können sie anfangen?“

„Gleich heute Abend, wenn du willst. Gib mir ein paar Stunden, um alles zu organisieren.“

„Bereite sie bitte nur auf eines vor: Der Pretender gehört mir. Wenn er sich nähert, müssen sie sich von ihm fernhalten. Sie sollen mich nur informieren und sich dann zurückziehen. Okay?“

„Taylor …“ In seiner Stimme lag ein warnender Unterton.

„Ich will einfach nur diejenige sein, die ihn festnimmt, das ist alles.“

Price schnaubte, sagte aber nichts.

Sie beendete das Gespräch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Der erste Schritt war getan.

Jetzt konnte sie sich Gedanken über den zweiten Teil ihres Planes machen.

Sie spürte die Dunkelheit in ihrem Inneren, wie eine Schlange wand sie sich in ihrem warmen Nest. Je älter Taylor wurde, desto matter wurde ihr Geist. Jeder Tod bedeutete weiteres Blut an ihren Händen, weitere abgesplitterte Teile ihrer Seele. Warum sollte das hier anders sein? Er war eine Bedrohung, und Bedrohungen mussten neutralisiert werden. So einfach war das. Taylor wusste, sie könnte es tun. Wusste, sie wäre dazu in der Lage.

Vor Jahren schon war sie aus der Kirche ausgetreten, aber jetzt betete sie zu einem unbekannten, nie gesehenen Gott. Die Worte glitten lautlos über ihre Lippen.

Mach, dass ich es bin. Dass ich diejenige bin, die der Sache ein Ende bereitet.