56. KAPITEL

Baldwin fuhr, während Marcus telefonierte und Verstärkung anforderte. Sie gingen kein Risiko ein, aber Baldwin wusste, dass sie zu spät kommen würden. Taylor würde alles tun, um Sam zu retten, inklusive mit fliegenden Fahnen ins Haus zu stürmen und dabei riskieren, selber getötet zu werden.

Glaubte sie wirklich, sie käme damit durch, Copeland zu töten? War sie deshalb die letzten Tage über so still gewesen? Er hätte es kommen sehen sollen, hätte erkennen müssen, dass sie es auf sich nehmen würde, das Leben des Pretenders zu beenden.

Wenn er weniger mit sich und seinen eigenen dummen Problemen beschäftigt gewesen wäre, hätte er ihren Rückzug bemerkt. Normalerweise konnte er in ihr lesen wie in einem offenen Buch, doch dieses Mal hatte er es nicht einmal versucht. Das war sein Fehler gewesen. Alles, was jetzt passierte, war ganz allein seine Schuld.

Sein Telefon klingelte. Charlaine Shultz’ Name erschien auf dem Display.

„Charlaine, was ist los?“

„Ich habe dir gerade das aktuellste Foto von Ewan Copeland geschickt. Der Schönheitschirurg sagt, er hat in den letzten zehn Jahren mindestens fünf Operationen an ihm vollzogen.“

„Wir wissen, wer er sein soll; lass mich das nur kurz anhand des Fotos bestätigen. Eine Sekunde.“

Er schaute sich den Anhang an und erkannte das Gesicht – Barclay Iles.

„Das ist er. Gut gemacht, Charlaine. Wir wissen jetzt auch, wo er sich aufhält. Ich sage dir Bescheid, wie die Dinge gelaufen sind.“

„Pass auf dich auf, Chef.“

„Mach ich. Danke.“

Sie rasten in Richtung West End. Der morgendliche Berufsverkehr wurde immer wieder von ungünstig geschalteten Ampeln und Joggern aufgehalten, die meisten von ihnen Studenten der Vanderbilt, die vor der ersten Vorlesung noch eine Runde drehten. Sie waren aber zum Glück in der Gegenrichtung unterwegs, aus der Stadt heraus, und kamen gut voran. Nachdem sie den Centennial Park passiert hatten, lag die Straße nahezu verlassen vor ihnen. An der Kreuzung West End und Murphy Road überfuhr Baldwin bei Rot die Ampel. Er schaute auf die Uhr am Armaturenbrett. Zwei Minuten waren vergangen, seitdem er mit Taylor gesprochen hatte.

Er erzählte Marcus, was Charlaine berichtet hatte. „Wenigstens haben wir jetzt eine offizielle Bestätigung.“

Marcus schüttelte den Kopf. Seine Miene war angespannt. „Ich kann nicht glauben, dass wir die ganze Zeit mit dem Kerl zusammengearbeitet haben. Was für ein hinterhältiger Scheißkerl.“

„Da sagst du was.“ Baldwin trat aufs Gas.

Selbst wenn sie alle Ampeln ignorieren würden, bräuchten sie noch mindestens fünf Minuten bis nach Belle Meade.

Er ertappte sich dabei, ein Stoßgebet gen Himmel zu schicken. Bitte Gott, nimm sie mir nicht weg. Lass mich noch rechtzeitig ankommen.