22. KAPITEL

Die Außenbezirke von Forest City hatten sich der Homogenisierung Amerikas ergeben. Der Highway, der um die Stadt herumführte, war gesäumt von Fast-Food-Ketten und Mega-Baumärkten, die aus Beton erbauten Einkaufsmeilen waren von den Allerweltsläden übernommen worden, die sich auch in allen anderen mittelgroßen Städten an jedem anderen Highway fanden. Das Nonplusultra der unpersönlichen Bequemlichkeit.

Im Stadtzentrum sah es jedoch ganz anders aus. Besser, wie Taylor fand. Es gab eine traditionelle Hauptstraße mit Tante-Emma-Läden, einem alten Kino, dem Drugstore, den Buddy Morgan erwähnt hatte und der, wie es aussah, eine große Mittagskarte hatte, und vielen kleinen, individuellen Läden, darunter ein vielversprechend aussehender Buchladen, der Fireside Bücher und Geschenke hieß und direkt neben dem Drugstore lag.

Baldwin fuhr ganz langsam, und Taylor betrachtete mit einem leichten Lächeln auf den Lippen den baumbestandenen Mittelstreifen.

„Wieso lächelst du?“, fragte Baldwin.

„Ich warte darauf, George Bailey die Straße entlanglaufen zu sehen.“

Baldwin war kurz irritiert, dann lachte er. „Mein Gott, Taylor, du hast recht. Es sieht hier genauso aus wie in ‚Ist das Leben nicht schön?‘.“

„Ja, oder?“

„Schade, dass das Filmset nur Kulisse war. Der idyllische Marktplatz … Ich habe immer gedacht, es müsse nett sein, in einer Kleinstadt zu leben. Jeden Morgen im Diner essen, überall zu Fuß hingehen, Leuten zuwinken, die man schon sein Leben lang kennt.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Oh, nein, nicht mit mir. Mit so viel Nähe komme ich nicht klar. Nashville ist klein genug für meinen Geschmack, und da weiß auch jeder, was ich mache.“

Sie stiegen aus dem Auto und schauten sich auf der Straße um. „Das ist wirklich unglaublich bezaubernd. Ich kann mir Ewan Copeland hier gar nicht vorstellen. Die Stadt ist einfach zu normal. Zu entzückend.“

Baldwin sah einen Mann in Uniform im Fenster des Drugstores stehen und ihnen zuwinken.

„Guck, der Chief wartet schon. Er winkt uns vom Fenster aus zu. Erlösen wir ihn.“

Sie gingen an den parallel parkenden Autos auf dem Mittelstreifen vorbei und betraten den Drugstore. Rotes Vinyl, glänzendes Chrom und der überwältigend köstliche Geruch von gebratenen Burgern empfing sie.

„Sie müssen die Leute aus Nashville sein“, sagte der Chief und schüttelte ihnen die Hände, bevor er sie zu einer Sitzecke am Fenster führte. Er war fit, ungefähr eins fünfundsiebzig groß, mit grauem Haar. Sein Gesicht war wettergegerbt; er schien viel Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Taylor schätzte ihn auf Mitte fünfzig.

„Was hat uns verraten?“, fragte sie lächelnd.

„Ich kenne alle hier in der Gegend, die eine Waffe haben. Außerdem waren Sie nach dem Aufruhr in Nags Head in allen Nachrichten. Die Gesetzeshüter von North Carolina haben ein paar schlimme Tage hinter sich. Hoffentlich liegt das Schlimmste jetzt hinter uns. Oder haben Sie das Chaos etwa mitgebracht?“

„Ich hoffe nicht.“

„Gut. Ich bin nämlich nicht in der Stimmung, böse Jungs zu jagen.“ Er lächelte so breit, dass sie das Fehlen eines Backenzahns auf der rechten Seite bemerkte. Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. Taylor mochte ihn auf Anhieb.

Sie setzten sich in die Nische, und eine junge Frau kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. In ihrer sehr schmal gezupften linken Augenbraue trug sie ein Piercing, ihr Haar war rot gefärbt – Henna oder billige Supermarkttönung. Es passte zu ihrer milchweißen Haut und den braunen Augen.

„Wenn Sie frühstücken wollen, kann ich die Biscuits hier empfehlen. Ansonsten sind die Burger spitze“, sagte Chief Morgan.

Taylors Magen knurrte vor Vorfreude. Auf dem Weg hierher hatten sie nichts gegessen. „Ich nehme einen Burger. Well done mit Käse, bitte. Und Pommes frites. Und eine Cola light.“

„Geht auch Pepsi?“, fragte das Mädchen.

„Igitt. Na gut, wenn es sein muss.“

„Was anderes haben wir hier leider nicht. Wie steht’s mit Ihnen, Sir?“

„Ich nehme das Gleiche“, sagte Baldwin. Er klappte die kleine Speisekarte zusammen und steckte sie in den Serviettenhalter.

„Mach drei draus, Amy. Und pack bei mir noch eine dicke Scheibe Pfefferbacon drauf.“

Das Mädchen nickte und eilte davon. Morgan schaute ihr hinterher. „Dieser Drugstore gehört Amys Familie seit Anfang des letzten Jahrhunderts. Wenn Sie an der Wand da hinten zu den Waschräumen entlanggehen, sehen Sie ein Gemälde von der Main Street, wie sie einmal ausgesehen hat. Die ganzen alten Ladenfronten. Es hat sich seitdem einiges verändert, aber ein paar der Häuser sind noch original. Zum Glück hat sich endlich das Amt für Denkmalschutz eingeschaltet und ein paar Gebäude unter Denkmalschutz gestellt, damit wir vom Landkreis und vom Staat Gelder zum Erhalt bekommen. Der Buchladen nebenan ist ein perfektes Beispiel dafür. Bei der Renovierung wurde ausgezeichnete Arbeit geleistet. Es ist auch das höchste Gebäude der Stadt. Das haben Sie nicht gewusst, was?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber deshalb sind Sie nicht hier. Sie möchten über die Copelands reden.“

Taylor hörte den Unterton in seiner Stimme, die Mischung aus Abscheu und Traurigkeit. Sie wappnete sich. Die Geschichte, die sie jetzt zu hören bekäme, wäre nicht antiseptisch auf ein Stück Papier gedruckt und frei interpretierbar. Sie würden den Kern der Geschichte zu hören bekommen, die Antworten auf das Grauen, das sie seit Monaten verfolgte. Sie schluckte unwillkürlich; ihr Mund war mit einem Mal ganz trocken. Amy kam mit ihren Getränken. Taylor steckte einen Strohhalm in den Styroporbecher und trank einen großen Schluck. Für den schnellen Koffeinkick gelang es ihr sogar, den von ihr so verhassten Geschmack zu ignorieren.

Morgan strich sich mit dem Finger über die Nase, sammelte sich und fing dann an, zu erzählen.

„Seitdem sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte Elizabeth Biggs Copeland Probleme gehabt. Sie war die Art Mädchen, die man heikel nannte, was nichts anderes hieß, als dass sie total verrückt und böswillig war. Es gab nicht eine Seele in dieser Stadt, die keine Angst vor ihr hatte, vor allem wir, die wir mit ihr in einer Klasse waren. Betty Biggs – man kann sich vorstellen, welche Spitznamen man ihr gegeben hat. Sie wurde ziemlich oft geärgert.

Sie war nicht offenkundig böse, nur … um sie herum passierten Dinge. Katzen verschwanden und tauchten Tage später tot und misshandelt in den Gärten ihrer Besitzer auf. Man verdächtigte Betty, einige Feuer gelegt zu haben. Sie fingen klein an, in Papierkörben und Ähnlichem, aber als sie älter wurde …“ Er schüttelte den Kopf. „Die Häuser von zweien ihrer Freunde brannten mitten in der Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Beim ersten Mal war sie ungefähr acht, und niemand war zu Hause. Beim zweiten Mal war Betty zwölf. Ein kleines Mädchen namens Tabitha starb zusammen mit seinem Hund. Betty hatte sich an dem Tag in der Schule mit Tabitha gestritten. Ich weiß allerdings nicht mehr, worüber. Vermutlich über irgendeinen Jungen. Betty hatte in ihren jungen Jahren einige Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht.“

Baldwin beugte sich vor. „Sie sagen, man verdächtigte sie. Wurde sie wegen der Feuer niemals angeklagt?“

„Da gab es nichts zum Anklagen. Es gab keine Beweise, dass sie irgendetwas damit zu tun hatte. Mein Dad war vor mir Chief und sein Dad davor. Sie waren gute Cops, aber sie hatten nicht die Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen. Sie mussten sich auf die damals üblichen Methoden verlassen. Ihre Ermittlungen beruhten auf Befragungen von Augenzeugen, in diesem Fall von nicht sonderlich zuverlässigen Augenzeugen, denn es handelte sich um Kinder, die fürchterliche Angst hatten, in Schwierigkeiten zu geraten oder, schlimmer noch, von Betty bei lebendigem Leib gehäutet zu werden, wenn sie sie verrieten. Hier unten gibt es die Art von Gewalt nicht, die Sie in den großen Städten haben. Bei uns hat alles immer nur mit Drogen zu tun – die Kids hier in der Gegend haben nichts Besseres zu tun, als high zu werden, und das machen sie richtig gut. Aber damals gab es wesentlich weniger und geringfügigere Verbrechen. Ein Kind des Mordes an seiner Freundin anzuklagen – also das war einfach unvorstellbar.“

„Es wurde also unter den Teppich gekehrt?“, fragte Taylor.

„Nicht ganz. Nach dem Vorfall gingen die meisten Leute Betty aus dem Weg. Tabithas Familie zog fort, über die Geschichte wurde nur hinter vorgehaltener Hand geredet. Es hat Betty aber einen gehörigen Schrecken eingejagt; sie wurde ruhiger, und die seltsamen Vorkommnisse nahmen ab. Sie schaffte es, ohne größere Zwischenfälle die Highschool zu beenden. Im letzten Schuljahr fing sie an, mit Roger Copeland auszugehen. Er war ein paar Jahre älter als wir und in unser aller Augen ein Gott. Ein talentierter Spieler der Minor League mit Aussicht, aufzusteigen. Er war ein verdammt guter Baseballspieler und wurde entsprechend behandelt. Niemand wusste, was er in Betty sah, außer dass sie promiskuitiv war. Ich meine, sie sah ganz gut aus, aber sie war so leer. So distanziert. Irgendetwas in ihren Augen hat mir immer Gänsehaut verursacht.

Wie auch immer, direkt nach dem Schulabschluss wurde Betty schwanger. Sie heirateten, bekamen Edward, dann Ewan und Errol. Oberflächlich wirkte alles in Ordnung. Bettys Eltern waren zu diesem Zeitpunkt beide schon verstorben, und das Restaurant brachte ihr ein gutes Auskommen ein. Betty kam mir der Mutterrolle gut zurecht, obwohl alle drei Jungs etwas kränklich waren. Sie litten an komischen Sachen, nicht die üblichen Kinderkrankheiten wie Windpocken. Nein, die Jungen mussten immer gleich ins Krankenhaus, um sich einer vorbeugenden OP oder teuren Tests auf Krankheiten, von denen niemand je etwas gehört hatte, zu unterziehen. Um ehrlich zu sein, so etwas hatten wir hier noch nie gesehen. Aber soweit wir wussten, machte sie nichts Falsches. Zumindest nicht offensichtlich.“

Chief Morgan wurde still. Wie auf Kommando kam in diesem Moment das dampfend heiße Essen. Morgan hatte recht, die Burger waren ausgezeichnet. Heiß und saftig, perfekt gewürzt, und die dünnen Pommes frites waren schön kross, so wie Taylor sie am liebsten mochte.

Baldwin wischte sich den Mund mit der Serviette ab. „Gute Empfehlung, Chief.“

„Ich bin froh, dass es Ihnen schmeckt.“ Er legte seinen Burger auf dem Einwickelpapier ab. „Wo war ich? Ach ja. Also Bettys Kinder waren immer ein wenig kränklich. Rogers Karriere verlief auch nicht so, wie er es wollte. Man sagte ihm wieder und wieder, dass seine Zeit kommen würde, aber Sie wissen, wie es ist. Versprechen sind schnell gemacht und genauso schnell wieder gebrochen. Er fing heimlich an zu trinken und ließ sich auf eine Affäre mit einer Barfrau ein. Stephanie Sugarman. Sie wurde natürlich schwanger. Betty fand es heraus. Sie ist total durchgedreht, hat das Mädchen bedroht, hat Roger bedroht. Hat die ganze schmutzige Wäsche in die Öffentlichkeit gezerrt. Als die Saison wieder anfing, hat Roger sich vom Acker gemacht und das Mädchen und Betty und seine Jungs hier zurückgelassen. Einen Monat später wurde er zum dritten Baseman für die Braves berufen. Das war seine große Chance. Die ganze Stadt war stolz auf ihn.“

Er biss von seinem Burger ab und tupfte sich sorgfältig die Mundwinkel ab, bevor er weitersprach.

„Tja, Betty hatte allerdings nicht vor, sich von etwas so Unwichtigem wie Rogers Karriere die Tour vermasseln zu lassen. Sie hat dem armen Kerl das Leben zur Hölle gemacht. Briefe, Telefonanrufe. Sie ist zu seinen Spielen nach Atlanta raufgefahren und hat ihm eine Szene hingelegt, sobald sie in seiner Nähe war. Schließlich musste er eine einstweilige Verfügung gegen sie erwirken und ließ seinen Anwalt die Scheidungspapiere aufsetzen. Gerüchte besagten, er wollte die kleine Sugarman heiraten. Aber dazu kam es ja nicht mehr.

Betty gab nicht so leicht auf. Die einstweilige Verfügung, die Zeit, die sie im Gefängnis verbracht hatte, nachdem sie dagegen verstoßen hatte – all das hielt sie nicht auf. Sie verfiel auf ihre alten Tricks. Hat das Haus der Sugarmans niedergebrannt. Steph war zu dem Zeitpunkt bei der Arbeit, drüben im Point and Shoot. Es war reiner Zufall, dass sie nicht getötet wurde, denn eigentlich hätte sie zu Hause sein sollen. Doch die andere Barfrau war krank geworden, und Steph hatte in letzter Sekunde ihre Vertretung übernommen.“

„Was war während dieser Zeit mit den Jungen?“, fragte Baldwin.

„Sie waren kränker als je zuvor. Ich erinnere mich, dass meine Mama einmal zu ihnen gegangen ist und sich um Edward und Ewan gekümmert hat. Das war, kurz bevor Edward starb. Sie hatten sich eine Lungenentzündung eingefangen, und Betty war in Haft. Die Schule hat meinen Pops angerufen. Damals gab es noch keine Jugendfürsorge oder so. Man verließ sich ganz auf Kirchen und nachbarschaftliche Hilfe. Sie hatten kein Geld mehr fürs Krankenhaus, also hat Betty das Barbecue-Restaurant verkauft und das ganze Geld für Arztbesuche und Medikamente ausgegeben. Meine Mama hat sich um die beiden gekümmert, und es gelang ihr, Ewan wieder gesund zu bekommen. Edward starb ungefähr eine Woche später. Der Arzt sagte, sein Körper wäre einfach zu geschädigt gewesen, um gegen den Virus ankämpfen zu können. Er war zu lange unbehandelt geblieben. Das hat meiner Mama das Herz zerrissen. Ich erinnere mich, dass sie sich in der Nacht, als er starb, die Augen ausgeweint hat.“

„Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass Ewan für den Tod seines Bruders verantwortlich gewesen war?“

„Edward? Nein, außer er hätte ihn mit dem Virus angesteckt. In der Autopsie hat man festgestellt, dass er Flüssigkeit in der Lunge hatte, als wäre er ertrunken.“

Baldwin sah ihn fragend an, doch der Chief schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht, dass das der Fall war. Meine Mama war die ganze Zeit über da, ihr wäre aufgefallen, wenn etwas nicht gestimmt hätte. Die beiden Jungen waren viel zu schwach, um sich zu rühren.“

„Okay. Erzählen Sie bitte weiter.“

„Mama sagte mir, dass alle drei Jungen verheilende Narben von den vielen Operationen aufwiesen. Sie zogen sich über ihre Bäuche wie ein Fischernetz. Als Edward starb, war Errol, der Jüngste, sehr dünn, also magersüchtig dünn. Laut dem Arzt wog er gerade einmal sechsunddreißig Kilogramm. Sie haben ihn eine Weile zur Erholung in eine psychiatrische Klinik gesteckt. Das hat ihn vermutlich zumindest fürs Erste gerettet.

Wie auch immer, Betty drehte völlig durch, als sie das von Edward hörte. Sie ließen sie zur Beerdigung gehen, doch sie musste immer noch ein paar Monate ihrer Strafe absitzen. Sie kam in Handschellen, und der arme Roger schämte sich in Grund und Boden. Natürlich gab er ihr die Schuld, und sie verfielen in einen bitterbösen Streit und schrien sich gegenseitig an, bis man sie schließlich trennte. Es war nicht schön anzusehen.

Als Betty endlich aus dem Gefängnis kam, zögerte sie nicht. Voller Wut fuhr sie nach Atlanta und passte Roger nach dem Schlagtraining am Stadionausgang ab. Das war kurz vor Ende der Saison. Sie erschoss ihn einfach. Der Mann hatte keine Chance. Betty lief weg, und erst konnte sie niemand identifizieren. Die Polizei von Atlanta hat aber wirklich gute Arbeit geleistet. Sie spürten ein Videoband auf, das zeigte, wie sie zwei Minuten nach dem tödlichen Schuss vom Stadion wegrannte. Sie fanden sie in einem flohverseuchten Motel außerhalb der Stadt. Sie hatte die Waffe noch bei sich und wurde gleich vor Ort verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Dieses Mal für immer. Der Prozess dauerte nur wenige Tage. Der Fall war sonnenklar. Man dachte darüber nach, die Todesstrafe zu verhängen, aber der Staatsanwalt hier in Atlanta gab sich mit lebenslänglich zufrieden. Ich denke, er wusste, dass ein Todesurteil in einem Berufungsprozess aufgehoben werden könnte, weil sie eine so offensichtlich gestörte Frau war. Der Richter stimmte zu, und sie wurde zu hundert Jahren oder so verurteilt. Sie schickten sie ins Metro State Prison in Atlanta – da kommen die psychiatrischen Langzeitfälle hin – und das ist das Letzte, was wir von Miss Betty gehört haben.“

Morgan tauchte eine Handvoll Pommes frites in Ketchup und steckte sie sich genießerisch in den Mund. Taylor wartete geduldig, bis er zu Ende gekaut hatte, und fragte dann: „Was wurde aus Ewan und Errol?“

Morgan antwortete nicht sofort. Er neigte den Kopf hart nach rechts, dann nach links. Dabei grunzte er leise, als genieße er das leise Knacken, das diese grobe Bewegung begleitete. Nachdem er mit seiner chiropraktischen Übung fertig war, holte er einen Zahnstocher aus einer vorderen Hemdtasche und steckte ihn sich zwischen die Lippen.

„Tja, die Jungen blieben hier in Forest City. Ewan war vierzehn, als seine Mutter weggebracht wurde. Errol hatte man aus dem Krankenhaus entlassen, sein Gewicht war wieder im normalen Bereich angekommen, aber er war immer noch sehr klein. Ohne Edward, der auf sie aufpasste, hielt man sie für zu jung, um alleine zu bleiben. Ewan und Errol wurden zu Mündeln des Staates erklärt. Errol war immer ein zartes Kind, er lebte noch ein knappes Jahr, dann brachte er sich um. Die Wohngruppe, in der sie lebten, war ein trauriger Ort voller ungewollter oder unwilliger Kinder. Der Heimleiter fand Errol an einem Seil in seinem Schrank hängend. Er war schon über einen Tag tot, und niemandem war es aufgefallen.“

„Das arme Kind. Die Schande des Untergangs seiner Familie war zu viel für ihn. Das beobachtet man bei Münchhausenfällen sehr oft. Die Überlebenden sind nicht in der Lage, mit ihrem Leben zurechtzukommen“, sagte Baldwin. „Vorausgesetzt, Ewan hatte nicht seine Hände im Spiel.“

„Das kann ich wirklich nicht sagen. Das Kind war zutiefst depressiv, deshalb war es kein großer Schock. Doch warum hätte er Errol umbringen sollen? Oder Edward, falls dem so war?“

„Wir sind ziemlich sicher, dass er sehr jung angefangen hat. Seine ersten Versuche, anderen wehzutun, muss er als Teenager unternommen haben. Der Tod eines Geschwisterkindes durch seine Hand würde ins Profil passen.“

„Ah, ich verstehe“, sagte Morgan. „Nun, da ist noch mehr, das Ihre Fragen vielleicht beantwortet. Ewan ist also als Einziger übrig geblieben. Oberflächlich betrachtet wirkte er wie ein gutes Kind. Er war klug und kannte sich vor allem mit Computern aus. Er ging jeden Tag zur Schule. Hielt sich aus allem Ärger raus. Aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Als wenn er nur wartete. Wie eine Schlange kurz vor dem Fressen. Ich hatte mal eine Boa Constrictor. Sie liebte es, zu spielen. Sie schaute zu, wie die Maus um sie herumtanzte, ließ sie auf sich herumkrabbeln, und wenn die Maus dann dachte, sie wäre sicher, griff die Schlange an. Genauso war es mit Ewan Copeland. Er wartete ab. Spielte uns allen etwas vor.

Mit sechzehn vergewaltigte er eines der Mädchen in seiner Wohngruppe. Und zwar nicht einfach nur so, sondern er fügte ihm auch Schnittverletzungen zu. Hat ihm mit dem Messer den Bauch aufgeschlitzt. Dafür wurde er in den Jugendknast geschickt. Mit achtzehn wurde er wieder entlassen. Danach verschwand er, und niemand hat je wieder etwas von ihm gehört oder gesehen.“

„Bis jetzt.“ Taylor schob ihren Teller von sich. Es war eine traurige Geschichte, aber sie empfand kein echtes Mitleid mit dem Mann, der sich zu dem Ding entwickelt hatte, dass sie seit einem Jahr verfolgte.

„Eine so gewalttägige Vergewaltigung passt definitiv zu ihm. Ist das die einzige registrierte Straftat von ihm?“, fragte Baldwin.

Der Chief reichte ihm eine Aktenmappe. „Ja. Das hier ist alles, was ich bei der kurzen Vorbereitungszeit habe zusammenstellen können.“

Taylor nahm die Mappe, klappte sie auf und legte sie zwischen sich und Baldwin auf den Tisch. Die Akte war dünn, aber sie enthielt ein Bild. Taylor löste es aus der Heftung und hielt es ein wenig ins Licht, das durch das Fenster fiel. Er kam ihr überhaupt nicht bekannt vor. Sie versuchte, ihn im Kopf älter zu machen, mit etwas volleren Wangen und Gesichtsbehaarung, doch sie konnte ihn sich nicht richtig vorstellen. Das würden sie noch einmal professionell am Computer machen müssen. Auf jeden Fall hatte er keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann, den sie vor einem Jahr bei der Barkontrolle in Nashville gesehen hatte. Er hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit dem Phantombild, das sie erstellt hatten.

Mühsam unterdrückte sie ihre Enttäuschung. Nur weil sie einen Namen und eine Geschichte hatten, bedeutete das nicht, dass nun alle Puzzleteile an ihren Platz fielen. Das wäre zu einfach, und nichts, was den Pretender betraf, war jemals einfach.

„Was ist mit Betty? Ich würde gerne mit ihr sprechen, wenn das möglich ist“, sagte Baldwin.

„Nein. Sie ist tot.“

„Mann, unser Timing ist aber auch unschlagbar. Zu schade. Was ist passiert?“

„Krebs. Brustkrebs, um genau zu sein. Wie ihre Mutter. Sie ist vor sechs Monaten gestorben. Ich habe die Benachrichtigung für unsere Akten erhalten.“

Die Geschichte zu erzählen hatte beinahe eine Stunde gedauert. Der Himmel fing langsam an, sich dunkel zu färben. In den Bergen ging die Sonne im Winter früh unter. Taylor war unruhig; sie wollte etwas tun, sich die Stadt anschauen, ein Gefühl dafür bekommen, woher der Pretender, nein, woher Ewan Copeland stammte.

Baldwin spürte diesen Wunsch.

„Chief, wir können Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass sie das alles mit uns durchgegangen sind. Ich denke, wir werden uns noch ein wenig die Gegend anschauen, bevor wir uns früh schlafen legen.“

„Natürlich. Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, sagen Sie einfach Bescheid. Ich bin die ganze Nacht da. Sie können die Akte gerne mitnehmen, es ist nur eine Kopie. Ich habe das Original. Wenn Sie später noch Hunger bekommen, kann ich Ihnen das Barbecue-Restaurant ungefähr eine Meile die Straße hinunter empfehlen. Es ist neu.“ Er zeigte nach rechts.

„Danke.“

Sie erhoben sich alle, nahmen ihre Mäntel und Schals, und Taylor ließ sich von Baldwin in ihre Lammfelljacke helfen. Ihr Blick fiel auf Amy, die Kellnerin, die in einer Ecke stand und mit einem der Tellerwäscher lachte. Ihr kam ein Gedanke.

„Chief, was ist aus Stephanie Sugarman geworden?“

„Steph? Sie heißt heute Anderson und hat das Kind von Copeland bekommen. Es ist ein Mädchen. Ungefähr ein Jahr nach seiner Geburt hat sie den Besitzer des Point and Shoot geheiratet. Sie haben noch ein paar weitere Kinder bekommen. Die Stadt wimmelt förmlich von Anderson-Kindern, die Steph inzwischen schon zur Großmutter gemacht haben.“

„Also wohnt sie immer noch hier in der Stadt?“

„Ja. Direkt am Ende der Straße. Kurz vor dem Polizeirevier. Sie können es nicht verfehlen, es ist ein schönes Haus. Das Größte in der Straße. Dreigeschossig aus rotem Backstein mit braunen Fensterläden und einer breiten weißen Veranda. Vielleicht erwischen Sie sie sogar zu Hause; meistens passt sie nachmittags auf die Enkelkinder auf, bis deren Eltern von der Arbeit kommen.“

„Was ist mit der Tochter?“

„Ruth? Ein süßes Mädchen. Sie wohnt nicht mehr hier, kommt aber oft zu Besuch. Sie wissen ja, wie es ist, wenn sie groß werden.“

Baldwin schüttelte dem Chief zum Abschied die Hand. „Wenn ich es richtig verstehe, läuft das Point and Shoot gut?“

„Junge, Sie kennen das doch. Es sichert unsere Gehälter – deren mit den Umsätzen der Bar und meines mit den Betrunkenen, die sich auf dem Parkplatz prügeln. Passen Sie da draußen gut auf, okay?“

Taylor schaute dem Chief hinterher, der zu seinem Streifenwagen ging und auf dem Weg dahin zum Gruß an seine Mütze tippte, als ein Pärchen aus dem Buchladen herauskam. Was für eine Geschichte. Sie war allerdings nicht wirklich überraschend – natürlich hatte der Pretender keine ganz normale Familiengeschichte. Er konnte nicht einfach nur ein verrücktes Kind gewesen sein, nein, die Richter würden behaupten, er versuche, seine verrückte Psychomutter nachzuahmen. Das passte so gut ins Profil.

Sie wusste, dass er niemals unschuldig gewesen war, egal, was Baldwin behauptete.

„Die Akte ist ziemlich dünn“, merkte Baldwin an.

„Ja. Wir müssen uns noch mehr Hintergrundinformationen beschaffen.“

„Komm, versuchen wir, mit Stephanie Anderson zu sprechen. Sie kann uns vielleicht noch mehr sagen. Parallel sage ich meinem Team Bescheid, was wir herausgefunden haben.“

„Okay.“

Auf dem Weg zu ihrem Auto schaute Taylor sich zu den kleinen Läden an der Straße um. Hatten die Leute gewusst, dass das Böse in ihrer Mitte wohnte? Und was würde der Pretender tun, wenn er erfuhr, dass sie seine Vergangenheit aufgedeckt hatten?

Und guter Gott, er hatte eine Halbschwester da draußen. Ein weiteres potenzielles Opfer.

Bei dem Gedanken wurden ihr die Knie weich. Sie mussten Ruth finden.