40. KAPITEL

Taylor fiel ein Stein vom Herzen, als sie auf den Parkplatz bog. Alles nur falscher Alarm.

Sams Auto stand auf dem üblichen Platz. Ein silberner BMW 330ci, das gleiche Modell, das Baldwin fuhr. Er war einmal mit Sam mitgefahren und hatte auf der Stelle beschlossen, dass er genau dieses Auto haben wollte. Als sie einmal nebeneinander in der Auffahrt gestanden hatten, Sams in Titansilber, Baldwins in Titangrau, hatte Taylor sich über den exquisiten Geschmack der beiden lustig gemacht. „Die Nachbarn werden uns für totale Snobs halten“, hatte sie gesagt.

Sie selber war mit ihrem Truck mehr als zufrieden. Ein praktisches Auto, genau, wie sie es mochte.

Sam hatte vermutlich ihr Handy einfach nicht geladen. Das war Taylor ja selber erst vor ein paar Tagen passiert. Alle Sorgen, die ganze Anspannung – sie war nur so mit den Nerven am Ende, dass sie überall Gespenster sah. Typisch für Copeland, sie so loshetzen zu lassen. Er wollte, dass sie einfach reagierte und keine Zeit hatte, die Dinge zu durchdenken. Für ihn war das alles nur ein Spiel – ein Spiel, das Leben kostete, um seinen kranken Sinn für Humor zu befriedigen.

Sie schaute über die Schulter, um sicherzugehen, dass Mitchells Männer noch da waren. Dann betrat sie das Gebäude und ging direkt zu Kris. Die quirlige Blondine plapperte am Telefon. Offensichtlich ein privater Anruf. Ihr Lächeln reichte bis zu den Ohren, und mit einem Finger drehte sie sich verträumt Locken ins Haar. Taylor zügelte ihre Ungeduld. Es war noch vor Dienstbeginn, also gab es keinen Grund, warum Kris nicht privat telefonieren sollte.

Als sie Taylor kommen sah, murmelte sie etwas in den Hörer und drückte ihn dann an ihre Brust, damit derjenige am anderen Ende der Leitung nichts von ihrem und Taylors Gespräch mitbekam.

„Guten Morgen, Lieutenant, was kann ich für Sie tun?“

„Ich bin auf der Suche nach Sam.“

„Ich fürchte, die ist schon lange fort. Sie war schon fort, bevor ich heute Morgen hierherkam. Ich musste noch ein paar Berichte zu Ende tippen, also habe ich beschlossen, anstatt gestern länger zu bleiben, heute früher zu kommen. Haben Sie versucht, sie anzurufen?“

„Sie geht nicht an ihr Telefon. Kris, bist du sicher, dass sie nicht hier ist? Ihr Auto steht auf dem Parkplatz.“

Kris runzelte die Stirn. „Ja, ich bin mir sicher. Sie hatte gestern Abend Probleme mit dem Wagen. Sie wollte gegen zehn Uhr etwas essen gehen, doch der Wagen sprang nicht an. Vermutlich hat Simon sie abgeholt. Aber gut, dass Sie es erwähnen. Ich sollte einen Abschleppwagen für sie anrufen. Sie hat mir zwar keine dementsprechende Nachricht hinterlassen, aber ich weiß, zu welcher Werkstatt sie immer geht.“

Taylors Herz klopfte bis zum Hals.

„Kris, leg den Hörer auf.“

Kris zögerte keine Sekunde – Taylors Miene musste ihr verraten haben, dass es ernst war. Ohne sich zu verabschieden, legte sie den Hörer auf die Gabel.

„Was ist los, Lieutenant?“

„Wir wissen nicht, wo Sam ist. Bist du heute Morgen schon in ihrem Büro und dem Rest des Gebäudes gewesen?“

Mit der Schlüsselkarte in der Hand kam Kris um den Empfangstresen herum. „Nein, aber gehen wir nachsehen. Oh mein Gott, ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen. Haben Sie Simon schon angerufen?“

Kris durchquerte die Lobby und zog die Karte durch das Lesegerät an der Tür. Mit einem Klicken öffnete sich das Schloss, und sie betrat den Flur zu den Büros. Taylor folgte ihr auf dem Fuß. Schnellen Schrittes eilten sie den Korridor entlang zu Sams Büro. Die Tür stand einen Spalt offen. Taylor drückte sie ganz auf. Der Raum war leer.

„Ich habe mit Simon gesprochen. Er weiß auch nichts, aber ruf ihn jetzt noch nicht an. Er hat gesagt, dass Sam die Nachtschicht hat und gleich anschließend einen Termin beim Arzt“, sagte Taylor.

„Ja, ihre erste große Vorsorgeuntersuchung. Heute ist der Ultraschall dran.“

Oh mein Gott, Sam. Sie atmete tief durch. Bleib ruhig. Du wirst sie finden. Alles wird gut.

Taylor durchwühlte Sams gesamten Schreibtisch und hinterließ dabei ein ziemliches Chaos. „Wo ist ihr Kalender? Ich kann ihren Kalender nicht finden.“

„Der ist jetzt online. Wir versuchen, das papierlose Büro umzusetzen. Sie wollte mit gutem Beispiel vorangehen.“

„Dann ist er auf ihrem Computer?“

Kris nickte.

„Fahr ihn hoch. Ich muss den Kalender sehen. Sieh du dann bitte in den Autopsieräumen nach und sprich mit den Kollegen, die im Moment da sind.“

Kris setzte sich an Sams Schreibtisch und versuchte, das Passwort einzutippen. Ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging in kurzen, flüsternden Zügen. Sie stand kurz vor einer Panikattacke. Taylor streckte eine Hand aus und legte sie ihr auf die Schulter.

„Hör zu. Entspann dich. Atme. Wir werden sie finden. Ihr geht es gut. Versprochen.“

Sie hörte die unterdrückten Tränen in Kris’ Stimme. „Ich hoffe es. Sie ist die Beste. Lieutenant, es tut mir leid, dass das so lange dauert. Sie hat ihren Computer gestern Abend ausgemacht. Das tut sie normalerweise nie. Wir schalten immer nur den Energiesparmodus ein – natürlich trotzdem passwortgeschützt. Aber sie hat das gesamte verdammte System …“

„Mist. Kris. Hör auf. Hör sofort auf zu tippen. Fass nichts mehr an. Sofort raus hier. Schließ Sams Büro ab, und greif über deinen Computer auf ihren Terminplan zu.“

Kris gehorchte. Sie stand auf und drehte sich dann zu Taylor um. „Was ist los?“

„Du sagst, Sam schaltet ihren Computer niemals aus?“

„Nein, nie. Er verbraucht weniger Energie, wenn man ihn in den Sparmodus versetzt. Das gehört zu unserem Umweltschutzprogramm.“

„Für den Fall, dass wir nach Fingerabdrücken oder DNA-Spuren suchen müssen, müssen wir das Büro so original wie möglich belassen.“

„Oh Gott.“ Kris schluchzte.

Taylor fasste sie bei den Schultern. „Kris, ich brauche dich. Du musst dich für mich zusammenreißen. Geh an deinen Tisch zurück und ruf Sams Kalender auf. Wenn dir noch etwas einfällt, was wichtig sein könnte, sag es mir. Mit wem hat sie gestern Nacht zusammengearbeitet? Ich brauche eine Liste aller, die mit ihr zusammen Schicht hatten. Kannst du das für mich tun?“

Kris schluckte und nickte.

„Gut. Ich gehe jetzt selber in den Autopsiebereich und schaue mich kurz um, um sicherzugehen, dass sie nicht einfach über einen Fall die Zeit vergessen hat. Ich bin in einer Minute zurück.“

Mehr Zeit, die ihnen durch die Finger rann.

Taylor schaute Kris hinterher, bis sie durch die Tür am Ende des Flurs verschwunden war. Dann zog sie ihre eigene Schlüsselkarte durch, um die Autopsieräume zu betreten. Hier herrschte gespenstisches Schweigen. Die Sonne schien durch die Oberlichter und ließ die Ausstattung aus Edelstahl im frühen Morgenlicht schimmern. Hier war niemand. Zumindest niemand, der noch lebte und atmete.

Panik wallte in ihr auf. Sie schloss für einen Moment die Augen, wappnete sich und ging dann langsam über den Flur zu der Edelstahltür, hinter der sich das Kühlhaus verbarg. Die Leichen wurden nach einem bestimmten System gelagert und lagen in ihren Leichensäcken auf Rolltischen, auf denen die Autopsie stattfand. Wenn es sehr voll wurde, konnte man sie auch vertikal stapeln.

Die Tür öffnete sich mit einem Zischen. Eisgekühlte Luft strömte in den Flur. Eine Reihe von ungefähr zehn Leichen begrüßte sie, alle in ihre schwarzen Säcke gebettet wie Raupen, die sich darauf vorbereiteten, ihre Hülle abzustreifen und die Flügel ihrer Seelen für ein Leben nach dem Tod auszubreiten.

Hektisch öffnete Taylor jeden einzelnen Leichensack; beim dritten ging ihr der Reißverschluss kaputt. Sie schaute in Gesichter und sah nichts, während sie unter den tiefgekühlten Leichten verzweifelt nach ihrer besten Freundin suchte.

Das Ende der Reihe, der letzte Sack. Sie atmete dreimal tief durch und packte dann beherzt den Reißverschluss.

Ein Mann. Es war ein Mann.

Erleichterung überwältigte sie.

Noch nie in ihrem Leben war sie so froh gewesen, einen toten Mann zu sehen.