3. KAPITEL
Nashville, Tennessee
Colleen Keck tippte mit flinken Fingern den Blogtitel ein.
Noch keine Spur im Fall des vermissten Teenagers aus Nashville
Sie schaute nach, ob sie sich vertippt hatte. Hatte sie nicht. Gut. Die Zeile war griffig. Sie trank einen Schluck von ihrer Cola light und machte sich dann an den Blogeintrag selber. Ihre Finger flogen nur so über die Tastatur.
Nashville hat sich immer noch nicht von dem grauenhaften Halloween-Massaker der letzten Woche erholt, bei dem acht Teenager in Green Hills am Nachmittag von Halloween ermordet wurden. Während die ersten Beisetzungen stattfinden, sickern weitere beängstigende Neuigkeiten durch: Ein siebzehn Jahre alter Schüler der Montgomery Bell Academy wird vermisst. Peter Schechter, Mitglied des MBA Footballteams und Co-Captain der Lacrosse-Mannschaft, ist am Tag nach Halloween nicht zum Training gekommen, und seitdem hat auch niemand mehr etwas von ihm gehört.
Sein Auto, ein silberner BMW 5er, Baujahr 2006, wurde Samstagmorgen auf dem Parkplatz des McDonald’s im West End gefunden. Seine Eltern Winifred und Peter Schechter Sr. berichten, dass ihr Sohn ein verantwortungsvoller, hart arbeitender Junge ist, dem sein Sport über alles geht. „Es ist vollkommen untypisch für Pete, dass er sich nicht meldet. Das tut er sonst immer. Wir stehen uns sehr nahe“, sagt Mrs Schechter unter Tränen.
Schechters Freunde bestätigen, dass sie an Halloween am Lower Broadway eine Party im Subversion besucht haben, doch niemand kann sich daran erinnern, ihn zu seinem Wagen zurückgebracht zu haben. „Wir sind davon ausgegangen, dass er mit jemand anderem zusammen gegangen ist“, sagt Brad Sandford, ein Freund und Teamkollege. „Wir sind ohne ihn nach Hause gefahren.“
Die Polizei glaubt nicht, dass Schechter aus eigenem Antrieb die Party verlassen hat. Einzelheiten dazu werden zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch zurückgehalten. Der Vermisste geht nicht an sein Handy, und es sind bisher auch keine SMS über seine Nummer verschickt worden. Eine den Ermittlungsbehörden nahestehende Quelle, die nicht genannt werden möchte, bestätigt, dass die Polizei von einem Verbrechen ausgeht. Es wurde bereits ein AMBER-Alarm ausgegeben und eine großräumige Suche organisiert. Wer Hinweise auf Peter Schechters momentanen Aufenthaltsort hat, möge sich bitte unter der Nummer 866-555-2010 melden. Auch anonyme Hinweise werden angenommen.
Demütigst übermittelt von
Felon E
Colleen las den Artikel noch einmal durch, korrigierte ein Komma und veröffentlichte die Geschichte. Sie wurde automatisch in ihren Twitter-Account gefüttert; sie schaute über TweetDeck zu, wie die Nachricht sich wie ein Virus verbreitete und ihre Hunderttausende Follower brav weitererzählten, dass ein neuer Blogpost veröffentlich worden war. Sie knackte mit den Fingerknöcheln und erlaubte sich ein kleines Lächeln.
Felon E war ihr Baby, ihr Universum. Obwohl die Welt der True-Crime-Blogger, wie sich diejenigen nannten, die über echte Verbrechen berichteten, exponentiell wuchs und beinahe täglich neue Blogs auftauchten, war sie immer noch die Nummer eins. Ihr Blog hallte durch die Onlinewelten, weil sie akkurat war und ihre Beiträge mit viel Takt und Mitgefühl verfasste.
Sie nutzte alle ihre sozialen Netzwerke, um ihre Meldungen zu verbreiten, und ihre Fans taten den Rest. Sie hatte es weit gebracht von der Polizeireporterin des The Tennessean, obwohl niemand online wusste, wer sie war. Diese Anonymität erlaubte es ihr, Quellen von verschiedenen Zuständigkeitsbereichen zu nutzen, ohne dass sich jemand beschwerte. Die Leute von den Strafverfolgungsbehörden, mit denen sie zusammenarbeitete, wussten, dass sie ihr vertrauen konnten und dass sie niemals ihre Quellen preisgab. Ihr Schweigen war Gold wert.
Zudem wurde sie von den Strafverfolgungsbehörden geliebt. Viele Abteilungen nutzten ihren Blog und ihre Ankündigungen, um Hintergrundinformationen über hoffnungslose oder dringende Fälle zu verbreiten. Und sie half ihnen dabei nur zu gerne und umsonst.
Um bei den Topnachrichten immer vorn dabei zu sein, hatte sie sich sorgfältig im ganzen Land Kontakte aufgebaut. Doch ihre Hauptgeschichten bekam sie von ihren Freunden in den Notrufzentralen. Ob Großstädte oder kleine Dorfnetzwerke – sie hatte mit Hunderten von Leuten Deals geschlossen. Diese Verbindungen sorgten für den nötigen Vorsprung vor ihren Wettbewerbern. Sie hatte live Video- und Audiofeeds, ihr Polizeifunkscanner lief online rund um die Uhr, auf ihrem Handy hatte sie eine App installiert, die den Funkverkehr bei Notfällen übertrug, und mit ihren Kontakten hatte sie eine Art Exklusivvertrag geschlossen. Sie wussten, was Informationen ihr wert waren. Sie nahm auch Hinweise von anderen Leuten an, sicherte diese aber immer über mindestens zwei Quellen ab, bevor sie sie verwendete.
Nachdem ein hochkarätiger Bankräuber sich auf ihrem Blog gemeldet und angekündigt hatte, sich zu stellen, hielt die Presse ein Auge auf Felon E. Beinahe jeder große Fernsehsender hatte sie eingeladen, in einer ihrer Sendungen darüber zu sprechen, wie sie es schaffte, bei den Verbrechen des Landes immer auf dem Laufenden zu sein, aber sie lehnte alle Interviewanfragen ab. Es ging ihr nicht um ihren Ruhm. Sie tat es, weil sie helfen wollte.
Wenigstens redete sie sich das ein.
Der Blog brachte ihr Unmengen an Geld ein. Die Werbung, die auf ihrer Seite geschaltet wurde und die sie mit Bedacht auswählte, erwirtschaftete genug, um ihr einen angenehmen Lebensstil zu finanzieren, ja mehr sogar, sie konnte es sich leisten, ihren fünf Jahre alten Sohn Flynn auf die teure Montessorischule am anderen Ende der Straße zu schicken. Das war ein Luxus, von dem sie nie gedacht hätte, ihn sich einmal leisten zu können. Doch obwohl sie ihre Rechnungen bezahlen konnte, blieb auch nicht so viel übrig, um einen verschwenderischen Lebensstil zu führen. Das war ihr allerdings egal. Zu Hause zu arbeiten bedeutete, keine zusätzlichen Kosten für schicke Anzüge, Benzin und Mittagessen zu haben. Keinen Ehemann zu haben – und kein Verlangen, sich mit Männern zu treffen – bedeutete, nicht in teure Kosmetik zu investieren und kein Aufheben um ihre Haare zu machen; die teuren Strähnchen, die sie sonst pünktlich alle sechs Wochen hatte machen lassen, waren herausgewachsen, und von dem Geld, das sie dadurch einsparte, bezahlte sie jetzt ihre Lebensmittel. Am Ende war alles fein ausbilanziert.
Sie bewegte ihre Maus und versuchte, nicht auf das Bild zu schauen, das ganz hinten auf ihrem Schreibtisch stand. Es gelang ihr nicht. Gerissen wie ein Gelegenheitsdieb glitt ihr Blick über das verblasste Foto in seinem zerbeulten Silberrahmen. Ein dunkelhaariger Mann, der ein kleines, hellblaues Bündel hielt und vor Vaterstolz nur so strahlte. Eine Woche später war er fort und sie allein mit einem Neugeborenen und der Organisation einer Beerdigung. Sie schluckte schwer und senkte den Blick, bevor sie wirklichen Kontakt herstellen konnte, bevor die Erinnerungen an ihn sie überwältigten.
Engel und Tod, fehlende Väter und gestresste Mütter. Die Vergangenheit prallte mit der Realität ihrer Gegenwart zusammen.
Sie hatte Flynn wieder und wieder erklärt, dass sein Vater bei den Engeln war. Doch wenn sie so jung sind, verstehen sie es nicht. Man kann nichts vermissen, was man nie gekannt hat. Und Flynn hatte den lächelnden jungen Mann, der sein Vater war, nie kennengelernt. Ihm war einzig und allein wichtig, dass Colleen ihm Beachtung schenkte, wenn er es wollte, und ihn in Ruhe ließ, wenn er „Zeit für sich“ brauchte. Sein neuer Unabhängigkeitsdrang machte ihr Sorgen; er verletzte ihre zerbrechlichen Gefühle, wenn er sie von der Tür seines Zimmers wegschob und sagte: „Ich brauche ein wenig Zeit für mich, Mommy.“
Und Pizza. Er war geradezu fanatisch, was Pizza betraf. Genau wie sein Vater.
Flynns Daddy war ein aufstrebender junger Polizist gewesen, der in Ausübung seiner Pflicht getötet worden war. In der einen Minute war er noch da, in der anderen weg. Man hatte ihr gesagt, er wäre sofort tot gewesen. Und dass er mutig gestorben wäre. Dass er nicht mitbekommen hätte, was mit ihm geschah. Sie war an genügend Tatorten gewesen, um zu wissen, dass sie logen – Schusswunden töteten einen nicht sofort; es dauerte einige Minuten, bis die Organe die Nachricht verarbeitet hatten, dass sie nicht mehr gebraucht wurden und eines nach dem anderen seinen Dienst einstellte. Aber sie nickte, als würde sie es verstehen, und fragte nicht weiter nach.
Sie bewahrte seitdem ihr Schweigen, auch wenn der Mörder immer noch nicht gefasst worden war.
Als Tommy starb, arbeitete Colleen bei der Zeitung und verdiente gerade genug, um die monatlichen Hypothekenzahlungen zu decken, mehr nicht. Und auch wenn viel Geld für die Stiftung einging, die seine Kollegen für sie ins Leben gerufen hatten – es war für Flynns Collegeausbildung reserviert. Die täglichen Ausgaben einer alleinerziehenden Mutter waren astronomisch hoch, und Colleen erkannte schnell, dass ihr Job bei der Zeitung trotz der üppigen Versicherungssumme nicht ausreichen würde, um sie und ihren Sohn über Wasser zu halten.
Verbrechen hatten sie schon immer fasziniert. Vermutlich war das der Grund, warum sie Tommy geheiratet hatte. Ein „Cop-Groupie“ hatte er sie immer neckend genannt, und in seinen Augen funkelte es vergnügt, wenn er ihr beim Abendessen alles über seine letzte Schicht berichtete. Nachdem er gestorben war, hatten einige seiner uniformierten Brüder auf seinem Platz ihr gegenüber am Küchentisch gesessen, Geschichten aus dem Dienst erzählt und versucht, ihre Laune zu heben, während sie sich in eine Decke gehüllt und Flynn gestillt hatte.
Als ihre Trauer ihrem Verstand endlich wieder erlaubte, sich zu zeigen, erkannte sie, dass sie etwas anderes finden musste, um ihre kleine Familie zu ernähren. Sie konnte schreiben, daher dachte sie daran, ein Buch zu veröffentlichen. Das wäre schnelles, leicht verdientes Geld; sie könnte mit einer aufregenden, echten Kriminalgeschichte aufwarten. Dann starb einer ihrer Helden, Dominick Dunne, und die ausführliche Berichterstattung über sein Leben brachte einen anderen Gedanken ans Tageslicht. Und so nahm die Idee, einen Verbrechensblog zu schreiben, langsam Gestalt an. Die Vorstellung gefiel ihr. Schnell und schmutzig. Sofortiges Feedback, eine fortlaufende Datenbank. Wie Dunne könnte sie die Stimme der Opfer sein, aber sie würde gleichzeitig hinter die Kulissen schauen wie eine Art Engel. Es gefiel ihr, dass niemand wusste, wer sie war. Sie wollte ihren wahren Namen nicht verraten; es war ihr nie um Ruhm oder Aufmerksamkeit für sich gegangen. Außerdem war es so besser und sicherer.
Colleen hatte angefangen, Felon E mit Geschichten zu füttern, und hatte sein Erscheinen dann auf verschiedenen True-Crime-Messageboards angekündigt, woraufhin ihr Blog einen Raketenstart hingelegt hatte. Sie war immer noch überrascht, wie gut es lief; innerhalb eines Jahres nach dem Launch hatte sie schon ihre Arbeit kündigen und sich ganz der Pflege ihres Blogs widmen können. Sie hatte den Eifer unterschätzt, mit dem die normale Bevölkerung die intimen, blutrünstigen Einzelheiten der Verbrechen aufsog, die um sie herum passierte. Sie selber war natürlich davon fasziniert, aber sie war auch die Frau eines Polizisten und eine ehemalige Kriminalreporterin. Sie war Teil der Szene. Ihre Leser hingegen waren ganz normale Menschen von der Straße mit einem gewissen Blutdurst.
Über die Jahre hatte ihr Blog auch ein paar Verrückte und Irre angezogen, aber Tommy hatte sie gut ausgebildet. Die Waffen in ihrem Safe konnte sie mit der Leichtigkeit abfeuern, die man nach unzähligen Stunden auf dem Schießstand erreichte, und ihr Haus war an ein ausgeklügeltes Alarmsystem angeschlossen. Sie kannte sich mit Selbstverteidigung aus. Sie war klug und gerissen und wusste, was sie am Computer tun musste, um ihren wahren Aufenthaltsort zu verschleiern. Bevor sie zum Journalismus gewechselt war, hatte sie an der MTSU Informatik studiert. Das verschaffte ihr zwei entscheidende Vorteile – zum einen konnte sie ihre Seite mit niedlichen kleinen Fallen für die Leute spicken, die versuchten, sich durch die Hintertür einzuschleichen. Und zum anderen konnte sie die ganze Programmierung ihrer Website selber durchführen und so ihre Anonymität wahren.
So weit die kleine Reise in die Vergangenheit. Sie sollte das Foto von Tommy wirklich woanders hinstellen. Jedes Mal, wenn sie es anschaute, fluteten die Erinnerungen ihr Gehirn. Wirklich, sie sollte es umstellen. Doch sie würde es nicht tun.
Colleen stand auf und streckte sich. Dann ging sie in die Küche, an dem Schrank vorbei, der dringend repariert werden müsste – er hing quasi am seidenen Faden –, und zu dem Kühlschrank mit seinem kaputten Eiswürfelzubereiter. Sie öffnete die vierte Dose Cola light des Vormittags und fing an, über die Perspektive für die Fortsetzung der Geschichte nachzudenken. Es passierte nicht jeden Tag, dass ein Jugendlicher aus einer der besseren Gegenden Nashvilles spurlos verschwand. Aber wenn sie diese Geschichte großmachen wollte, brauchte sie einen Exklusivbericht, irgendetwas Einmaliges. Etwas Offizielles.
Sie kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück, stellte die Coladose ab und öffnete ihren Internetbrowser. Sie versuchte, pro Tag fünf Originalgeschichten zu posten, dazu alle Aktualisierungen, die sich im Laufe des Tages ergaben. Das bedeutete, dass sie den Großteil ihrer Zeit dafür verwendete, das Netz zu durchkämmen und ihre Quellen anzuzapfen. Sobald eine gute Geschichte im Kasten war, eilte sie auch schon zur nächsten.
Wo ist Peter Schechter?
Ihr Nachrichtensymbol blinkte, also schaute sie sich zuerst ihre E-Mails an. Sie erhielt Tonnen an Hinweisen von Fans aus dem ganzen Land – oft so viele, dass sie sie gar nicht alle bearbeiten konnte. Um einen schnelleren Überblick zu haben, hatte sie einige ihrer besten Quellen aus den wichtigsten Städten markiert, damit sie aus der Menge herausstachen. Drei Nachrichten zeigten ihre Dringlichkeit durch rotes Blinken an. Eine kam aus San Francisco, eine aus Boston und eine aus New York.
Sie öffnete die aus San Francisco zuerst, da sie als Erste eingegangen war. Alle Gedanken an den vermissten Jungen verschwanden, als sie die Nachricht las. Ihr Herz schlug ein kleines bisschen schneller. Sie las die E-Mail ein zweites Mal, schloss sie dann und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Konnte das sein? Und war sie die Einzige, die davon erfahren hatte?
Sie versuchte, ihre Aufregung im Zaum zu halten. Das gelang am besten durch Ablenkung. Also öffnete sie die Nachricht aus New York.
Es summte in ihren Ohren, das Adrenalin rauschte durch ihren Körper und erweckte jeden einzelnen Nerv zum Leben. Sie öffnete die E-Mail aus Boston und wäre beinahe ohnmächtig geworden.
Wenn diese Nachrichten stimmten, dann war sie einer Riesensache auf der Spur. Einer unglaublich riesigen Sache.
Sie machte sich sofort an die Arbeit, antwortete ihren drei Kontakten, stellte die wichtigsten Fragen, die ihr einfielen. Dann ging sie an ihr Bücherregal, in dem sie ihr Referenzmaterial, ihr Hintergrundwissen aufbewahrte. Auf der linken Seite des dritten Regalbodens steckte ein Buch, das sie schon so oft in Händen gehalten hatte, dass die Ecken ganz abgegriffen und der Rücken gebrochen war. Die Enzyklopädie der Serienmörder.
Andächtig strich sie über das Cover, dann schlug sie es auf. Das Buch war alphabetisch nach den wahren Namen sortiert, nicht nach den Spitznamen, die den Männern und Frauen auf diesen geheiligten Seiten für ihre Verbrechen verliehen worden waren.
Sie musste schrittweise vorgehen. Einen Moment debattierte sie mit sich, dann traf sie eine Entscheidung. San Francisco zuerst. Sie blätterte zu einer eselohrigen Seite ganz am Ende vor, zu einem der wenigen Mörder, die unter einem Künstlernamen eingetragen waren – einem der bekanntesten aller Zeiten. Dem Mann, der nach all den Jahren immer noch anonym war. Dem Mann, den man nie gefasst hatte.
Sie begann mit dem Zodiac-Killer.