4. KAPITEL

Outer Banks, North Carolina

Taylor durfte zwanzig Minuten mit Fitz verbringen, bevor Renee Sansom an die Tür klopfte und ihnen mitteilte, dass es an der Zeit war, ihn für seine anstehende Operation ins Duke zu überführen.

Taylor hatte versucht, ihm Fragen zu stellen, aber Fitz war überraschend einsilbig, was die Tortur anging, die er erlitten hatte. Er wiederholte ständig die gleichen Sätze. „Ich glaube, ich stand unter Medikamenteneinfluss.“ Ich erinnere mich an gar nichts mehr. „Ich weiß nur das, was ich dir erzählt habe.“ „Ich soll dich von ihm grüßen und dir ausrichten: ‚Lass uns spielen‘. Er hat gesagt, du würdest schon wissen, was das heißt.“

Sie hatte erwartet, dass er ihr gegenüber aufgeschlossener wäre, aber nachdem sie zehn Minuten lang vergeblich versucht hatte, ihn dazu zu bringen, sich ihr zu öffnen, und er nur immer wiederholte, dass er sich an nichts erinnern könne, hörte sie auf. Sie hoffte, dass er nicht unter einem ausgeprägten posttraumatischen Stresssyndrom litt, sondern einfach nur von der Situation überwältigt war und sich an mehr erinnerte, als er im Moment zugab – oder sich an mehr erinnern würde, sobald der Schock nachließ. Aber wenn man bedachte, was er durchgemacht hatte, war das vermutlich reines Wunschdenken.

Sie änderte ihre Taktik. Sie fragte, ob er für die Operation nicht nach Nashville zurückkehren wolle und hörte überrascht, dass es ihm lieber wäre, sich an den Plan zu halten, die OP hier im Duke durchführen zu lassen. Sie fragte sich, ob er Susie nahe sein wollte, die im örtlichen Leichenschauhaus lag.

Bewusst verdrängte sie jedes Anzeichen von Sorge aus ihrer Stimme und brachte ihn auf den neuesten Stand, was in der letzten Zeit in Nashville los gewesen war. Wie sehr die beiden Detectives Lincoln Ross und Marcus Wade sich darauf freuten, wieder mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie erzählte ihm von dem neuen Mitglied der Mordkommission, Renn McKenzie, und ihrer neuen Chefin, Commander Jean Huston. Fitz schien dankbar für die Ablenkung zu sein. Er hielt die ganze Zeit über Taylors Hand, und sie spürte, wie ihm in wiederkehrenden Abständen Schauer durch den Körper liefen. Er hatte Angst, und das ließ sie beinahe durchdrehen.

Der Helikopter des Duke Medical Center landete auf dem kleinen Parkplatz vor dem Polizeirevier. Fitz wurde hineinbegleitet. Er ging sehr langsam und mit gesenktem Kopf. Taylor und Baldwin winkten, bis der Helikopter nicht mehr zu sehen war. Taylor hasste es, dass sie Fitz nicht begleiten durfte, hatte ihm aber versprochen, da zu sein, wenn er nach der Operation aufwachte. Sie und Baldwin würden mit der Gulfstream nach Durham hinterherfliegen und Fitz, sobald er entlassen wurde, mit nach Hause nehmen.

Der Schnee fiel jetzt stärker, ein Sturm hatte sich zusammengebraut. Zitternd gingen sie zurück ins Haus. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und den stürmischen Tag ausgesperrt hatten, kehrten sie in den Konferenzraum zurück, den Nadis ihnen für ihre Zwecke zur Verfügung gestellt hatte.

Sansom schaute Taylor an und sagte: „Okay. Zeit für Ihr Debriefing. Ich muss alles wissen, was Sie über diesen Irren haben. Ihr Kollege wollte nicht mit mir sprechen, aber ich nehme an, Ihnen hat er alles erzählt. Lassen Sie hören.“

Taylor schüttelte den Kopf. „Fitz hat mir gar nichts erzählt. Er sagt, dass er unter Drogen gesetzt wurde und sich an nichts erinnert. Und ich glaube ihm. Wie Sie schon sagten, er hat eine Menge durchgemacht. Ich bin im Moment nicht gewillt, ihn zu stark zu bedrängen. Wenn er anfängt, sich zu erinnern oder sich gesprächsbereiter zu zeigen, werde ich da sein, um mir seine Geschichte anzuhören. In der Zwischenzeit kann ich Ihnen ausreichend Hintergrundinformationen geben, damit Sie loslegen können.“

Sansom schaute sie einen Moment lang an. „Unsere anfängliche Blutuntersuchung hat keinen Hinweis auf irgendwelche Drogen oder Medikamente ergeben.“

Taylor erwiderte den Blick. „Sie wissen, dass ein kompletter toxikologischer Bericht Wochen dauert.“

„Vielleicht. Vielleicht versucht ihr Sergeant aber auch nur, etwas zu verheimlichen.“

Das ging Taylor unter die Haut. „Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass er etwas mit der Sache zu tun hat. Er hat ein Auge verloren, um Himmels willen. Denken Sie, er hat seine Freundin ermordet, sich mit einem Löffel ein Auge herausgenommen und es rauf nach Asheville gebracht?“ Sie atmete schwer; ihre Hände waren zu Fäusten geballt, und sie spürte kaum Baldwins Hand auf ihrem Arm. Zurückhaltung. Aber mal ehrlich. Fitz zu beschuldigen, irgendetwas mit Susies Tod zu tun zu haben, war einfach lächerlich.

Sansom hörte nicht auf, sie aus der Reserve zu locken. „Ich weiß nicht, Lieutenant. Irgendwie passt das alles zu gut. Er wäre nicht der Erste, dessen Beziehung ein schlechtes Ende nimmt und der es dann auf den örtlichen Buhmann schiebt.“

„Das ist Blödsinn, und das wissen Sie auch.“

Sansom besaß tatsächlich die Dreistigkeit, zu lächeln.

„Taylor“, sagte Baldwin mit warnendem Unterton. „Lass uns einfach erzählen, was wir bislang wissen, und dann von dort aus weitermachen.“

„Na gut.“ Taylor verkniff sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag. Sie versuchte, den Fall aus der Perspektive eines Außenstehenden zu sehen. Sie und Baldwin spürten mit jeder Faser ihres Seins, dass dies das Werk des Pretenders war. Doch Menschen, die die vorangegangenen Fälle nicht kannten, mochten sich von dem Tathergang durchaus auf eine falsche Fährte locken lassen. Jeder gute Ermittler würde alle Möglichkeiten durchgehen. Und nichts anderes tat Sansom gerade.

Je länger Taylor sich das vor Augen führte, desto mehr sank ihr Blutdruck.

Baldwin rückte Taylor einen Stuhl zurecht, und alle drei setzten sich an den langen Tisch, um den sich, wie Taylor vermutete, normalerweise Nadis’ Team zum gemeinsamen Mittagessen versammelte. Darauf ließen zumindest die angetrockneten Senfflecken schließen, die vor ihr die Tischplatte sprenkelten. Sie rutschte ein Stückchen zur Seite, um sich nicht aus Versehen darauf zu stützen.

Die beiden Agents gesellten sich zu ihnen. Sansom stellte sie als Wally Yeager und Eliot Polakis vor. Sie hatten beide einen frischen gelben Schreibblock vor sich liegen, um sich Notizen zu machen.

„Baldwin, warum fängst du nicht an?“, sagte Taylor. Sie war noch nicht so weit, sich einzubringen.

„Okay. Ich bin jetzt seit einem Jahr der führende Fallanalytiker des Pretenders, und sein Profil ist immer noch nicht vollständig. Es verändert sich ständig. Er ist ein Chamäleon. Er passt sich an, kopiert, macht nach und verschwindet dann. Trotz Ihrer Überlegungen in Bezug auf Sergeant Fitzgerald bin ich vollkommen überzeugt davon, dass wir es hier mit der Arbeit des Pretenders zu tun haben. Susie McDonald zu erstechen und auf dem Boot zurückzulassen, Fitz zu entführen, ihm ein Auge zu entfernen und ihn laufen zu lassen, ist erst sein zweites Originalverbrechen, von dem wir wissen. Das verändert natürlich wieder einiges. Es gibt ein paar Dinge, die ich Ihnen vorab erzählen kann – ich glaube nicht, dass er eine gute Schulbildung genossen hat, aber er ist überdurchschnittlich intelligent. Er ist vermutlich als Pflegekind in verschiedenen Häusern und Familien aufgewachsen.“

„Ein Pflegekind“, sagte Sansom. „Hm.“

„Er lässt sich außerdem niemals irgendwo länger nieder, sondern schlägt seine Zelte immer da auf, wo es ihm gerade passt, was es schwierig macht, ihn aufzuspüren. Er ist Anfang dreißig, ihm fehlt es an Selbstvertrauen, und er nimmt alle möglichen Jobs an, um Geld für die alltäglichen Notwendigkeiten zu verdienen. Er kennt sich mit Computern aus und weiß, wie man sich der verschiedenen Message Boards bedient. Er hält sich für einen Gelehrten. Er wird Bücher bei sich haben, die sich einzig und allein um Serienmörder drehen. Er hält sich genauso für einen Experten, wie ich mich für einen halte. Seine Faszination mit Blut dürfte schon in früher Kindheit begonnen haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich herausstellt, dass er schon in sehr jungen Jahren getötet hat, vielleicht ein Geschwisterkind. Er ist geschickt mit den Händen, freundlich, charmant und sexuell aktiv. Er kann auffallen oder vollkommen unbemerkt bleiben, was immer seinem Zweck am dienlichsten ist.“

Er beugte sich zu Sansom vor, um sicherzugehen, dass sie gut zuhörte. „Sollten Sie jemals auf ihn treffen, lassen Sie niemals in Ihrer Wachsamkeit nach. Das meine ich todernst. Er hat keine Gefühle, mit ihm kann man nicht vernünftig reden. Er wird Sie ohne zu zögern töten, und es wird ihm überhaupt nichts ausmachen. Wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt, tut er alles, um sich zu befreien. Es wird schwer werden, ihn lebendig zu kriegen. Er hat nichts zu verlieren. Er ist nicht auf der Suche nach Ruhm und Ehre, will sich nicht in den Zeitungen sehen. Er ist einfach ein Soziopath, dem es Freude bereitet, auf alle erdenklichen Weisen zu töten.“

Bei seinem letzten Satz zuckte Sansom ein wenig zusammen. Gut so, dachte Taylor. Sie hatte ihn letztes Jahr in Nashville persönlich gesehen – oder glaubte es zumindest. In einer Bar namens Control auf ihrem vermeintlichen Junggesellinnenabschied. Sie hatte das Böse gespürt, das ihm aus jeder Pore quoll, wie Schweiß im Sommer, sichtbar und übel riechend.

„Okay. Wo fangen wir also an?“, fragte Sansom.

Baldwin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „Mit der Nachricht, die Sie in dem Wohnwagen in Asheville gefunden haben. Sie ist handgeschrieben. Ich habe eine der herausragendsten Expertinnen für soziopathische Grafologie an der Hand, die nur darauf wartet, die Nachricht zu sehen. Mit etwas Glück wird sie uns etwas über ihn sagen können, das wir noch nicht wissen.“

Sansom wandte sich an Taylor. „Das ist ihr Startpunkt. Ich habe noch eine Entführung und einen Mord auf meinem Zettel, die ich aufklären muss. Also fangen wir an. Ich zeige Ihnen meins, wenn Sie mir Ihres zeigen. Was wissen Sie noch über den Pretender? Wie können wir ihn fassen? Lieutenant, ich würde gerne auch von Ihnen etwas hören. Was glauben Sie, wie sieht sein nächster Schritt aus?“

„Sein nächster Schritt?“ Taylor lachte leise. „Das bin ich. Er wird sich mich als Nächste vorknöpfen.“