46. KAPITEL
Lincoln hob den kleinen Jungen auf, den Colleen Keck, falsch, den Emma Brighton auf den harten, kalten Zementboden vor dem CJC hatte fallen lassen. Flynn weinte. Er war von dem unwürdigen Aufprall so geschockt, dass er noch gar nicht gemerkt hatte, dass seine Mutter nicht mehr bei ihm war.
Lincoln klopfte dem Kleinen ein paar Mal auf den Rücken, dann reichte er ihn einem Hilfssheriff, der gerade vorbeikam. „Bring ihn bitte hoch zur Mordkommission. Jetzt gleich. Ich bin in einer Minute zurück. Ich muss seine Mutter einholen.“
Der Hilfssheriff bedachte Lincoln mit einem wütenden Blick, nahm ihm aber Flynn wie befohlen ab und ging ins Gebäude zurück.
Lincoln rannte über die Straße zur Tiefgarage. Er sah Colleen nicht mehr, sie hatte zu viel Vorsprung. Da er nicht wusste, auf welcher Ebene sie geparkt hatte, sprang er die erste Treppe hinunter und lief durch die Reihen parkender Autos. Die Betonwände und -decken, die von kräftigen Strahlern erhellt wurden, schimmerten in geisterhafter Stille. Es war noch sehr früh, also standen nur wenige Autos auf den Plätzen. Er sah weder einen anderen Menschen, noch hörte er den Motor eines Wagens.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Er zog seine Waffe und konzentrierte alle seine Sinne. Er roch Blut. Frisches Blut.
Er machte drei Schritte auf den Geruch zu. Von rechts eilte eine Frau auf ihn zu, wie eine Wachtel, die von einem Vogelhund gejagt wird. Es gab kein Geräusch, keinen Warnruf, nur die schneller werdenden Schritte auf dem Beton. Ein Jäger. Sein Gehirn versuchte, die Szene zu verarbeiten: Das war nicht Colleen; die Frau hatte ein Messer; sie kam mit ausgesteckter Klinge auf ihn zu. Er hörte auf zu denken und ließ seine Instinkte übernehmen. Sein Finger drückte mit der Präzision von vielen Jahren auf dem Schießstand ab. Massenschwerpunkt, drei Schüsse.
Die Frau sackte stöhnend zu seinen Füßen zusammen. Das Messer fiel scheppernd auf den Boden. Er schüttelte den Kopf. Der Schuss hallte in seinen Ohren nach. Alle Geräusche klangen wie in einem Tunnel oder Unterwasser. Schmierige Stimmen, Rufe, hallende Echos.
Die Schüsse waren ein wenig tiefer eingedrungen als geplant. Das Adrenalin hatte dazu geführt, dass er die Spitze der Glock ein wenig zu weit nach unten gehalten hatte. Oder vielleicht hatte er sie gar nicht ganz hochgehoben? Das würde er sich auf dem Schießstand noch einmal anschauen müssen, aber Tatsache war, dass er noch nie zuvor seine Waffe im Dienst abgefeuert hatte. Das würde einen wahren Shitstorm hervorrufen, so viel war klar. Normalerweise töteten Officer keine Besucher im Parkhaus des Criminal Justice Center. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.
Die Frau hörte auf, zu stöhnen.
Er beförderte das Messer mit einem Tritt außer Reichweite und beugte sich vor, um nach ihrem Puls zu fühlen. Schwach, unregelmäßig. Ohne sofortige medizinische Versorgung würde sie sicher sterben.
Er schaute sich nach Colleen um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Und er hatte weder sein Funkgerät noch sein Handy dabei. Er war so schnell rausgerannt, dass er nichts mitgenommen hatte; beides lag noch schön ordentlich auf seinem Schreibtisch.
Zwei Reihen weiter stand ein alter Honda Civic ganz allein auf dem Platz direkt neben dem Fahrstuhl. Eine dunkle Ölspur führte von der hinteren Tür auf der Fahrerseite weg. Die Tür selber war nur angelehnt.
Colleen.
Rufe ertönten, schwere Schritte auf dem kalten, harten Betonboden, Menschen, die von den Schüssen alarmiert worden waren.
Er lief in einem Bogen zu dem Honda und hoffte, so aus einer Richtung zu kommen, die keine Beweise vernichtete. Colleen saß zusammengesackt auf dem Fahrersitz. Es war kein Öl; da war überall Blut. Dickflüssig und rot, arterielle Blutspritzer. Er hatte Angst, dass sie tot war, so tief war die Wunde in ihrem Hals. Doch dann sah er, dass sich ihre Brust ein winziges Stück hob und senkte. Er zog sie so nah an sich heran, wie er konnte, und nahm ihre Hand, die immer noch das Lenkrad umklammerte, als wenn sie dem Tod davonfahren könnte.
„Colleen?“, fragte er.
„Tommy, bist du das?“
Ihre Stimme war rau. Lincoln griff an ihr vorbei und nahm das Handy von der Klebematte auf dem Armaturenbrett. Er klappte es auf und rief am Empfang des CJC an. Machte es offiziell. Erzählte ihnen, dass ein Officer in eine Schießerei verwickelt worden war. Bat um Unterstützung, Sanitäter, alles, was sie herschicken konnten. Code drei.
Colleen sprach wieder.
„Tommy, du hättest nicht … hättest nicht kommen sollen. Flynn. Wir müssen uns um Flynn kommen.“
Lincoln zog seine Jacke aus und drückte sie zusammengerollt gegen ihre Halswunde.
„Pst, Colleen, nicht reden. Bleib einfach hier, bleib bei mir, okay?“
Sirenen heulten, er hörte sie wie durch einen Nebel. Es waren Menschen in der Nähe, doch er ignorierte sie, konzentrierte all seine Energie auf Colleen.
Colleen schüttelte den Kopf, den Blick starr auf Lincoln gerichtet. „Tommy. Ich bin so froh, dass du da bist. Du hast mir gefehlt. Du hast mich immer so glücklich gemacht. Bei dir habe ich mich sicher gefühlt.“
Sie lächelte. Ein seltsamer Glanz lag auf ihrem Gesicht.
„Colleen …“
Sie legte einen Finger auf seine Lippen.
„Nein, nein, Colleen, halt durch. Flynn ist auf der anderen Straßenseite, er wartet auf dich. Bitte, Colleen, tu mir das nicht an. Wage es ja nicht, zu sterben. Hilfe ist schon unterwegs.“
„Tommy, ich liebe dich.“
Ihre Augen schlossen sich sanft, und dann war sie fort. Er spürte es, den Moment, in dem ihr Körper leichter wurde, als ihre Seele floh. Er glaubte nicht, dass er je die genaue Form und den Geschmack des Augenblicks vergessen würde, wie die Stimmen näherkamen, wie Colleens Augen einen winzigen Spalt offen standen, als müsse ihre Seele den Weg aus dem Körper heraus sehen, wie das Blut in den dunklen Stoff seiner Jacke sickerte, der Geruch von staubigem Beton vermischt mit sterbendem Blut. Lincoln kämpfte gegen die Tränen an. Wehrte sich kurz, als jemand an seiner Schulter zog. Dann ließ er das Jackett fallen und trat zur Seite, um die Sanitäter ihre Arbeit machen zu lassen. Er wusste, dass es zu spät war. Es war für sie alle zu spät.