38. KAPITEL
Taylor spürte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben, und trat automatisch einen Schritt von den scharfen Ecken des Schreibtisches zurück, bevor sie sich auf den Teppich sinken ließ, das Foto immer noch in der Hand.
Einen Sohn. Baldwin hat einen Sohn.
Das hatte er also vor ihr verborgen. Das war das große Geheimnis. Das war das, was er ihr auf der Fahrt nach North Carolina im Auto beinahe gestanden hätte. Kein Wunder, dass er nicht in der Lage gewesen war, seine Gedanken klar zu artikulieren. Wie sagte man der Frau, die man liebte, dass man mit einer anderen ein Kind hatte? Wichtiger noch, wenn man seine Frau wirklich liebte, wieso würde man dann etwas von dieser Wichtigkeit vor ihr geheim halten wollen?
Warum hatte er es ihr nicht gesagt?
Taylor war nicht sicher, ob sie schon wieder aufstehen konnte. Sie spürte, wie die Wut in ihrem Magen hochkochte. Wie lange wusste er es schon? Von Anfang an? Oder hatte er es auch erst kürzlich erfahren? Seitdem er für die Anhörung nach Quantico gefahren und im Zuge dessen suspendiert worden war, benahm er sich seltsam. Hatte er dort davon erfahren? Oder waren die vergangenen zwei Jahre ihres Lebens eine Lüge gewesen?
Und wer die Mutter seines geheimnisvollen Kindes?
Ihre Intuition sowie das ungefähre Alter des Kindes weckten in ihr eine Vermutung. Charlotte Douglas. Ja, sie musste es sein. Das rote Haar war der entscheidende Hinweis. Außer Baldwin hatte es mit einer ganzen Schar Rothaariger getrieben und seinen Samen großzügig über D. C. verteilt, was eher unwahrscheinlich war.
Mein Gott. Er hatte mit Charlotte ein Kind gezeugt und es ihr nicht erzählt. Angenommen, das hier war ein aktuelles Foto und das Kind war wirklich erst zwei Jahre alt, dann musste es passiert sein, kurz nachdem Taylor ihn kennengelernt hatte.
Wer war dieser Mann, den sie heiraten wollte? Sie wusste, er hatte seine Geheimnisse, so wie alle Menschen. Sie mochte es, dass er ein wenig geheimnisvoll war, liebte seine düsteren, unaussprechlichen Seiten. Das gab ihr die Erlaubnis, einen Teil von sich selber verborgen zu halten. Sie hatte ihm nicht alles von ihrem Leben erzählt. Es war besser so. Er hatte so viel eingestanden – dass er in einer sehr geheimen Gruppe der CIA gearbeitet hatte, dass er früh ausgebildet worden war und dreizehn Sprachen sprach. Dass er eigentlich Medizinethiker hatte werden wollen, aber stattdessen von Garrett Woods zum Profiling gerufen worden war. Sie wusste, dass er stark war, zärtlich und in sie verliebt. An all dem hatte sie nicht den geringsten Zweifel.
Aber sie wusste nicht, dass Baldwin ein Lügner war. Oder ein Betrüger.
Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter. Die Gefühle, die sie empfand, überraschten sie. Im Moment hatte sie keine Zeit dafür, keine Energie, sich mit seiner Untreue zu beschäftigen. Sie musste Sam finden.
Sie stand auf und wunderte sich, dass ihre Beine sie trugen.
Sorgfältig klebte sie das Bild an seinen Platz zurück. Hierüber würden sie bald sprechen müssen, aber nicht jetzt. Jetzt hatte sie Wichtigeres zu erledigen.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass sie nur drei Minuten verloren hatte.
Sie fühlte sich leer, die Narbe des Wissens über ihrem Herzen brannte. Sie öffnete den Waffenschrank, entnahm die Waffen, die sie benötigte, steckte sie in ihre Tasche, schloss den Schrank ab und packte den Schlüssel wieder an seinen Platz. Währenddessen gingen ihr immer wieder zwei Wörter durch den Kopf. Finde Sam. Sie spürte, wie ihre Konzentration zurückkehrte.
Ihre Beschützer warteten geduldig an der Garage. Sie nickte ihnen zu, stieg in ihren 4Runner und fuhr los. Sobald sie das Ende der Straße erreicht hatte, klappte sie ihr Handy auf und rief Lincoln an. Er war immer noch mit Colleen Keck im CJC. Vorgeblich hielt er sie dort zwecks weiterer Befragungen fest, in Wahrheit sorgte er nur dafür, dass sie in Sicherheit war.
„Hast du was von Sam gehört?“, fragte sie.
„Nein, seit gestern nicht mehr. Sie hat den Autopsiebericht des Schechter-Jungen rübergeschickt. Hoher Blutalkohol, aber keine Zeichen von Drogen. Er ist ertrunken, wurde aber vorher sehr vorsichtig gewürgt. Es sind kaum Spuren zu sehen. Vielleicht sollte er nur ohnmächtig werden. In seinen Lungen befand sich Wasser, was bedeutet, dass er noch gelebt hat, als er in den See geworfen wurde. Warum fragst du?“
„Hör mir ganz genau zu. Du musst Colleen beschützen. Schick Marcus rüber zu Fitz. Ich bin auf dem Weg in die Rechtsmedizin. Sam geht nicht an ihr Telefon.“
„Du glaubst doch nicht …“
„Doch, das glaube ich. Ich denke, er hat sie. Er hat mir eine kryptische Nachricht geschickt, auf der ihre Wohnadresse stand.“
„Hast du heute Morgen schon die Nachrichten gesehen?“
„Nein, warum?“
„Colleens Blog ist der große Aufmacher. Zeitungen sowohl in Las Vegas als auch in Denver haben Briefe des Zodiac-Killers erhalten. An einem Tatort in New York ist ein Brief des Son of Sam gefunden worden. Die Polizei in Boston versucht, eine Panik zu verhindern. Ihre Zentrale ist total überlastet. Die Vorstellung, dass ein Nachahmer des Boston Strangler die Straßen unsicher macht, lässt die Stadt total durchdrehen. Die Geschichte ist also raus.“
Verdammter Mist.
„San Francisco, Vegas und Denver. Der Zodiac-Nachahmer bewegt sich in Richtung Osten.“
„Ja. Bislang haben alle Opfer regelmäßig auf Colleens Blog ihre Kommentare abgegeben.“
„Wurden irgendwelche anderen großen Morde gemeldet? Laut dem, was Colleen gesagt hat, sollen mindestens drei dieser Idioten da draußen herumlaufen. Gott weiß, wie viele es tatsächlich sind.“
Darüber mussten sie beide einen Moment lang nachdenken.
„Noch nicht, aber ich halte die Ohren offen.“
„Ich rufe jetzt in New York an. Emily Callahan sollte wissen, was hier los ist.“
„Ich suche nach ähnlichen Morden. Das sollte über ViCAP nicht allzu lange dauern.“
„Warte“, sagte Taylor. „Warte kurz.“
„Was?“
„Hast du eine Landkarte?“
Sie hörte ein Klicken. „Die Vereinigten Staaten – nur einen Mausklick entfernt.“
„Guck mal bitte nach, welche Route der Zodiac-Killer nimmt. Was könnte sein finales Ziel sein?“
„Angenommen, er ist weiter in östlicher Richtung unterwegs, dann ist er weniger als eine Tagesreise von Nashville entfernt.“
„Genau. Wenn die anderen Mörder das Gleiche tun, also auf ihrem Weg zuschlagen, wo könnten sie langfahren?“
„Südlich von Boston liegt D. C. Oder vielleicht Philadelphia? Mist. Das Gleiche gilt für New York.“
„Lincoln, du wirst den gesamten Ostküstenstreifen absuchen müssen. Halte dich an die Metropolen. Ruf die Mordkommissionen an und frag, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert ist, das zu den MOs passt. Trommel ein paar Leute zusammen, die dich unterstützen. Das wird eine Weile dauern. Und behalte Colleen im Auge. Sie ist ebenso ein Ziel wie ich, auch wenn ich keine Ahnung habe, wieso.“
„Wir wissen jetzt seinen echten Namen, oder? Hast du sie gefragt, ob sie ihn kennt?“
„Nein, habe ich nicht. Gott, was bin ich für eine Idiotin. Hol sie mal eben ans Telefon, ja?“
„Klar. Eine Sekunde.“ Sie hörte ein Rascheln, gefolgt von einem Klicken. „Okay, LT, du bist jetzt mit Colleen auf Lautsprecher.“
„Lieutenant, was ist los? Warum kann ich mit Flynn nicht endlich nach Hause gehen?“
„Ich denke, Sie schweben immer noch in Gefahr, Colleen. Bleiben Sie in der Nähe von Detective Ross und lassen Sie sich von ihm beschützen, okay?“
„Wie lang muss ich noch hier bleiben? Ich habe …“
„Colleen, bitte. Ich muss Sie etwas fragen. Kennen Sie jemanden mit dem Namen Ewan Copeland?“
Sie hörte Colleen scharf einatmen. Als sie sprach, war ihre Stimme flach, beinahe tonlos. „Warum fragen Sie mich nach ihm?“
Oh Gott.
„Colleen, woher kennen Sie ihn?“
„Ich kann nicht glauben, dass Sie mich hier die ganze Nacht einsperren und mir dann einfach so diesen Namen ins Gesicht schleudern. Sie sind eine fürchterliche, grausame Frau. Ich kann nicht fassen, dass Tommy wollte, dass ich Ihnen vertraue. Sie wissen genau, woher ich ihn kenne, sonst würden Sie nicht fragen. Kein Wunder, dass Sie nicht den Mut haben, mir die Frage von Angesicht zu Angesicht zu stellen.“
„Wow, das reicht jetzt, Colleen.“ Lincoln schaltete den Lautsprecher ab. „LT, was zum Teufel ist hier los?“
„Ich weiß es nicht, Lincoln. Ich habe keine Ahnung.“ Sie hörte Colleen im Hintergrund, wütend wie eine von der Tarantel gestochene Katze. „Fest steht, dass ich einen Nerv getroffen habe. Kannst du sie mir noch mal ans Telefon holen?“
„Keine Chance, LT. Sie packt gerade ihr Zeug zusammen.“
„Lincoln, was auch immer passiert, sie darf auf keinen Fall das Gebäude verlassen. Wenn nötig, nimm sie in Schutzhaft. Ich kümmere mich später um die Folgen.“
Sie war jetzt auf der Gass Street, nicht weit entfernt vom rechtsmedizinischen Institut. „Ich muss mich auf Sam konzentrieren. Guck mal, ob du Colleen so weit beruhigen kannst, dass sie dir sagt, woher sie Ewan Copeland kennt, okay?“
„Ich tue, was ich kann. Halt mich wegen Sam auf dem Laufenden.“
„Mach ich. Danke, Lincoln.“
Sie legte auf. Eine Million Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie hätte Colleen gestern Nacht nach Ewan fragen sollen. Sie war nur so verdammt müde gewesen und hatte die Puzzleteile nicht richtig zusammengesetzt. Ja, sie hatte geglaubt, dass Colleen irgendwie seinen Weg gekreuzt hatte, aber nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie ihn wirklich beim Namen kannte. Ihr erster Impuls war, Baldwin anzurufen, ihm zu erzählen, was gerade vorgefallen war. Aber sie brachte es nicht über sich, jetzt seine Stimme zu hören. Nicht nach dem, was sie vorhin erfahren hatte. Sie bemühte sich sehr, den Schmerz und Frust wegzudrücken. Im Moment musste sie sich auf Sam konzentrieren. Mit dem Rest ihrer zusammenstürzenden Welt würde sie sich später beschäftigen.
Erneut klappte sie ihr Handy auf und wählte die Nummer von Emily Callahans Büro. Die Verbindung wurde hergestellt, und Callahans Stimme schwebte durch den Äther.
„Taylor Jackson wie sie leibt und lebt. Ich glaube es ja nicht. Wie geht es dir? Bist du in New York?“
„Hey Emily. Nein, leider nicht. Ich bin in Nashville und bearbeite gerade einen Fall.“
„Ah, dann ist das also ein beruflicher Anruf. Was kann ich für dich tun?“
Das mochte sie so an Callahan – die Frau war zuallererst eine Kollegin und erst an zweiter Stelle eine Freundin. Bei ihr hatte Taylor immer das Gefühl, nicht auf der Hut sein zu müssen. Sie bot stets eine mitfühlende, intelligente Schulter, auf die Taylor sich stützen konnte. Callahan war befördert worden und arbeitete jetzt nicht mehr in Long Island City, sondern in der Mordkommission des 6. Reviers in Manhattan.
„Emily, du warst nicht zufällig für die Schießerei im Washington Square Park vor ein paar Tagen zuständig, oder?“
„Das homosexuelle Pärchen? Nein, das ist nicht mein Fall, aber ich kenne den Detective, der ihn leitet. Warum?“
Taylor nahm sich ein paar Minuten Zeit, um Callahan die Situation zu erklären. Anhand der Hintergrundgeräusche hörte sie, dass Callahan bereits die Akten durchging.
„In der Nähe des Tatorts sind mehrere Zigarettenstummel gesichert worden. Wenn die etwas mit dem Fall zu tun haben, können davon möglicherweise DNA-Spuren genommen werden. Es hat auch eine Nachricht gegeben, deren Existenz bisher aber geheim gehalten wird. Ein Nachahmer des Son of Sam will eine Massenpanik verursachen, und das können wir im Moment gar nicht gebrauchen.“
„Wem sagst du das. Ich versuche gerade herauszufinden, wohin er weitergefahren ist – vorausgesetzt, er hat New York verlassen. Es hat keinen weiteren Vorfall dieser Art gegeben, oder?“
„Nicht, dass ich wüsste. Die Männer, die getötet wurden, waren beide verheiratet und führten eine sehr geheime Beziehung. Wenn etwas Ähnliches auftaucht, lasse ich es dich sofort wissen. Du glaubst, es war eine einmalige Aktion, und er ist jetzt wieder auf dem Weg nach Nashville?“
„Das ist gut möglich. Mehr als Vermutungen haben wir aber leider im Moment nicht.“
„Ich sag dir was. Ich sorge dafür, dass die Ergebnisse des DNA-Tests direkt zum FBI geschickt werden. Ich nehme an, Baldwin arbeitet an dem Fall?“
„Ehrlich gesagt nein, aber sein Team. Du hast doch schon mal mit Pietra Dunmore zu tun gehabt, oder?“
„Ja, ich erinnere mich an sie. Gutes Mädchen. Ich schicke die Sachen sofort zu ihr.“
„Mein Gott, Emily, was kann ich tun, um dich aus New York wegzulocken?“
„Ein paar Hundert Wolkenkratzer bauen. Der ganze blaue Himmel da unten macht mich nervös.“
Sie lachten gemeinsam, dann versprach Callahan, die Sache weiter im Auge zu behalten.
Taylor legte auf und setzte den Blinker. Die Rechtsmedizin lag zu ihrer Linken. Es war an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.