43. KAPITEL

Ewan Copeland kratzte mit dem Fingernagel an dem geronnenen Blut auf dem Tisch.

So viel Zeit seines Lebens verbrachte er damit, zu warten. Darauf, dass seine Mutter ihm wehtat. Dass sein Vater nach Hause kam. Dass die Gittertür zu seiner Zelle sich öffnete. Dass die Schmerzmittel wirkten. Dass die Schwellung zurückging. Dass die verdammte Frau, die an den Stuhl gefesselt war, endlich aufwachte.

Er hatte alle Zeit der Welt, aber das hier wurde langsam lächerlich. Er wollte spielen. Ihm wurde immer langweilig, wenn er zu lange wartete. Geduld war eine Tugend, ja, aber in seinem Fall sollte er für seine Darstellung einen verdammten Oscar kriegen.

Er hatte inzwischen alle roten Flecken vom Tisch entfernt und rang mit sich. Gestern Abend hatte er einen exzellenten Thriller angefangen und war schon zur Hälfte durch. Er mochte Thriller. Sie liefen so schnell. Genau wie er.

Lesen? Oder sie aufwecken?

Entscheidungen, Entscheidungen.

Er stand auf, durchquerte den Raum und holte die Ammoniak-Kapsel aus seiner Tasche. Er hatte sie bei der Arbeit mitgehen lassen. Das perfekte Gegenmittel für in Ohnmacht fallende Verwandte und aufgelöste Ehepartner. Er knackte die Ampulle und wedelte damit vor dem Gesicht der Frau herum, bis sie anfing, zu stöhnen. Dann stellte er die Ampulle aufrecht auf den Tisch. Vielleicht würde er sie später noch mal gebrauchen.

„Hallo Samantha.“

Die Frau rührte sich. Ihr dunkles Haar strich über ihre perfekte elfenbeinfarbene Haut, als ihr Kopf nach vorne rollte. Noch war sie nicht ganz wach.

„Samantha … Samaaaaantha … aufwachen, aufwachen.“

Er tätschelte ihre Wange ganz sanft mit der offenen Hand. Ein kleiner Schubs nach links. Ihre Lider mit den weichen Wimpern flatterten, die braunen Augen schauten noch vollkommen unfokussiert. Sie blinzelte ein paar Mal.

Er tätschelte sie etwas härter auf die andere Wange. Dieses Mal nahm er den Handrücken und genoss die Röte, die sich auf der perfekten Pfirsichhaut abzeichnete. Ihre Augen flogen auf. Er sah, dass sie versuchte, die Situation einzuschätzen. Er, der Glorreiche, stand vor ihr, den Kopf geneigt wie ein neugieriger Welpe, ein Messer mit sechsundzwanzig Zentimeter langer Klinge in der Hand. Angst stieg in ihr auf. Eine angemessene, intelligente Reaktion. Natürlich hatte er nichts anderes erwartet, aber trotzdem. Angst war gut. Er mochte Angst. Er wollte den gleichen Blick aus verschiedenfarbig grauen Augen sehen, aber für den Augenblick musste er sich hiermit zufriedengeben.

Wie er den Anblick eines breiten, mobilen Mundes liebte, der durch einen Knebel außer Gefecht gesetzt war.

„Schön, dass du uns Gesellschaft leistest“, sagte er.

Sie schrie hinter dem Knebel auf, und er schüttelte den Kopf.

„Kein Geschrei. Das ist nicht fair. Ich schreie dich ja auch nicht an, oder? Beruhige dich, sei ein braves Mädchen, und dir wird nichts passieren.“

Er fuhr mit der Klingenspitze ihr Schlüsselbein entlang und sah, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sam Loughley war keine dumme Frau, sie wusste, was los war. Sie schniefte, ihr Mund spannte sich um den Knebel, dann schloss sie die Augen. Das taten sie immer. Es hatte eine Phase gegeben, in der er versucht hatte, ihnen die Lider im offenen Zustand festzukleben, aber das unnatürliche Starren hatte ihn nervös gemacht. Es war so viel weiblicher, so viel züchtiger, wenn die Wimpern auf den Wangen ruhten und die kleinen Tränenbäche lenkten, die sich über ihre Haut ergossen. Mit offenen Augen sahen sie irgendwie … seltsam aus. Wie Puppen. Er war kein Freund von Puppen.

„Sam, du kennst deine Rolle in diesem Spiel, oder?“

Sie öffnete die Augen, und er sah einen Hauch von Trotz darin.

Gut, sie würde für ihre Freundin kämpfen.

„Es sollte nicht allzu lange dauern. Du wirst inzwischen schon vermisst. Ich nicht. Ich plane das hier seit Wochen direkt unter euren Nasen. Aber Taylor wird nach dir suchen. Sie ist ein kluges Mädchen, sie sollte schnell draufkommen, wo wir sind. Ich vertraue ihr, genau wie du. Also machen wir zwei es uns hier ein wenig gemütlich, während wir warten. Klingt das nicht gut?“

Die Augen schlossen sich wieder.

Er wollte reden. Jetzt, wo sie wach war, jetzt, wo er eine Zuschauerin hatte … er fragte sich, wie es Ruth ging. Er bezweifelte, dass er sie je wiedersehen würde. Oder ihren unheimlichen Freund Harvey. In der Minute, in der sie Gefahr rochen, hauten sie vermutlich ab. Raus aus der Stadt, wie Ratten, die sich in die Dunkelheit flüchten. Der Junge, den er umgebracht hatte, sollte nicht gefunden werden. Nicht jetzt, nicht während das alles hier passierte. Und doch hatte er es geschafft, es zu vermasseln, und eine ungeschickte, zeitlich ungelegen kommende falsche Fährte gelegt, auf die niemand hereingefallen war. Idiot. Warum hatte er überhaupt gestattet, dass Ruth ihn mitbrachte? Das war ein Fehler, einer der wenigen, die er auf seinem Weg gemacht hatte. Er war vermutlich doch nicht perfekt.

Nein, er würde eine Zeit lang wieder alleine sein. Also wollte er die Gesellschaft genießen, so lange es ging.

„Samantha erzähl, wie war es, mit ihr zusammen aufzuwachsen? War sie damals schon so stark, wie sie es heute ist? Oder warst du die Stärkere von euch beiden? Immerhin bist du es, die den ganzen Tag mit Leichen arbeitet. Das gefällt dir, oder? Die Hände in sie hineinzustecken. Der Geruch der Eingeweide. Das Gewicht ihrer Hoden. All diese Löcher. Du wirst eins mit ihren Körpern. Du bringst deine Arbeit auch mit nach Hause, zu deiner Familie, deinen Kindern. Du teilst winzige Stückchen von jedem Menschen, den du berührst, mit denen, die dir am Herzen liegen. Kein Handschuh, kein noch so heftiges Schrubben kann das auslöschen, was sich in deinem Kopf festsetzt. Wenn du Simon fickst, denkst du dann an die Klingen, die durch Fleisch schneiden? Magst du das Gefühl, Sam? Das Ziehen, das Schneiden, das saftige Gewebe, das sich vor deinen Augen teilt?“

Das Messer schwebte jetzt über ihrem Unterleib. Er drückte die Spitze gegen ihren Pullover, noch ein Stückchen weiter, bis sie leicht gegen ihre Haut stieß. Er genoss, wie sie die Luft durch die Nase einsog, als der aufkommende Schmerz durch ihre Nervenzellen lief. Ein kleiner Bluttropfen bildete sich auf der Wunde, die eigentlich mehr ein kleiner Kratzer war, und glitt langsam über den Rand ihrer Hose zwischen ihre Beine. Er fuhr die Spur mit dem Finger nach und sammelte die roten Tropfen ein. Bewunderte ihren brillanten Glanz, ließ sich von ihnen verzaubern. Er musste sich zwingen, den Blick zu lösen. Das Blut wischte er am Tisch ab, Ersatz für die Flecken, die er vorhin entfernt hatte. Frisch sah es so viel besser aus. Wie nasse Farbe.

Er liebte diese Frau wirklich. Sie kämpfte nicht, sie bettelte nicht. Sie saß einfach nur stoisch da.

Hm. Er beschloss, auszuprobieren, wie tapfer sie wirklich war.