12. KAPITEL

Von: bostonboy@ncr.bb.com
An: troy14@ncr.tr.com
Betreff: Pittsburgh

Lieber Troy,
alles läuft nach Plan. Keine Sorge.
BB

Er schickte die E-Mail ab und fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis der Lieferwagen als gestohlen gemeldet würde. Eine Stunde? Fünfzehn Minuten? Trotz seiner Recherchen wusste er nicht, wie die Lieferzeiten erfasst wurden. Gab es ein Gerät zur Echtzeiterfassung? Oder gaben die Fahrer die Informationen nach der Auslieferung ein? Die Nummer zur Verfolgung des Pakets hatte ihn auf die Spur des Lieferwagens gebracht, den er kapern musste. Er hätte den Fahrer nach dem System fragen sollen, bevor er ihn ermordet hatte. Hm. Nächstes Mal.

Sollte er auf dem Weg zum Tatort ein paar Pakete ausliefern? Nein, er wollte nicht riskieren, gesehen zu werden. Wenn es Stammkunden auf der Route gab, würden sie vielleicht Fragen stellen oder sich bei Gelegenheit an ihn erinnern. Und Fremde zu töten, stand heute nicht auf seinem Plan.

Nein, heute hatte er das Vergnügen, Miss Frances Schwartz zu besuchen. Frances war eine Arbeitsbiene in einer Buchhaltungsfirma in Downtown. Eine modische Frau, die gerne shoppen ging, wenn sie sich nicht gut fühlte. Sie steckte bis über beide Ohren in Schulden, wovon ihre Kollegen allerdings keine Ahnung hatten. Sie fanden Frances einfach toll – stylish, selbstbewusst, jede Frau in ihrer Firma wollte sein wie sie.

Sie würde bald nach Hause kommen, also musste er sich beeilen, seinen Platz einzunehmen. Um die Ecke von ihrem Haus gab es einen verlassenen alten Parkplatz mit rissigem Asphalt und ohne Kameraüberwachung. Der perfekte Ort zum Warten.

Seine Energie überraschte ihn. Er hatte erwartet, von der neunstündigen Fahrt erschöpft zu sein. Beim Probelauf hatte er kaum seine Augen offenhalten können. Das musste noch an dem Adrenalin aus Boston liegen. Er musste zugeben, dass das hier wirklich Spaß machte. Der Rausch beim Töten. Die Vorstellung, dass es da draußen andere gab, gegen die er antrat. Anfangs hatte er seine Zweifel gehabt, ob er an dem Wettbewerb teilnehmen sollte. Und auch während das Teilnehmerfeld von vierzehn auf drei minimiert worden war, hatte er ein paar Mal daran gedacht, einen Rückzieher zu machen. Aber da er nun mal unter die letzten drei gekommen war, konnte er auch genauso gut mitspielen.

So hatte er wenigstens etwas zu tun. Und die Ziele wurden auch für ihn ausgesucht. In seiner Verantwortung lag es lediglich, sie auf die Weise des Mörders zu töten, den er gezogen hatte, nämlich des Boston Stranglers – der ohne Frage ein kranker Wichser gewesen war. Er hatte recherchiert und geplant, war die Szenarien im Geiste mehrmals genau durchgegangen. Das Ziel war, die Morde innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens zu erledigen und sich dabei nicht erwischen zu lassen. Gesehen zu werden führte zur sofortigen Disqualifikation. Sollte seine Beschreibung über den Äther gehen, war er raus. Na ja, und wenn er sich erwischen ließ … das musste wohl nicht extra erwähnt werden.

Einen UPS-Wagen zu klauen war keine leichte Aufgabe, aber er hatte es beide Male mit Bravour gemeistert. Sein Modus Operandi gefiel ihm. Einem Lieferwagen gönnte niemand einen zweiten Blick. Bevor er Boston verlassen hatte, hatte er die Pakete selber nach Pittsburgh, Cincinnati und Indianapolis verschickt. Die Sendungsnummer ermöglichte es ihm, die Lieferroute nachzuverfolgen. So sah er genau, wann welches Paket wo eintreffen würde. Leichter ging es nicht – das Paket wird in den Wagen geladen, der Wagen macht sich auf seine reguläre Route, wird dort abgefangen, der Fahrer wird erledigt, das Paket wird ausgeliefert. Und zwar mit einer schicken großen Schleife.

Er lachte über seinen eigenen Witz. Er wusste, wie ernst das Spiel war, aber andererseits war es genau das: ein Spiel. Wenn er nicht gewann, würde das Leben trotzdem weitergehen. Geld hatte er genügend, das war nicht der Grund, warum er mitmachte. Er hatte zu viele Jahre allein verbracht, ohne zu wissen, wie viele Leute es da draußen gab, die so tickten wie er. Gott sei gedankt fürs Internet. Dort tummelten sie sich in allen möglichen Formen und Größen und mit den verschiedensten Vorlieben. Als ihm die Anzeige das erste Mal aufgefallen war, hatte er sie gelöscht. Doch einmal in seinen Kopf gepflanzt, ließ ihn die Idee nicht mehr los. Er langweilte sich und suchte nach einer Herausforderung. Der Wettbewerb gab ihm die Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Er lebte wirklich zu isoliert vom Rest der Welt.

Ein Blick auf die Uhr. Frances sollte jede Minute nach Hause kommen. Sie kam immer um genau 17:35 Uhr an. Dann zog sie ihre schicke, hautenge Sporthose an, trank einen Proteinshake, aß eine Banane und verließ das Haus wieder, um entweder eine Runde laufen zu gehen oder Rad zu fahren. Frances war im Training. Biathlon. Sie war stark. Trainiert. Nicht sein üblicher Typ. Vielleicht würde sie sich wehren. Der Gedanken erregte ihn.

Er nahm den Handscanner aus seiner Halterung und schnappte sich das sperrige Paket. Es war an der Zeit. Zeit für Frances, auf Wiedersehen zu sagen.