44. KAPITEL
Taylor rannte zum Empfang der Rechtsmedizin zurück, wo Kris auf sie wartete.
„Nichts. Sie ist nicht da unten. Hast du ihren Kalender aufgerufen?“
„Ja. Und ich habe ihre Ärztin angerufen. Sie ist nicht aufgetaucht. Hier, schau es dir an.“ Kris stand auf und überließ Taylor den Stuhl. Über ihre Schulter hinweg zeigte sie auf den Monitor.
„Es war ein ganz normaler Tag. Am späten Nachmittag sind drei neue Fälle eingeliefert worden. Sie wollte sie über Nacht obduzieren. Die Mitarbeiterbesprechung mit dem Team der Nachtschicht fing um zehn Uhr abends an. Da hatte sie gerade festgestellt, dass ihr Auto kaputt war. Sie wollte vor der Besprechung noch schnell was zu essen holen, und der Wagen sprang nicht an, also bat sie einen der Mitarbeiter, ihr schnell etwas zu holen. Es war eine ganz normale Zwölfstundenschicht.“
„War Stuart gestern Nacht hier?“
Stuart Charisse war Sams Lieblingsassistent, ein ruhiger, kluger Mann, der Sam treu ergeben war.
„Ja, war er. Ich glaube, er ist um zwei Uhr gegangen.“
„Ruf ihn an.“
Kris verlor keine Zeit. Sie trat zwei Schritte zur Seite und nahm ihr Handy heraus. Offensichtlich hatte sie die Telefonnummern aller Mitarbeiter eingespeichert, denn sie drückte nur auf eine Taste und stellte das Telefon auf Lautsprecher. Eine schläfrige Stimme meldete sich. „Ja?“
„Stuart, ich bin’s, Kris. Lieutenant Jackson ist bei mir. Wir suchen Sam. Hast du sie gesehen?“
Er gähnte laut. „Nein. Nicht, seitdem ich gegangen bin. Sie und Iles wollten noch was essen gehen. Sie hat gestern kein Abendbrot gehabt.“
„Barclay?“, fragte Kris. „Er war gestern Abend hier?“
„Ja. Es ging irgendwie um sein Beurteilungsgespräch. Sie beschlossen, es drüben im Subway zu führen, glaube ich.“
„Danke Stuart“, sagte Taylor und beendete das Telefonat. Kris war ganz blass geworden.
„Kris, was ist los?“
„Barclay ist diese Woche nicht in Nashville. Ich habe gerade mit ihm telefoniert, als Sie reinkamen. Er ist in Florida. Seine Mom ist krank, er wollte ihr helfen. Er fährt öfter zu ihr.“
Barclay fucking Iles.
„Kris, wie lange bist du schon mit Barclay zusammen?“
Kris wrang ihre Hände, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie runzelte so heftig die Stirn, dass ihre Augenbrauen sich in der Mitte trafen. „Beinahe ein Jahr. Er ist ein toller Kerl. Sie kennen ihn, Lieutenant. Ich habe ihn Sam vorgeschlagen – er machte den Eindruck, als wäre er ein guter Tatortermittler. Er hat eine Weile Medizin studiert und ist echt klug. Die anderen Kollegen mögen ihn auch. Er liebt Sam. Und Sie liebt er auch – er spricht andauernd von Ihnen. Sie sind seine Heldin. Er will genauso sein wie Sie. Einmal war ich ehrlich gesagt sogar ein wenig eifersüchtig, aber das war dumm. Ich war einfach nur unsicher. Aber warum sollte er mich anlügen? Was ist hier los?“
Ja, das war die Frage: Was war hier los? Taylor ging in Gedanken ihre Erinnerungen an Iles durch. Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit das erste Mal mit ihm zusammengearbeitet, aber ihn schon seit Monaten in der Abteilung und an den Tatorten gesehen. Zugang. Er hatte zu Zugang zu allem – Personalakten, Terminpläne, Privatadressen.
Scheißkerl.
„Kris hör mir gut zu. Ich glaube, dass Barclay jemand anderes ist. Jemand sehr, sehr Gefährliches. Du musst mir alles über ihn erzählen, was du weißt. Seine Telefonnummer, seine Adresse. Ich brauche jedes Foto, das du von ihm hast. Alles, was dir einfällt, was ihm gehört. Und zwar sofort.“