52. KAPITEL

Taylor war kein Fan von betreuten Wohneinrichtungen. Das hatte rein psychologische Gründe – ihr Großvater war an Alzheimer erkrankt, bevor die Krankheit in aller Munde war. Damals nannte man es einfach Demenz, und die Altersheime waren düster und still, abgesehen von dem Stöhnen und dem Gemurmel der Insassen. Sie erinnerte sich noch, dass es dort immer irgendwie komisch gerochen hatte. Als ihr Großvater starb, war sie zwar noch sehr jung gewesen, aber den Gestank des Heims, in dem er gelebt hatte, würde sie nie vergessen. Es hatte nach Vernachlässigung, Traurigkeit und Fäulnis vermischt mit Urin und dem süßen, hefigen Geruch des bevorstehenden Todes gerochen. Daran erinnerte sie sich noch.

Als sie jetzt also durch die Tür des Guardian-Wohnheims trat, war sie überrascht, Rosen zu riechen. Das Haus war hell und freundlich. Sauber. Überall lächelnde Gesichter. Das komplette Gegenteil dessen, was sie erwartet hatte.

Sie ging zum Empfangstresen, stellte sich kurz vor und erklärte ihr Anliegen. Eine Frau in rosafarbener Schwesterntracht, die mit weißen und violetten Herzen bedruckt war, grinste von einem Ohr zum anderen, als Taylor den Namen Joshua Fortnight erwähnte. Er bekam nicht viel Besuch.

Das Heim hatte einen kleinen Innengarten, eine Art Gewächshaus, wo sie Rosen und Orchideen züchteten und auch ein paar Iris und Hortensien, was, wie die Schwester erklärte, die Patienten glücklich machte und ihnen etwas zu tun gab. Vor allem in den kalten Wintermonaten, wenn sie nicht nach draußen konnten und ihre Ausflüge daraus bestanden, in den Shoppingcenter zu gehen anstatt in den Zoo.

Wie sich herausstellte, hatte Joshua ein besonderes Händchen für Blumen, vor allem für die sehr empfindlichen Orchideen. Zwei Mal am Tag spielte er ihnen etwas auf seiner Flöte vor, obwohl er durch sein Treacher Collins immer tauber wurde und die Töne ein wenig schief klangen.

„Bitte regen Sie ihn nicht auf“, bat die Schwester. „Es geht ihm bei uns so gut.“

Ihn aufregen. Ja, in ein paar Stunden wäre die Schwester ernsthaft verärgert, wenn sie herausfand, dass Taylor den armen Joshua noch einmal den schlimmsten Tag seines Lebens hatte durchleben lassen. Doch sie hatte keine Zeit, es vorsichtig anzugehen.

Die Schwester brauchte zehn Minuten, um ihn zu finden. Er schlurfte an ihrem Arm über den Flur, das zerstörte Gesicht zur Seite gewandt. Sie nahm ihn mit ins Gewächshaus und bat Taylor, ihr zu folgen. Sobald Joshua saß, lächelte sie, berührte ihn beruhigend an der Schulter und ging.

Er hatte Taylor den Rücken zugewandt und drehte sich auch nicht um. Als er sprach, waren die Worte sehr leise und etwas undeutlich, zischend.

„Ich erinnere mich an dich“, sagte er. Seine bleichen Hände umfassten den Topf einer zarten weißen Orchidee. Mit dem Zeigefinger prüfte er die Erde. Sie schien feucht genug zu sein, denn er nickte stumm vor sich hin.

„Ich heiße Taylor“, sagte sie.

„Du hast eine Waffe. Ich kann das Metall riechen.“

„Ich bin Polizistin, Joshua.“

„Ich weiß. Du hast meinen Vater getötet.“

Sie zuckte zusammen. Sich denen, die zurückgeblieben waren, persönlich zu stellen, war nie leicht. Sich im gleichen Raum mit dem Kind eines abscheulichen Serienmörders zu befinden, der sie verspottet und benutzt und schließlich gezwungen hatte, sein Leben zu nehmen, war vermutlich das Schwerste, was sie seit Jahren getan hatte.

„Joshua …“

„Nicht. Er war ein böser Mann.“

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Eric Fortnight war ein kranker, verdrehter Mistkerl, den nur seine rheumatische Arthritis und die damit einhergehende Verkrüppelung seiner Hände gezwungen hatten, das Morden aufzugeben. Sein Körper hatte einfach nicht mehr mitgespielt. Als er es nicht länger ertrug, als der Drang, zu töten, zu groß wurde, hatte er seine soziopathische Tochter losgeschickt, um ihm einen Helfer zu suchen. Einen Mörder, der für ihn mordete. Einen Lehrling.

Charlotte hatte sich für Ewan Copeland entschieden.

„Bist du hier glücklich, Joshua?“

„Ich vermisse meine Vögel.“ Er drehte sich zu ihr um, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht scharf einzuatmen. Sein Gesicht, sein armes Gesicht, sah aus wie eine geschmolzene Kerze. Seine Augen waren da, wo seine Wangen sein sollten, eines auf jeder Seite, nach außen und unten gerichtet, ähnlich wie bei den Vögeln, die er so sehr liebte. Seine Nase war eine Nadelspitze mit zwei Löchern, sein Kinn existierte praktisch nicht. Seltsamerweise waren seine Lippen normal; ein wenig breit, aber voll und gesund und hellrot. Seine Zunge, die von der Krankheit angeschwollen war, war hinter ihnen zu sehen. Als hätte er in einen blutigen Apfel gebissen.

Der Anblick seiner Gesichtszüge war fürchterlich verstörend, aber Taylor wusste, dass er komplett blind war und das Grauen in ihrem Gesicht nicht sehen konnte. Sie schloss die Augen und bemühte sich, es auch aus ihrer Stimme herauszuhalten. Dieser Mann hatte in seinem Leben schon zu viele Angstseufzer mit anhören müssen.

„Du hattest zu Hause Vögel?“

„Ja, einen Garten. Wie diesen hier. Nur größer. Und draußen. Ich vermisse ihn.“

„Joshua, können wir uns setzen?“

Er nickte, und sie folgte ihm zu einer kleinen Steinbank unter einem Regal voller violetter Orchideen. Sie setzten sich. Joshua griff unter die Bank und holte einen braunen Kasten hervor. Taylor erkannte ihn wieder – seine Flöte.

„Die Blumen mögen Musik. Ich spiele zwei Mal am Tag für sie.“

„Ja, das gefällt ihnen bestimmt.“ Taylor legte eine Hand auf seine, um ihn daran zu hindern, den Flötenkoffer zu öffnen. „Joshua, ich habe eine sehr gute Freundin, die in Gefahr schwebt. Erinnerst du dich an den Mann, den du letztes Jahr angeschossen hast?“

„Troy. Ich hasse ihn.“

„Sein wirklicher Name ist Ewan. Und er hat meine Freundin entführt.“

„Er ist zurückgekommen, um sich zu rächen. Vater hat immer gesagt, dass er das tun würde. Er hat meine Schwester umgebracht. Er hat Charlotte getötet.“

Taylor zwang sich, zu schlucken.

„Ja, das hat er getan. Und jetzt fürchte ich, dass er meiner Freundin das Gleiche antun will. Ich glaube, er hat sie zu eurem alten Haus gebracht. Wirst du mir helfen, Joshua? Sagst du mir, wie man hineinkommt? Hilfst du mir, sie zu retten?“

„Es gehört mir nicht mehr. Die Bank hat es sich genommen. Sie können es nicht verkaufen, weil niemand in dem Haus eines Serienmörders wohnen will. An der Hintertür hängt ein großes Schloss.“

„Ich weiß. Aber machen wir einen Deal. Ich weiß, dass du Jane Macias aus dem Haus deines Vaters gelassen hast. Sie hat mir erzählt, es gäbe einen Tunnel, einen verborgenen Eingang, und sie hat ihn mir beschrieben. Ich wusste nicht, ob sie sich das nur eingebildet hat oder ob der Tunnel tatsächlich existiert.

Du hast ihr geholfen, Joshua, weil du wusstest, dass das, was dein Vater und Troy getan haben, falsch war. Und jetzt ist es an mir, Troy davon abzuhalten, noch jemandem wehzutun. Wenn ich es schaffe, mich ins Haus zu schleichen, ohne dass Troy es mitbekommt, kann ich mich um ihn kümmern, sodass er keinen von uns jemals wieder belästigen wird. Wenn du mir sagst, wie ich in das Haus hineinkomme, gehe ich als Dank mit dir in den Park, damit du die Vögel hören kannst. Würde dir das gefallen?“

Er schwieg, und sie spürte, wie er mit sich rang.

Schließlich seufzte er – ein tiefes, schweres Geräusch. „Es gibt einen Weg ins Haus hinein. Von hinten. Aus meinem Garten. Von dort kannst du hineingehen. Ich erkläre dir den Grundriss des Hauses, aber er wird sie auf dem Dachboden festhalten. Der hat ihm immer gefallen. Du kannst dorthin gelangen, ohne dass er etwas davon mitbekommt.“

Erleichterung erfasste Taylor. Sie hatte auf einen Schlüssel gehofft und ein Königreich erhalten.

Baldwin stand neben der langsam kalt werdenden Leiche von Ruth Anderson. Lincolns Schuss war wie aus dem Bilderbuch. Drei klare Treffer in die Brust. Ruth lag mit dem Rücken auf dem Zementboden, ein Bein verdreht unter sich, das andere gerade ausgestreckt. Er kam nicht umhin, eine gewisse Befriedigung zu empfinden, sie dort so liegen zu sehen. Als er ihr das letzte Mal in die Augen geschaut hatte, hatte sie mit einer Pistole auf ihn gezielt und sich als Renee Sansom vom SBI ausgegeben. Ja, sie hatte dieses Ende verdient.

Normalerweise schmerzte ihn jedes Leben, das genommen wurde. In diesem Fall war er jedoch froh. Er wäre gerne in ihr Gehirn eingetaucht, hätte gerne die nächsten Jahre über sowohl Ruth als auch ihren Halbbruder Ewan eingehend studiert, aber ihr Tod war ein passendes Ende für ihr trauriges, erbärmliches, psychopathisches Leben.

Er fragte sich, ob Ewan wusste, dass Ruth tot war und Colleen gleich mit. Er hatte sie ausgeschickt, um Colleen Keck zu töten, und er hatte gewusst, dass Colleen sich im CJC befand. Baldwin nahm an, dass Ewan alles bis ins kleinste Detail geplant hatte. Er wusste, wenn er Ruth in die Höhle des Löwen schickte, würde sie entweder getötet oder festgenommen werden. Er hatte auf Ersteres gesetzt, weil er wusste, dass seine kleine Schwester Ruth mental nicht die Stabilste war. Es war ein Spiel, aber wenn alles gut lief, war er die Last namens Ruth los und konnte ohne irgendwelche lästigen Bindungen sein Leben weiterleben.

In North Carolina war Ruth von zwei Männern begleitet worden. Einer davon war tot, der andere wurde noch gesucht. Könnte er der Nachahmer des Boston Strangler gewesen sein? Zu diesem Zeitpunkt war alles möglich. Baldwin erwähnte es, als sich Joan Huston zu ihm gesellte.

„Was sollen wir mit der Leiche machen, Dr. Baldwin?“

„Lassen Sie sie in die Rechtsmedizin bringen, Commander. Ich nehme an, es gibt noch nichts Neues von Dr. Loughley?“

Huston winkte den Kriminaltechnikern zu, die geduldig etwa abseits gewartet hatten, während Baldwin die Leiche untersuchte. Sie machten sich sofort an die Arbeit, packten ihre Beweismittelkoffer aus, schossen Fotos.

Huston zog Baldwin zur Seite.

„Dr. Loughley? Stimmt mit ihr etwas nicht?“

Oh Taylor. Was hast du wieder vor?

Baldwin musste jetzt vorsichtig sein. Das Letzte, was er wollte, war, Taylor in Schwierigkeiten zu bringen, aber er hatte das schlimme Gefühl, dass sie auf direktem Weg in den größten Schlamassel aller Zeiten war. Er wog seine Worte sorgfältig ab.

„Haben Sie heute früh schon mit Lieutenant Jackson gesprochen, Ma’am?“

„Nur kurz. Direkt nach dem Schusswechsel vor dem rechtsmedizinischen Institut. Ich habe ihr gesagt, sie solle vor Ort bleiben und den Tatort sichern. Nach dem Vorfall letzte Woche ist sie immer noch beurlaubt und soll nicht aktiv an Fällen mitarbeiten. Und jetzt erzählen Sie mir bitte, was mit Dr. Loughley los ist.“

„Es sieht so aus, als wird sie vermisst, Ma’am. Ich glaube, Ewan Copeland ist dafür verantwortlich. Genau wie er dafür verantwortlich war, seine Schwester Ruth hierherzuschicken, um Colleen Keck zu ermorden.“

Jetzt war Huston hellwach. „Warum zum Teufel sind wir dann nicht informiert worden? Sie ist die Leiterin der Rechtsmedizin, nicht irgendeine Person von der Straße.“

„Lieutenant Jackson hat Sie nicht informiert, Ma’am?“

„Nein, verdammt noch mal. Weiß ihr Team davon?“

Vorsichtig, Baldwin. „Ich weiß nicht, inwieweit ihre Mitarbeiter in die Situation eingeweiht sind.“

Wut stand Commander Huston gut. Baldwin wusste, dass Taylor ihr vertraute. Trotz ihrer formellen Beziehung hatte Taylor immer das Gefühl gehabt, sich auf Hustons Fairness verlassen zu können. Baldwin beschloss, zu pokern. Taylors Sicherheit und Sam zu finden waren jetzt am Wichtigsten. Um ihre Karriere konnte sie sich danach kümmern.

„Commander, ich glaube, dass Sam Loughley von Ewan Copeland entführt wurde und Lieutenant Jackson sich auf die Suche nach beiden gemacht hat. Für sie ist die Sache inzwischen persönlich, Ma’am.“

„Verdammt. Es war schon immer persönlich. Dieser Mann hat versucht, jeden Aspekt ihres Lebens zu ruinieren. Er hat ihren Freunden wehgetan … Mein Gott, sehen Sie sich Sergeant Fitzgerald an – er liegt im Krankenhaus und erholt sich davon, dass man ihm ein Auge herausgerissen hat.“

Sie fing an zu gehen, und er folgte ihren zügigen, entschlossenen Schritten. „Ich weiß nicht, warum sie nicht zu mir gekommen ist. Sie weiß, dass ich alles tue, um zu helfen. Sie ist zu wertvoll, um sie zu verlieren.“ Sie blieb stehen und packte Baldwin am Arm. Die Stärke ihres Griffs erstaunte ihn.

„Ich vertraue darauf, dass Sie Lieutenant Jackson aufhalten, bevor sie etwas Dummes tut. Habe ich Ihr Wort darauf, Dr. Baldwin?“

„Ja, Ma’am. Das haben Sie.“

„Dann nehmen Sie sich Wade und wen auch immer sie noch brauchen, und finden Sie sie. Finden Sie beide. Sofort.“